Sicherheit und die Vierte Internationale

Die Rolle Sylvia Ageloffs beim Mord an Leo Trotzki

Teil 4

Dies ist der vierte und letzte Teil der Serie. Teil 1 wurde am 9. Februar, Teil 2 am 28. Februar und Teil 3 am 7. März 2021 veröffentlicht.

Am 20. August 1940 wurde Leo Trotzki in Coyoacán, einem Vorort von Mexiko-Stadt, von dem stalinistischen Agenten Ramón Mercader ermordet. Den Zugang zu dem großen Revolutionär hatte sich Mercader über seine Beziehung zu Sylvia Ageloff verschafft, die Mitglied der Socialist Workers Party (SWP) war. Nach dem Attentat stellte sich Sylvia Ageloff als unschuldiges Opfer von Mercaders Doppelzüngigkeit dar – eine Behauptung, die von der SWP nie in Frage gestellt wurde.

In dieser Artikelserie wird die Rolle Ageloffs erstmals von der trotzkistischen Bewegung im Einzelnen beleuchtet. Sie ist eine Fortsetzung der Untersuchung „Sicherheit und die Vierte Internationale“, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale durchgeführt hat.

Die Ermittlungen in Mexiko

Mit den ersten Vernehmungen von Ageloff und Jacson-Mornard nahmen die mexikanischen Behörden ihre Ermittlungen auf.

Das Attentat auf Trotzki gilt in Mexiko bis heute als der wichtigste Mordfall in der neuzeitlichen Geschichte des Landes. Die mexikanische Polizei führte die einzige ernsthafte Untersuchung des Attentats durch. Dabei befasste sie sich auch mit der Rolle Ageloffs. Deren eigennützige Alibis, hysterischen Anfälle und Unschuldsbeteuerungen hielten die mexikanischen Ermittler nicht davon ab, Ageloffs Verhalten auf der Grundlage der Fakten kritisch zu hinterfragen.

Die Regierung unter Lázaro Cárdenas und die Polizei von Mexiko-Stadt betrachteten die Untersuchung als eine juristische Angelegenheit von höchster Wichtigkeit. Die Ermordung eines prominenten Flüchtlings durch ausländische Agenten – noch dazu eines Flüchtlings wie Trotzki, der in der Arbeiterklasse so viel Ansehen genoss – war eine Verletzung der nationalen Souveränität Mexikos. Die Regierung beauftragte ihre besten polizeilichen Ermittler und Staatsanwälte mit der Bearbeitung des Falls. Die Ermittlungen waren objektiv und professionell. Die Beamten führten Dutzende von Verhören und setzten moderne Methoden ein, die bis heute von mexikanischen Kriminologen gelehrt werden. Die Leiter der Ermittlungen, darunter der berühmte mexikanische Kriminologe Alfonso Quiroz Cuarón, widmeten sich der Untersuchung des Attentats und der Beteiligten mit einer Sorgfalt, die die SWP vermissen ließ. [161]

Der mexikanische Kriminologe Alfonso Quiroz Cuarón (Foto: David North) [Photo by David North]

Als Erstes vernahmen die mexikanischen Ermittler Ageloff und Jacson-Mornard. Im Laufe ihrer Vorermittlungen sammelten die Staatsanwälte starke Indizien, die nach ihrer Einschätzung Ageloffs Unschuldsbehauptung widerlegten.

Die Vorermittlungen der mexikanischen Behörden

Als Ageloff begann, auf Fragen zu antworten, bot sich der Polizei und der Staatsanwaltschaft eine Gelegenheit, ihr Verhalten zu beobachten und ihre Erklärungen mit den Aussagen Jacson-Mornards und anderer Zeugen zu vergleichen. Aufgrund der Informationen, die sie über Ageloffs Hintergrund und ihr Verhalten gesammelt hatten, hielten sie ihre Behauptung, hintergangen worden zu sein, nicht für glaubwürdig.

Anfängliche Indizien, die diese Feststellung stützten, waren:

  • Nach Ansicht der mexikanischen Behörden zog Ageloff durch die Verabredung zum Abendessen mit den Schüsslers einen schweren Verdacht auf sich. Ihrer Einschätzung nach verabredeten sich Ageloff und Jacson-Mornard mit den Schüsslers, um Schüssler von Trotzkis Grundstück fernzuhalten und so das Attentat zu erleichtern.
  • Ageloff gab zu, dass sie Familie in Russland hatte. Damit stellte sich die Frage, ob die GPU Druck auf sie ausüben konnte, indem sie Gewalt gegen Familienangehörige in Russland androhte.
  • Ageloff gab zu, dass sie bei einer Gelegenheit bemerkt hatte, dass, „wenn [Mercader] an seinen Boss schrieb, dann verschlüsselt“. Sie sagte, sie habe ihn nach dem Code gefragt, „und dann hat er eine Reihe von Code-Zeichen auf ein Stück Papier gemacht und es sofort zerrissen“. [162] Nach Ansicht der Ermittler deutete der Umstand, dass sie diese Beobachtung nicht an Trotzki weitergab, auf eine Beteiligung an der kriminellen Verschwörung hin.
  • Des Weiteren wurde festgestellt: „Sylvia bestätigte, dass Jackson ihr nie erlaubte, seine Korrespondenz einzusehen, die er unter Verschluss hielt. Auch als er von New York nach Mexiko kam, trennte sich Jackson nie von einer Aktentasche, die er in den Händen hielt.“ [163] Ageloffs Versäumnis, diese Details an Trotzki zu melden, deutete ebenfalls darauf hin, dass sie in das Komplott verwickelt war, aber nun versuchte, eine Hintergrundgeschichte zu erfinden, um sich als unschuldig darzustellen.
  • Für die Ermittlungsbehörden war die Tatsache, dass Jacson-Mornard Ageloffs Unschuld beteuerte, ein weiterer Indizienbeweis für die Zusammenarbeit der beiden. Während eines Verhörs sagte Jacson-Mornard zu dem Richter: „Nachdem ich die Entscheidungsgründe des Beschlusses mehrfach gelesen habe, stelle ich fest, dass alles, was über Sylvia darinsteht, mich nicht überzeugt und dass ich, wenn ich der Richter gewesen wäre, sie freigelassen hätte.“ [164]
  • Staatsanwalt Francisco Cabeza de Vaca sagte, Jacson-Mornards Geschichte – dass er und Ageloff verliebt waren und dass der Attentäter Trotzki tötete, weil er sich in ihre Beziehung einmischte – sei „völlig absurd, was Sie bis jetzt erklärt haben, ist inakzeptabel, es würde weder einem vernünftigen Menschen noch einem Kind in den Sinn kommen; wir können es nicht akzeptieren und werden es auch nicht akzeptieren“. [165] Cabeza de Vaca sagte zu Jacson-Mornard, er müsse „erkennen, dass dieses Argument vollkommen verachtenswert ist, dass es inakzeptabel ist, dass der gesunde Menschenverstand es ablehnt, und dass ich Ihnen zum letzten Mal die Gelegenheit gebe, die Wahrheit zu sagen“. [166]

Ageloffs Jobs und Zugang zu Geld

Polizei und Staatsanwaltschaft erfuhren bei ihren Ermittlungen auch, dass Jacson-Mornard Ageloff mit einer Reihe von Jobs in Paris versorgt und ihr im Laufe ihrer angeblichen Beziehung Tausende von Dollars gegeben hatte. Die mexikanischen Ermittler stellten fest, dass Ageloff bei ihrer Stelle als Kinderpsychologin in New York nur 103 Dollar monatlich verdiente, und, wie Barrón Cruz bemerkte, „natürlich fragten die Behörden sie, woher sie die Mittel hatte, um immer wieder Reisen [nach Europa und Mexiko] zu unternehmen“. [167]

Laut Barrón Cruz hielt Cabeza de Vaca es für höchst belastend, dass „Sylvia erwähnte, dass Jackson ihr in New York 3.000 Dollar gegeben hatte und dass sie das Geld in einer Bank am Broadway einzahlten, an deren Namen sie sich nicht erinnern konnte; in dieser Hinsicht korrigiert Jackson sie und sagt, dass es eigentlich 3.500 Dollar waren“. [168] Inflationsbereinigt entsprechen 3.000 Dollar im Jahr 1940 etwa 55.000 Dollar heute. Die mexikanische Polizei war der Ansicht, dass es sich um Spesen für Ageloffs Spionagetätigkeit handelte, die sie verwendete, um Jacson-Mornard in Mexiko zu besuchen.

Die Ermittlungen des FBI

Die mexikanischen Ermittler waren nicht die Einzigen, die Schlussfolgerungen über Ageloffs Schuld in Bezug auf den Mord an Trotzki zogen. Das FBI führte eine eigene Untersuchung durch und gelangte zu den gleichen Ergebnissen wie die Mexikaner.

Insbesondere betrachtete das FBI die Überweisung von 3.000 Dollar als höchst beweiskräftiges Indiz dafür, dass sie GPU-Agentin war.

FBI-Bericht vom 5. September 1940: „Re: Murder of Trotsky in Mexico“ [Photo: FBI]

In einem FBI-Bericht vom 5. September 1940 übermittelte der Agent J. B. Little die Ansichten des Agenten Raymond E. Murphy, der erläuterte, dass in anderen sowjetischen Spionagefällen GPU-Mitverschwörer ihre Partner drängten, „3.000 Dollar für sie zu hinterlegen“. „Mr. Murphy wies darauf hin, dass die Hinterlegung von 3.000 Dollar seitens dieser Personen in Verbindung mit der Tätigkeit russischer Agenten eine einheitliche Vorgehensweise zu sein scheint, und er machte das FBI darauf aufmerksam, damit es diesen Umstand berücksichtigt.“ [169] Ageloff behauptete, die 3.000 Dollar seien „ihm [Jacson-Mornard] von seiner Mutter bei ihrem Tod hinterlassen worden“. [170]

Monte und Sylvia Ageloff nach Sylvias Verhaftung [Photo: El País]

In den FBI-Ermittlungsakten werden sowohl „Mornard“ als auch „Ageloff“ als Komplizen des Verbrechens aufgeführt. Am 29. August 1940 berichtete das FBI über die Ergebnisse ihrer dritten Vernehmung. Der Bericht zeigt, dass das FBI Druck auf Sylvia Ageloff und ihre Familie ausübte, um sie dazu zu drängen, reinen Tisch zu machen und die Wahrheit zu sagen, die sie nach Ansicht der Geheimdienstler verheimlichte. Das FBI wollte erfahren, was Ageloff über die interne Funktionsweise der GPU wusste. Weiter heißt es in dem Bericht:

Es wurde ein Gespräch mit Monte Ageloff, dem Bruder von Sylvia Ageloff, geführt. Dabei wurde ihm verdeutlicht, dass seine Schwester wirklich in Schwierigkeiten steckt und dass die mexikanischen Behörden glauben, dass sie den Mörder Jacson deckt. Sie würden sie wahrscheinlich als Komplizin vor das Strafgericht bringen, und wenn er irgendeinen Einfluss auf sie habe, solle er sie dazu bringen, die ganze Wahrheit zu sagen. Der Verfasser des Berichts war bei dem ersten Gespräch zwischen Monte und seiner Schwester zugegen und hörte, wie er ihr den Rat gab, den der Verfasser ihm gegeben hatte. Ungeachtet dessen beharrte sie in einem anschließenden Gespräch darauf, dass sie keine Ahnung von Jacsons Absicht hatte, das Verbrechen zu begehen, und auch keine Ahnung habe, wer seine Komplizen sein könnten. [171]

Auszug aus dem FBI-Bericht vom 29. August 1940 [Photo: FBI]

In dem Bericht wird vorgeschlagen, dass das „New Yorker Büro“ des FBI Gespräche mit Hilda Ageloff und den Rosmers führt, aber darüber gibt es keine öffentlich zugänglichen Aufzeichnungen. Im Gegensatz zu Ageloffs Behauptung, getäuscht worden zu sein, schließt der Bericht des FBI-Agenten mit den Worten: „Während dieses Mädchen sehr geschickt darin ist, im richtigen Moment hysterische Anfälle zu bekommen, ist sie meiner Meinung nach ein schwieriger Kunde und wird vielleicht nie alles sagen, was sie weiß und was nützlich sein könnte, um herauszufinden, was genau hinter dem Mord an Trotzki durch Jacson steckt.“ [172]

Whittaker Chambers' Einschätzung der Familie Ageloff

Nach dem Attentat holte die SWP die Meinung von Whittaker Chambers über Ageloffs Rolle bei dem Attentat ein.

Whittaker Chambers

Chambers kannte die Funktionsweise der GPU sehr genau. Von 1932 bis 1938 hatte er eine Gruppe von GPU-Spionen geleitet, die heimlich innerhalb der US-Regierung arbeiteten. Chambers‘ Beteiligung an diesem Netzwerk – bekannt als die „Ware-Gruppe“ nach seinem Gründer, Harold Ware – verschaffte ihm Zugang zu hochkarätigen Informationen über die Rolle von GPU-Agenten in den USA.

Aufgrund der stalinistischen Morde an Ignaz Reiss und seiner Freundin und einstigen Mitstalinistin Julia Stuart Poyntz 1937, die ihn ängstigten, brach Chambers um 1938 mit der Kommunistischen Partei und tauchte unter. 1939 begann er, die US-Regierung mit Informationen zu beliefern.

Im Jahr 1948 wurde der Name Chambers allgemein bekannt, als er vor dem parlamentarischen Ausschuss für unamerikanische Umtriebe aussagte und die Mitglieder der Kommunistischen Partei benannte, aus denen sich die Ware-Gruppe zusammensetzte. Einer von ihnen war Alger Hiss, der Beamte des Außenministeriums, der abstritt, ein Spion zu sein, aber 1950 wegen Meineids verurteilt wurde. Chambers wurde ein prominenter Neokonservativer der Nachkriegszeit.

Bald nach seinem Bruch mit der Kommunistischen Partei führte Chambers ein geheimes Gespräch mit einem führenden SWP-Mitglied, um der trotzkistischen Bewegung Informationen zu geben. Dieses Gespräch wurde von der SWP transkribiert und als „W-Memorandum“ bekannt. Chambers‘ Schlussfolgerung über die Familie Ageloff wird wie folgt wiedergegeben:

Kann nicht an die Unschuld der Ageloff-Mädchen glauben. Nur ein Schwachkopf könnte mit einem GPU-Agenten zusammenleben, ohne es zu merken. Das gegenwärtige Verhalten Sylvias ändert nichts an seiner Meinung; vielleicht versucht sie, sich zu retten, oder sie hat Gewissensbisse (aber nicht genug, um alles zu erzählen), oder sie spielt sogar eine vorgegebene Rolle. Jede dieser drei Möglichkeiten sei wahrscheinlicher, sagt er, als ihre Unschuld. Die Struktur des Haushalts von Ageloff erinnert ihn an zahlreiche ähnliche, die von der GPU verwendet werden: Zwei oder drei Mitglieder einer Familie in der Bewegung (welche Gruppe in der Bewegung ist nicht wichtig), während andere überhaupt keine Verbindung zur Bewegung haben, aber auch der GPU dienen. Als ich sagte, dass der Papa im Immobiliengeschäft ist, lachte er. Er sagt, das sei das traditionelle Geschäft. „GPU-Arbeit läuft in Familiendynastien.“ Und besonders in jüdischen Familien in Städten mit großen jüdischen Gemeinden. Betrachtet das systematische Durchleuchten aller Phasen der Ageloff-Familie als eine der beiden Hauptspuren. [173]

Die SWP nahm Chambers‘ Einsichten in die Dynamik der GPU ernst. Sonst wäre sie nicht an ihn herangetreten, um sich nach der Rolle von Sylvia Ageloff zu erkundigen. Daraufhin gab Chambers der SWP die klare Antwort, dass Ageloffs Verhalten einem Muster von GPU-Aktivitäten entsprach. Er schlug vor, auf welche Weise die Partei beginnen könnte, die Wahrscheinlichkeit einer „GPU-Familiendynastie“ zu prüfen, und er erklärte, dass sein Verdacht nicht durch Ageloffs Hysterie gemindert wurde, die seiner Meinung nach vorgetäuscht war. Am unwahrscheinlichsten sei, dass ihr Verhalten ihre Unschuld zeige.

Obwohl das Gespräch mit Chambers vertraulich war und einer eigenständigen Untersuchung des Attentats durch die SWP diente, gab Joseph Hansen dieses wertvolle Material im September 1940 ohne Zustimmung der SWP an das Außenministerium weiter. Das FBI nahm Chambers‘ Vorschläge ernst und dehnte seine Ermittlungen aus. Die SWP hingegen entschied, keine Untersuchung über Ageloff und die Verbindungen ihrer Familie zur GPU durchzuführen.

Richter und Staatsanwalt in Mexiko erhalten Morddrohungen

Das Strafverfahren in Mexiko-Stadt wurde dem Richter Raúl Carrancá Trujillo im Sechsten Strafgericht von Coyoacán zugewiesen. Nach dem mexikanischen Strafrecht von 1940 lag die Entscheidung über Verurteilung oder Freispruch eines Angeklagten beim Richter und nicht bei einer Jury.

Für die GPU bedeutete die Verhaftung von Ageloff und Jacson-Mornard ein immenses Risiko der Enttarnung. Solange sich der Attentäter in mexikanischem Polizeigewahrsam befand, konnte man ihn nicht so einfach zum Schweigen bringen, wie man es mit Sheldon Harte getan hatten. Die Verhaftung von Ageloff, einer US-Bürgerin, verkomplizierte die Angelegenheit zusätzlich, da die Enttarnung der GPU-Netzwerke in den USA drohte.

Richter Carrancá Trujillo [Photo: UNAM]

Richter Carrancá erhielt Morddrohungen von Stalinisten, die ihn davor warnten, das GPU-Netzwerk hinter dem Verbrechen zu enthüllen. Ein solcher Brief, der jetzt im mexikanischen Nationalarchiv liegt, lautet:

Welche Schritte Sie auch immer im Prozess gegen Jacques Mornard wegen des Mordes an Trotzki unternehmen, die ihn zu der Aussage veranlassen könnten, er sei ein Agent der GPU, und damit eine internationale Frage von tiefer und ernster Bedeutung aufklären, Sie werden sehr teuer dafür bezahlen. Denken Sie daran, dass das mächtige Handeln einer Organisation zum Eindringen in ein Haus führte, das als uneinnehmbar galt. [174]

Mit dieser Drohung wurde ein umfassendes Komplott zugegeben und bestätigt, dass das Handeln der GPU „zum Eindringen in ein Haus führte, das als uneinnehmbar galt“. Eine andere Drohung lautete: „Pass gut auf, Raúl, dass die GPU dich nicht sehr bald in den Kofferraum stecken wird.“

Staatsanwalt Cabeza de Vaca erhielt ähnliche Drohungen. Victor Serge merkt an, dass „Francisco Cabeza de Vaca mehrfach ein Attentat angedroht worden war“. [175] Cabeza de Vacas Enkel, Daniel Cabeza de Vaca (der von 2005 bis 2006 Generalstaatsanwalt von Mexiko war), sollte später erklären, dass die Drohungen speziell mit seiner Entscheidung, gegen Ageloff zu ermitteln, zusammenhingen und dass sein Großvater „bei verschiedenen Gelegenheiten bedroht wurde, weil er die Freilassung von Sylvia Ageloff nicht zuließ“. [176]

Staatsanwaltschaft fordert Ageloffs Inhaftierung und klagt sie des Mordes an

Trotz dieser Drohungen klagte Staatsanwalt Cabeza de Vaca nach Abschluss der Vorermittlungen sowohl Ageloff als auch Mercader wegen Mordes an. Er verlangte, dass beide bis zum Ausgang des Strafverfahrens inhaftiert werden.

In seinem Schriftstück, verfasst in dem ausführlichen juristischen Stil, der mexikanischen Strafverfahren eigen ist, legte er die Indizien dar, die durch die Ermittlungen aufgedeckt worden waren, und trug das folgende Argument gegen Ageloff vor:

Es stimmt zwar, dass Sylvia beim Angriff auf Trotzki nicht anwesend war, aber es stimmt auch, dass aufgrund der in diesem Verfahren dargelegten Verkettung von Umständen die Vermutung besteht, dass besagter Person die Pläne, die von Jackson oder Mornard entwickelt wurden, nicht unbekannt waren, da sie von den vorangegangenen Anschlägen auf das Leben des nun Verstorbenen wusste; und unter diesen Umständen hätte Sylvia, die, wie das Verhalten zeigt, offenbar die Freundschaft und das Vertrauen der Familie Trotzki genoss, Misstrauen und Vorsicht walten lassen müssen, nachdem sie entdeckt hatte, dass sie, wie es dann auch eintrat, als Mittel dienen konnte, ihrem Liebhaber Zutritt zu dem Haus zu verschaffen ... zumal Sylvia genau wusste, dass Jackson keinen Hintergrund als Marxist und schon gar nicht als Mitglied der Vierten Internationale hatte ... wie sie auch wusste, dass ihr nunmehr angeklagter Liebhaber wiederholt seinen Namen geändert hatte, keinen bekannten Arbeitsplatz hatte, einen gefälschten Pass benutzt hatte und ihr gegenüber Adressen angegeben hatte, die ebenfalls falsch waren, sodass all dies darauf hindeutet, dass sich besagte Sylvia gegenüber Leo Trotzki nicht loyal verhielt, da sie es versäumte, ihn über ihren Verdacht bezüglich ihres Geliebten zu unterrichten, und da sie nicht Unwissenheit vorschützen kann, weil sie eine gebildete Person ist, die angibt, einen Hochschulabschluss zu besitzen. [177]

Gegen den Widerstand von Ageloffs Anwälten gab Richter Carrancá dem Antrag des Staatsanwalts statt, stimmte Cabeza de Vacas Argumenten zu, erklärte, dass er die für ihre Unschuld angeführten Gründe nicht nachvollziehen könne, und ordnete an, dass sowohl Ageloff als auch Jacson-Mornard in Haft genommen werden.

Dieser Beschluss war keine bloße Formalität im Vorfeld des eigentlichen Verfahrens. Barrón Cruz schreibt, dass am 31. August „Richter Carrancá Trujillo beschloss, einen Haftbefehl gegen Frank Jacson und Sylvia Ageloff zu erlassen, da er genügend Beweise für den Tatbestand des Mordes fand, um beide zu belasten“ (Hervorhebung hinzugefügt). [178]

Die mexikanische Presse berichtete ausführlich über Ageloffs Inhaftierung. La Prensa schrieb: „Es war eine große Überraschung, als die Nachricht eintraf, dass der Richter die formelle Inhaftierung“ Ageloffs verfügt hatte. [179]

Ageloffs Anwälte stellten einen weiteren Antrag auf Haftentlassung. Staatsanwalt Cabeza de Vaca reichte daraufhin eine Erwiderung ein, in der er forderte, sie bis zur endgültigen Entscheidung des Richters über die Mordanklage in Haft zu behalten. Cabeza de Vacas Antwort an Ageloffs Anwälte – wieder in der ausführlichen mexikanischen Rechtssprache verfasst – bilanzierte den Standpunkt der mexikanischen Behörden gegen Ageloff:

Aufgrund des politischen Milieus, in dem Leo Trotzki agierte ... übersah keiner der Sympathisanten und Freunde, die ihn häufig besuchten, die gefährliche Lage dieser Person, die jeden Moment der Gefahr ausgesetzt war, Opfer neuer Angriffe zu werden ... unter diesen Bedingungen hegten diejenigen, die sich gegenseitig als Freunde des Verstorbenen bezeichneten, ein übermäßiges Misstrauen und analysierten einander im Hinblick auf die Sicherheit des Verstorbenen, und es ist logisch anzunehmen, dass eine befremdliche Haltung dieser Freunde natürlich bei den anderen ... einen Verdacht erwecken würde, der nicht unterdrückt werden konnte. ... Sylvia Ageloff ... wusste, dass er [Jacques Mornard] keinen Hintergrund als Marxist hatte und schon gar nicht als Anhänger und Mitglied der Vierten Internationale; es ist nicht anzunehmen, dass der Verdächtige, als er von Europa nach Amerika zog und seinen Namen in Frank Jackson änderte, den befremdlichen Eindruck, den ein solches Verhalten bei Sylvia hinterlassen haben muss, unerklärt ließ. ... Mornards Unwahrheiten in Bezug auf die Aktivitäten, die er vorgab, in Amerika auszuüben, wohl wissend, dass diese Sylvia in ihrem Verdacht bestärken mussten, was Mornards wahren Grund für sein geheimnisvolles Leben betraf ... mehr noch, Sylvia hätte unbedingt von ihrem Geliebten eine zufriedenstellende Erklärung fordern müssen, nachdem sie festgestellt hatte, dass er bisweilen nicht seine richtige Adresse in dieser Stadt angegeben hatte.

Das übermäßige Misstrauen, das loyale Freunde von Herrn Trotzki an den Tag legten, hätte nicht ruhen können, als Sylvia ihren Liebhaber Mornard im Haus des Verstorbenen sah. ... unter keinen Umständen ist anzunehmen, dass Sylvia, wenn sie dem Verstorbenen gegenüber loyal gewesen wäre, ihm ihren Verdacht bezüglich der wahren Absichten des Verdächtigen nicht mitgeteilt hätte. Umso mehr, als Sylvia selbst zugibt, dass ihr Mornards lebhaftes Interesse für das Schicksal zweier verhafteter Spione verdächtig vorkam. Warum hat sie ihren Verdacht niemandem mitgeteilt und den Verstorbenen vor der Gefahr gewarnt, die vom Kontakt mit jemandem ausgeht, der sich unaufrichtig verhält? Wie ist es zu erklären, dass sie weiterhin seine Geliebte blieb?

Es gibt nur eine logische Erklärung: Ageloff kannte Mornards wahre Absichten bezüglich des Attentats vom 20. dieses Monats. Es gibt überhaupt keinen Grund, Sylvia als treue Freundin des Verstorbenen zu betrachten, da die Aufzeichnungen nicht erkennen lassen, dass sie sich je so verhalten hatte, wie es eine solche Loyalität gefordert hätte. Die Tatsache, dass die weibliche Verdächtige nun große Trauer wegen Trotzkis Tod und einen tiefen Hass auf seinen Mörder vortäuscht, dürfte bei jedem, der sie beurteilt, alles andere als einen positiven Eindruck hinterlassen.

Es gibt keine Erklärung dafür, dass Sylvia mit einem bescheidenen Monatsgehalt von 124 Dollar bequem von den Vereinigten Staaten nach Mexiko reisen und dort leben konnte, ohne Geld von Mornard anzunehmen, der sie in Mexiko mit ihrem Wissen zur Ausführung der Mordpläne benutzte. Um zu beweisen, dass zwischen Sylvia und Mornard eine vorherige Absprache über die Tat bestand, die zu ihrer beider Verhaftung Anlass gab, genügt ein Blick auf ihre Aufenthalte in Mexiko:

1) Im Januar des betreffenden Jahres kam sie in der Absicht, einen kurzen Urlaub zu verbringen, und blieb dennoch bis zum März. Dieser Zeitraum entspricht mehr oder weniger demjenigen, in dem Mornard begann, Trotzkis Haus zu besuchen. 2) Am Tag der Ereignisse luden beide Häftlinge Schüssler zum Abendessen ein, höchstwahrscheinlich, um ihn vom Haus des Verstorbenen fernzuhalten. 3) Am 20. des Monats ging Sylvia nicht mit Mornard zum Haus in Coyoacán, eine Abwesenheit, die Mornards Pläne begünstigte und angesichts der Freundschaft, die Ageloff in diesem Haus genoss, unerklärlich ist. 4) Beide hatten für den Tag nach dem Angriff eine gemeinsame Reise geplant. [180]

Obwohl Richter Carrancá weiterhin Morddrohungen erhielt, stimmte er diesem Antrag zu und lehnte es ab, Ageloffs Freilassung anzuordnen.

September 1940: Der Staatsanwalt bereitet eine Anklage gegen Hilda Ageloff vor

Laut dem Brooklyn Daily Eagle kam Ageloffs Vater persönlich nach Mexiko-Stadt, um die Freilassung seiner Tochter zu erwirken. In der Ausgabe vom 24. August 1940 wird vermerkt, dass Samuel Ageloff „heute eintreffen“ sollte und „von Washington aus geflogen sein soll“. Er habe auch an Präsident Cárdenas geschrieben und verlangt, dass dieser sich für die Freilassung seiner Tochter verwendet.

Weniger als zwei Wochen später berichtete der Daily Eagle, Ageloffs Anwälte würden befürchten, dass auch Hilda von den mexikanischen Behörden als Komplizin des Mordes verhaftet werden würde. In der Ausgabe vom 4. September 1940 heißt es:

Die Verteidiger von Miss Sylvia Ageloff, der Frau aus Brooklyn, die wegen Komplizenschaft beim Mord an Leo Trotzki inhaftiert ist, beantragten heute im ersten Strafgericht der Hauptstadt eine einstweilige Verfügung, um die Verhaftung ihrer Schwester Hilda zu verhindern, die heute mit dem Flugzeug aus New York eingetroffen ist. Die Verteidiger erklärten, es handele sich um eine Vorsichtsmaßnahme ... Miss Hilda Ageloff würde als Komplizin verhaftet werden, sollte die Vernehmung ergeben, dass sie jemals einen Verdacht gegen Frank Jackson, den Freund ihrer Schwester, hegte, der des Mordes angeklagt ist.

Im November, als Sylvia Ageloff vorbehaltlich der Entscheidung des Richters über eine Anklage wegen Mordes noch inhaftiert war, drohte Cabeza de Vaca, Hilda zu verhaften und die Ermittlungen auf die Familie Ageloff auszuweiten. Zu diesem Zeitpunkt forderte Samuel Ageloff die US-Regierung öffentlich auf, sich für die Freilassung Sylvias einzusetzen.

Am 19. November 1940 veröffentlichte der Daily Eagle einen Artikel mit dem Titel „Ageloff Seeks US Aid to Release Daughter“ („Ageloff ersucht USA um Hilfe zur Freilassung seiner Tochter“). Darin hieß es:

Samuel Ageloff, Remsen St. 76, dessen Tochter Sylvia in einem Krankenhaus in Mexiko-Stadt festgehalten wird, weil sie der Komplizenschaft beim Mord an Leo Trotzki mit einer Spitzhacke beschuldigt wird, hat sich an das Außenministerium in Washington gewandt und um Hilfe gebeten, um die Freilassung seiner Tochter zu erreichen. Dies gab der Anwalt des Vaters, Alfred F. Ritter, heute bekannt.

Dezember 1940: Ageloff wird aus der Haft entlassen

Die mexikanische Regierung wurde sowohl vonseiten der Vereinigten Staaten als auch der Sowjetunion enorm unter Druck gesetzt. Im Dezember kam schließlich, offenbar über verborgene diplomatische Kanäle, ein Deal zustande, der zu Ageloffs Freilassung ohne Verurteilung führte.

Es ist nicht klar, wie genau die Freilassung von Ageloff bewirkt wurde. FBI-Berichte deuten jedoch auf eine Übereinkunft zwischen hochrangigen Entscheidungsträgern hin. Das FBI, das wenig Zweifel an Ageloffs Schuld hatte, hoffte, dass sie bereitwilliger über die internen Operationen der GPU Auskunft geben würde, wenn ihre Geständnisse nicht in einem Mordprozess verwendet werden könnten, um sie zu einer langen Haftstrafe zu verurteilen. Dass hinter den Kulissen Gespräche zwischen der amerikanischen und der mexikanischen Regierung darüber geführt wurden, wie man am besten mit Ageloff umgehen sollte, geht aus einem FBI-Bericht hervor, in dem es heißt:

Es wird vertraulich davon ausgegangen, dass das Mädchen möglicherweise eine oder zwei Wochen länger festgehalten wird und dann vom Richter des Gerichts in Coyoacán entlassen wird und in die Vereinigten Staaten zurückkehren darf. Es könnte sein, dass bei einer weiteren Befragung in den Vereinigten Staaten mehr herauskommt, als bei den schwierigen Verhören in Mexiko (Hervorhebung hinzugefügt). [181]

Cabeza de Vaca setzte sich weiterhin für Ageloffs Inhaftierung und Anklage wegen Mordes ein. Er war überzeugt davon, dass er einem GPU-Netzwerk auf der Spur war, das tief in die USA und Mexiko hinein reichte.

Aber schließlich gab Carrancá dem Druck von oben nach, entließ sie aus der Haft und entschied, dass sie des Mordes nicht schuldig sei. In seiner kurzen schriftlichen Entscheidung erklärte Carrancá, sein Beschluss beruhe darauf, dass „Jacson und Ageloff immer gesagt haben, dass besagte Sylvia keinen Anteil“ an dem Attentat hatte. [182] Eine weitere Begründung gab er nicht.

Sylvia Ageloff (links) mit ihrem Bruder Monte Ageloff (Zweiter von links) und Mercader (Mitte, mit Bandage)

Dies war eine politische Entscheidung ohne juristische Glaubwürdigkeit. Carrancá und alle Beteiligten wussten, dass es für die Begründung keine logische Rechtfertigung gab, weil Jacson-Mornard zu diesem Zeitpunkt über jeden Aspekt seiner Rolle bei der Ermordung log. Selbst sein wahrer Name sollte erst 1950 bekannt werden. Dennoch wurde so viel Druck ausgeübt, dass Ageloff entlassen wurde. Im Dezember 1940 kehrte sie nach New York zurück.

Dezember 1940: Sylvia Ageloff gibt keine Beweise gegen Jacson-Mornard preis

Zurück in New York City wurde Hilda Ageloff von Journalisten gefragt, ob Sylvia oder andere Familienmitglieder bereit wären, gegen Jacson-Mornard auszusagen, dessen Gerichtsverfahren in Mexiko-Stadt noch nicht abgeschlossen war. Hildas Antwort im Namen ihrer Schwester lautete: „Von unserer Seite aus ist der Fall abgeschlossen.“ [183]

Diese Reaktion diente nur den Interessen der Stalinisten. Ein Anhänger Trotzkis hätte auf die Aufdeckung von Jacson-Mornards wahrer Rolle gedrängt. Zu dieser Zeit behauptete die GPU, sie sei nicht in Trotzkis Ermordung verwickelt gewesen, und die internationale stalinistische Presse verbreitete Jacson-Mornards Darstellung, er sei ein enttäuschter Trotzkist, um die trotzkistische Bewegung zu diskreditieren. Wenn Sylvia Ageloff lediglich ein unschuldiges Opfer gewesen wäre, dann wäre niemand besser in der Lage gewesen, zur Aufdeckung von Jacson-Mornards GPU-Verbindungen beizutragen.

Aber für die Ageloffs war der Fall abgeschlossen. Indem sie sich weigerten, der SWP oder den Behörden Informationen zu geben, halfen Hilda und Sylvia Trotzkis Mörder und schützten die GPU.

Dezember 1940: Sylvia Ageloff gibt eine Pressemitteilung heraus

Nach ihrer Rückkehr nach New York City im Dezember 1940 gab Sylvia Ageloff über das Immobilienbüro ihres Vaters eine Pressemitteilung heraus. Sie lautete:

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um einige der verworrenen Berichte in den Zeitungen richtigzustellen. Ich habe Jacson nie mit Leo Trotzki bekannt gemacht. Diese Tatsache ist durch die gesammelten Beweise eindeutig belegt und kann von jedem bestätigt werden, der sich die Mühe machen möchte.

Außerdem haben die Beweise und die Zeugenaussagen überzeugend bewiesen, wie der Richter in seinem Urteil feststellte, dass ich das Opfer einer Verkettung von Umständen war, von denen ich überhaupt nichts wusste und über die ich keine Kontrolle hatte.

Ich bewunderte lediglich Herrn und Frau Leo Trotzki und war mit ihnen persönlich befreundet. Ich gehöre keiner politischen Richtung an.

Mein stärkster Wunsch ist es jetzt, zu versuchen, das Geschehene hinter mir zu lassen. Ich möchte versuchen, in das Leben einer normalen Bürgerin zurückzukehren. Ich bedauere, dass ich derzeit so krank bin, dass ich keine persönlichen Interviews geben kann. [184]

Sylvia Ageloff log, dass sich die Balken bogen. Kein Wort ihrer Erklärung entsprach der Wahrheit.

Sylvia und Hilda Ageloff treffen in Newark ein – Dezember 1940 [Photo: Newsweek]

Es gab nichts „Verworrenes“ an den Zeitungsberichten darüber, dass die mexikanische Polizei und die Staatsanwaltschaft sie des Mordes an Trotzki angeklagt und beschuldigt hatten, GPU-Agentin zu sein.

Und sie hatte Trotzki seinem zukünftigen Mörder vorgestellt. Im August 1940, eine Woche vor dem Angriff, arrangierte Ageloff ein persönliches Treffen zwischen Jacson-Mornard und Trotzki. Sie brachte Jacson-Mornard unangemeldet auf das Grundstück und überraschte damit Sedowa, die davon ausging, nur ein Treffen mit Sylvia vereinbart zu haben. Infolge der Diskussion mit Trotzki an diesem Tag entwarf Jacson-Mornard den „Artikel“, den Trotzki durchlesen sollte, als ihm mit dem Eispickel der Schädel zerschmettert wurde.

Außerdem stellte Ageloff Trotzki und seiner Frau Jacson-Mornard in den Tagen vor dem Attentat fälschlicherweise als ihren „Ehemann“ vor. Sedowa erklärte später, dass der Attentäter „in erster Linie als der Ehemann von Sylvia Ageloff empfangen wurde“. Mit ihrer Lüge stärkte Ageloff Jacson-Mornards Glaubwürdigkeit und ermöglichte ihm am Tag des Angriffs den Zutritt zum Gelände. Außerdem sollte diese falsche Behauptung der Ehe zu einem zentralen Element des fiktiven Mordmotivs des Attentäters werden, nämlich dass Trotzki gegen seine „Heirat“ mit Ageloff gewesen sei.

Abgesehen von den Ereignissen, die dem Attentat unmittelbar vorausgingen, war Ageloffs Aussage, sie habe Jacson-Mornard nicht mit Trotzki bekannt gemacht, eine grobe Vertuschung ihrer Rolle im Verlauf ihrer zweijährigen Zusammenarbeit.

In jeder Phase war Ageloff das entscheidende Bindeglied, das Jacson-Mornard immer tiefer in die trotzkistische Bewegung und schließlich in Trotzkis Haus integrierte. Im Sommer 1938 machte sie ihn mit der Führung der internationalen trotzkistischen Bewegung bekannt und brachte ihn zur Gründungskonferenz der Vierten Internationale, wo sie ihn den Delegierten vorstellte. 1939 stellte Ageloff ihn ihren Freunden in der SWP in New York vor und Anfang 1940 den Rosmers in Mexiko-Stadt. Im März 1940 brachte sie ihn zum ersten Mal mit in die „Festung“. Man kann davon ausgehen, dass sie ihn mit den Führern der SWP bekannt machte, die im Juni nach Mexiko-Stadt kamen. Sie half ihm, die US-Einwanderungsbehörden zu umgehen, als er in jenem Monat seine GPU-Vorgesetzten in New York traf, und unterstützte ihn dabei, auch bei seiner Wiedereinreise nach Mexiko vor dem Mord unentdeckt zu bleiben.

Auch die nächste Behauptung Ageloffs – Richter Carrancá habe bestätigt, dass die während des Strafverfahrens in Mexiko vorgelegten Beweismittel „überzeugend bewiesen“ hätten, dass sie „das Opfer einer Verkettung von Umständen war, von denen ich überhaupt nichts wusste und über die ich keine Kontrolle hatte“, war eine glatte Lüge.

Der Wortlaut der Entscheidung von Richter Carrancá ist mittlerweile öffentlich zugänglich, und sie enthält keinerlei Aussagen in diese Richtung. Ageloffs Behauptung, im Strafverfahren sei festgestellt worden, dass sie über Jacson-Mornards wahre Absichten „überhaupt nichts wusste“, wurde durch ihre eigene Aussage widerlegt, in der sie zugab, dass sie sich mehrfach über Jacson-Mornards verdächtiges Verhalten gewundert habe. Als sie verhaftet wurde, behauptete sie nicht, dass sie „überhaupt nichts wusste“, sondern dass sie vor lauter Verliebtheit die Ungereimtheiten seiner Geschichte übersehen habe. Zurück in den Vereinigten Staaten, wo sie dem Zugriff der mexikanischen Behörden entzogen war, konnte sie es sich leisten, sich zu schützen, indem sie sich noch weiter von der Wahrheit entfernte.

Ageloffs Darstellung, „Ich bewunderte lediglich Herrn und Frau Trotzki und war mit ihnen persönlich befreundet“, und sie habe „keiner politischen Richtung“ angehört, war eine weitere Lüge, die darauf abzielte, sich als Narr des Schicksals darzustellen. Alle, die an den Ermittlungen beteiligt waren – die mexikanischen Behörden, das FBI und die SWP –, wussten, dass Ageloff seit 1934 in der sozialistischen Politik aktiv war, dass sie 1938 an der Gründungskonferenz der Vierten Internationale teilgenommen hatte und dass sie Mitglied der SWP gewesen war. Aber die SWP trat ihren Lügen nie entgegen, und Ageloff verschwand aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit.

April 1943: Die GPU ermordet Staatsanwalt Cabeza de Vaca

Francisco Cabeza de Vaca, Ageloffs Ankläger, erging es schlechter. Im April 1943 wurde Jacson-Mornard rückwirkend ab dem Tatzeitpunkt zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Kurz nach der Urteilverkündung trat Cabeza de Vaca auf die Straße im Zentrum von Coyoacán und wurde, nach Angaben seiner Familie, ermordet. Cabeza de Vacas Enkel, Daniel Cabeza de Vaca, ein prominenter Anwalt der Regierung und von 2005 bis 2006 mexikanischer Generalstaatsanwalt, schreibt in der Einleitung zu Barrón Cruz‘ Bericht über die Ermittlungen:

Unter all den anderen, die an den Ermittlungen über den Mord an Leo Trotzki beteiligt waren, erfuhr die Öffentlichkeit wenig oder nichts über Francisco Cabeza de Vaca Acosta. Er hat es verdient, dass man heute wieder über ihn spricht …

Als wir Kinder waren – meine Geschwister, Cousins und Cousinen und ich – erzählte uns meine Großmutter mit innigem Gefühl von unserem Großvater. Insbesondere sagte sie uns, dass wir die Liebe zur Gerechtigkeit achten müssen, die uns von einem Mann mitgegeben wurde, der für diese Liebe gestorben war. Eine Anekdote erzählend, aber mit geröteten Augen, berichtete sie uns, dass mein Großvater bedroht worden war, damit er die Ermittlungen einstellte, die längst bewiesen hatten, was später bekannt und allgemein anerkannt wurde und jetzt Geschichte ist: die wahre Identität des Mörders und die Verantwortung der sowjetischen GPU für den Mord an Trotzki.

Meine Großmutter bezeichnete die Ermordung Trotzkis als eine Verschwörung und sagte, die gleichen Attentäter hätten auch meinen Großvater ermordet. Sie erzählte uns, wie mein Großvater von ihr Abschied nahm; er sagte, dass dieselben Attentäter Trotzkis ihm etwas unter die Haut gespritzt hätten, als er ein Restaurant im Zentrum von Coyoacán verließ, dass sie ihn vergiftet hätten und dass es kein Gegengift gegeben habe; er übergab ihr Kopien der Fallakte und starb kurz darauf. Später wurden die Geräte und das Gift entdeckt, das die stalinistischen Attentäter verwendet hatten.

Doch zuvor waren die einzigen Beweise, die meine Großmutter hatte, die Kopien der Ermittlungsakten, die er ihr heimlich vor seinem Tod zugesteckt hatte, und die Tatsache, dass sie im Alter von dreißig Jahren mit sechs Kindern ihr Haus in Coyoacán verlassen musste, um bei ihrer Familie in der Stadt Leon in Guanajuato Zuflucht zu suchen.“ [185]

Daniel Cabeza de Vaca fährt fort:

Seit Beginn seiner komplexen Arbeit als Verantwortlicher für die Ermittlungen im Fall Trotzki war er fest davon überzeugt, dass Ramón nicht allein gehandelt haben konnte, sondern dass er mit einer komplexen Tarnung arbeitete und geschult worden war. Traurigerweise starb mein liebenswerter Großvater, nachdem er mehrfach bedroht worden war, weil er die Freilassung von Sylvia Ageloff – der Ex-Freundin von Ramón, die ihn tödlich nahe an Trotzki herankommen ließ – nicht zuließ. Er starb unter verdächtigen Umständen genau an dem Tag, an dem das Urteil gegen Ramón veröffentlicht wurde, nachdem ihm offenbar wenige Stunden zuvor eine merkwürdige Substanz injiziert worden war.

Aus all diesen Gründen könnte es durchaus Ähnlichkeiten oder Parallelen zwischen Sylvias Fall und dem Fall von Robert Sheldon Harte geben, der damals von Trotzki selbst für unschuldig erklärt wurde, nachdem er sich gemeinsam mit David Alfaro Siqueiros und seinem Schwager Luis Arenal und anderen am ersten Anschlag auf Trotzkis Leben beteiligt hatte; denn Robert, genau wie Sylvia, machte sich die Nähe und das Vertrauen Trotzkis und seiner Familie zunutze. Aber wie sich im Laufe der Zeit herausstellte, hatte Robert paradoxerweise tatsächlich auf Befehl von Leonid A. Eitingon, dem Chef des NKWD in Spanien, gehandelt, der der Liebhaber von Caridad [del Rio, Mercaders Mutter] und später der Vorgesetzte von Sylvia und Ramón gewesen war. [186]

Der Enkel des Staatsanwalts schließt: „In diesem Sinne müssen die Veröffentlichung der Informationen und die kürzlich bekannt gewordenen Entdeckungen dazu dienen, neue Hypothesen über die wirkliche Rolle Sylvias aufzustellen, sowie über verschiedene Personen, zu denen sie Beziehungen unterhielt.“ [187]

Dezember 1950: Ageloff sagt vor dem Ausschuss für unamerikanische Umtriebe aus

Zehn Jahre nach dem Attentat, im Dezember 1950, wurden Hilda Ageloff, Sylvia Ageloff und Ruby Weil vor den Ausschuss für unamerikanische Umtriebe (House Un-American Activities Committee, HUAC) des US-Repräsentantenhauses geladen. Der Titel der Anhörung lautete „Amerikanische Aspekte der Ermordung von Leo Trotzki“, und die drei Frauen sollten aussagen, was sie über die Rolle der GPU bei der Vorbereitung des Attentats wussten. [188]

Das Interesse des HUAC an der Ermordung Trotzkis war nicht von dem Wunsch geleitet, die Verantwortlichen für den Mord an seinem revolutionären Gegner zu bestrafen. Doch 1950 war den Ermittlern der US-Regierung klar, dass es zwischen den Spitzenagenten, die an der GPU-Operation zur Ermordung Trotzkis beteiligt waren, und denjenigen, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit Atomspionage betrieben, personelle Überschneidungen gab. Der einzige Grund, aus dem das HUAC Sylvia Ageloff als Zeugin aufrief, war, dass es Grund zu der Annahme hatte – oder mit Bestimmtheit wusste –, dass ihr bedeutende Informationen über sowjetische Spionage in den Vereinigten Staaten bekannt waren.

Im Dezember 1950 fand die letzte von vier Anhörungen zum Thema „Amerikanische Aspekte der Ermordung von Leo Trotzki“ statt. In den vorangegangenen drei Anhörungen war es um die Beteiligung der amerikanischen Kommunistischen Partei an einem fehlgeschlagenen Geldwäsche-Komplott gegangen, mit dem Jacson-Mornards Freilassung aus dem mexikanischen Gefängnis erreicht werden sollte. Neben den Ageloffs und Weil sagten acht weitere mutmaßliche GPU-Agenten im Rahmen der Anhörungen öffentlich aus.

Sechs Monate vor der Anhörung, im Juni 1950, war beim Verlag Harper and Brothers unter dem Titel Men Without Faces das zweite Buch von Louis Budenz erschienen, das auf die Existenz eines weitaus breiteren GPU-Netzwerks schließen lässt. Budenz zufolge war eine GPU-Agentin namens „Helen“ innerhalb der SWP tätig. Budenz schildert, wie er Ruby Weil als GPU-Agentin angeworben und nach Europa geschickt hatte, wo sie und Sylvia Ageloff Mornard-Jacson treffen sollten.

Drei Wochen vor der Anhörung der Ageloffs im Dezember 1950 gab das HUAC eine von Budenz eingereichte eidesstattliche Erklärung zu Protokoll. Diese eidesstattliche Erklärung enthielt Einzelheiten über die GPU-Agenten, mit denen er bei der Infiltrierung der trotzkistischen Bewegung und der Organisation von Trotzkis Ermordung zusammengearbeitet hatte. Zum ersten Mal nannte Budenz „Helen“ beim Namen. Es war Sylvia Franklin (geb. Callen), die Sekretärin von James P. Cannon. Er erwähnte auch, dass er während seiner Zeit in der Kommunistischen Partei „eine Reihe von Agenten für die stalinistische Gruppe in das trotzkistische Lager eingeschleust hatte“. [189]

Budenz erklärte, dass es noch viele weitere Personen gebe, die er öffentlich als GPU-Agenten benennen würde, wenn es nötig wäre. „Es gab auch eine große Anzahl von Leuten, zusätzlich zu den genannten, die ich dem GPU-Rädelsführer Dr. Gregory Rabinowitz vorgestellt habe“, heißt es in seinem Buch. [190] Der letzte Satz seiner eidesstattlichen Erklärung lautet: „Sollten weitere Einzelheiten zu diesem Trotzkisten-Fall erforderlich sein, und es gibt eine Reihe, die ich nicht genannt habe, stehe ich dem Kongress jederzeit nach Kräften zur Verfügung.“ [191]

Vor diesem Hintergrund machte Sylvia Ageloff ihre Aussage vor dem HUAC. Die eigentliche Anhörung am 4. Dezember 1950 dauerte nur 75 Minuten, von 11:00 Uhr bis 12:15 Uhr. Ihr gingen wiederholte Befragungen der als Zeugen geladenen Personen durch die Ausschussmitglieder voraus. Wie Ruby Weil einräumte, hatte sie, bevor sie bei der Anhörung aussagte, „diese Geschichte mehrmals den Leuten von der Regierung erzählt“. [192]

Die Abschrift von Sylvia Ageloffs Aussage ist nur sechs Seiten lang. Die Abgeordneten und Juristen begegneten Ageloff mit dem höflichen Respekt, den sie ehemaligen Agenten entgegenbrachten, die zu Informanten geworden waren. Sie waren so taktvoll, nicht zu erwähnen, dass Ageloff in Mexiko verhaftet und des Mordes an Trotzki angeklagt worden war.

Ageloff sagte aus, dass ihr Besuch in Europa 1938 „nur eine Vergnügungsreise“ war. [193] Jacson-Mornard habe sie „bei der ersten Begegnung zunächst nicht gesagt, dass ich Trotzkistin bin“. [194] Ageloff erklärte vor dem Ausschuss, sie habe keine „Informationen aus erster Hand“ darüber, wie der Attentäter Zugang zu Trotzkis Haus erlangte. [195] Sie sagte, für sie deute nichts darauf hin, dass Jacson-Mornard GPU-Agent sei. [196]

Ein Jurist des Ausschusses fragte sie: „Hatten Sie das Gefühl, in irgendeiner Weise unfreiwillig oder unwissentlich in diese Sache verwickelt worden zu sein?“ Sie antwortete: „Ich war insofern verwickelt, als ich vermute, dass er wohl keinen Zutritt zu diesem Haus erhalten hätte, wenn ich ihm nie begegnet wäre. Ich sollte allerdings für das Protokoll sagen, dass ich ihn nie ins Haus gebracht habe ... Frau Trotzki hat das bestätigt.“ [197] Auf die Frage: „Haben Sie in Mexiko-Stadt für Leo Trotzki gearbeitet?", antwortete sie: „Nein. Ich habe ihn besucht. Ich war einmal für genau eine halbe Stunde dort.“ [198] Hilda Ageloffs Aussage stimmte mit der Darstellung Sylvias überein.

Das HUAC wusste, dass diese Aussagen falsch waren, und Ageloff machte sich offensichtlich keine Sorgen, dass sie wegen Meineids angeklagt werden könnte, weil sie unter Eid gelogen hatte. Das Gerichtsverfahren in Mexiko und die zeitgleiche Untersuchung des FBI hatten ergeben, dass Ageloff in Wirklichkeit Jacson-Mornard all ihren Freunden in der trotzkistischen Bewegung vorgestellt hatte und dass sie Trotzkis Haus nicht nur einmal, sondern mehrfach zwischen Januar und März 1940 und zwischen dem 9. und 20. August besucht hatte. Außerdem hatte sie Jacson-Mornard Ende März, bevor sie in die Vereinigten Staaten zurückkehrte, und erneut, als sie im August nach Mexiko-Stadt zurückkehrte, auf das Grundstück gebracht.

Bezeichnenderweise benutzte Ageloff während ihrer Aussage zweimal den abfälligen Ausdruck „Trotskyite“, der von den Stalinisten geprägt wurde. Dieser Ausdruck, der mit Massenmord und Schauprozessen assoziiert wurde, wäre von Anhängern der trotzkistischen Bewegung niemals verwendet worden.

Im Anschluss veröffentlichte das HUAC eine offizielle Zusammenfassung von Ageloffs Aussage:

Unter Bezugnahme auf die Aussagen der Ageloff-Schwestern wird darauf hingewiesen, dass sie durch die Erwähnung ihrer Namen in Zusammenhang mit dieser Angelegenheit durch andere Quellen in Bedrängnis geraten sind. Der Ausschuss möchte in ihrem Namen erklären, dass sie trotz des persönlichen Risikos, das sie damit eingegangen sind, vollauf mit dem Ausschuss kooperiert und während dieser besonderen Untersuchung wertvolle Informationen geliefert haben. [199]

Die „anderen Quellen“, auf die in der Zusammenfassung Bezug genommen wird, waren die anderen GPU-Agenten, die während der Untersuchung befragt wurden. Wie aus den Akten hervorgeht, waren darunter der ehemalige GPU-Anwerber Louis Budenz und mehrere GPU-Agenten, die an dem Versuch beteiligt gewesen waren, Jacson-Mornard aus dem Gefängnis in Mexiko-Stadt zu befreien. Wahrscheinlich waren auch einige der Agenten darunter, die Budenz verpfiffen hatte. Wenn der Ausschuss mit Whittaker Chambers gesprochen hat, was angesichts von dessen beständiger Zusammenarbeit mit dem HUAC wahrscheinlich ist, dürfte Chambers ihm mitgeteilt haben, dass er Sylvia Ageloff für eine Agentin hielt. Das sind die Quellen, die die Namen der Ageloff-Schwestern „in Zusammenhang mit dieser Angelegenheit“ erwähnt hatten. Mit anderen Worten, mehrere GPU-Agenten hatten dem HUAC gesagt, dass Sylvia Ageloff als GPU-Agentin an der Ausführung des Mords an Trotzki beteiligt gewesen war.

In der Zusammenfassung heißt es weiter, dass Ageloff „vollauf mit dem Ausschuss kooperiert“ und ihm „wertvolle Informationen geliefert“ hat. Der Wert dieser Informationen bemisst sich danach, dass sie dem ausdrücklichen Zweck des Ausschusses dienten, nämlich der Enttarnung der GPU-Agenten, die an der Verschwörung zur Ermordung Trotzkis beteiligt waren. Unter diesem Aspekt konnte Ageloffs Aussage vom 4. Dezember 1950 für die Regierung nicht „wertvoll“ sein. Denn sie wiederholte lediglich ihre bekannte Behauptung, sich in Jacson-Mornard verliebt zu haben, der nach wie vor in Mexiko inhaftiert war. Die „wertvollen Informationen“ müssen unter vier Augen weitergegeben worden sein, und sie müssen die Namen der ihr bekannten GPU-Agenten enthalten haben.

Die Zusammenfassung des Ausschusses verweist auf das „persönliche Risiko“, dem die Schwestern durch ihre Zusammenarbeit mit der US-Regierung ausgesetzt waren. Das konnte keine Anspielung auf die SWP sein, die kein Interesse daran zeigte, die in ihrer Mitte tätigen stalinistischen Agenten zu entlarven, und es versäumte, in der Parteipresse über die Anhörung zu berichten. Die einzige vernünftige Erklärung ist, dass das HUAC sich auf das „persönliche Risiko“ bezog, dem die Ageloff-Schwestern vonseiten der GPU ausgesetzt sein könnten.

In den Jahren nach Ageloffs Aussage nutzte die Regierung die Informationen, die sie in diesen Untersuchungen erlangt hatte, um zahlreiche GPU-Agenten strafrechtlich zu verfolgen, die in den 1930er und 1940er Jahren an „antitrotzkistischen“ Aktivitäten beteiligt gewesen waren. Die US-Regierung begann sich für diese Agenten zu interessieren, als sie nach Trotzkis Ermordung von antitrotzkistischer Spionage zu militärischer und atomarer Spionage übergingen. Jack Soble wurde 1957 verhaftet, Mark Zborowski 1958 und Sobles Bruder Robert Soblen 1960. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Soblen wurden James P. Cannons Sekretärin Sylvia Franklin (geb. Callen) und das SWP-Mitglied Floyd Cleveland Miller als nicht angeklagte Mitverschwörer aufgeführt.

Zum Zeitpunkt dieser Gerichtsprozesse lag Trotzkis Ermordung erst zwanzig Jahre zurück. Obwohl die Anklage und die Schuldsprüche bestätigten, dass hochrangige Mitglieder der trotzkistischen Bewegung GPU-Agenten gewesen waren, berichtete die Socialist Workers Party in ihren Publikationen nicht über die Prozesse und ihren Ausgang. Das FBI führte Untersuchungen durch, nicht aber die SWP.

Noch 26 Jahre später hielten sich das FBI und J. Edgar Hoover ständig auf dem Laufenden, was die Diskussion über Ageloffs Mittäterschaft anging. Am 17. Oktober 1966 erhielt Hoover einen Brief von einer Person, deren Name in den später freigegebenen FBI-Akten geschwärzt ist. Die Person bezieht sich auf das Buch The Mind of an Assassin von Isaac Don Levine und fragt:

Können Sie mir vielleicht sagen, warum Mexiko nie die Auslieferung der beiden Amerikanerinnen beantragte, die dem verurteilten Mörder Zutritt zu Leo Trotzkis Haus in Mexiko-Stadt verschafft haben, um sie im eigenen Land vor Gericht zu stellen? Dieses Thema wird im Buch nicht angesprochen. Inwieweit sind diese Mittäter überhaupt haftbar, entweder hier oder in Mexiko?

Hoover antwortete persönlich am 20. Oktober 1966:

Was Ihre Anfrage betrifft, so handelte es sich bei der Angelegenheit, auf die Sie sich beziehen, nicht um einen Rechtsverstoß, der in die Ermittlungszuständigkeit des FBI fällt, und ich bin daher nicht in der Lage, mich in der von Ihnen gewünschten Weise dazu zu äußern. Da der Mord an Leo Trotzki in Mexiko stattfand, müsste eine Strafverfolgung der Beteiligten von den Behörden dieses Landes eingeleitet werden.

In dieser Antwort verschwieg Hoover, dass die Behörden in Mexiko tatsächlich strafrechtliche Ermittlungen gegen Ageloff durchgeführt hatten und dass die Staatsanwaltschaft auch Hilda Ageloff anklagen wollte. Damit wollte Hoover offenbar verhindern, dass der Fragesteller erfuhr, auf welchem Wege die Freilassung der Ageloff-Schwestern erwirkt wurde.

Das Schicksal von Ramón Mercader und Sylvia Ageloff

Ramón Mercader wurde im Mai 1960 aus dem Gefängnis in Mexiko entlassen. Er wurde in die Obhut tschechischer Diplomaten gegeben und über Kuba in die Sowjetunion gebracht. In Kuba wurde der Attentäter auf dem Flughafen von Havanna von dem kleinbürgerlichen Guerillaführer und virulenten Antitrotzkisten Che Guevara wie ein Held empfangen.

Eduardo Ceniceros, Mercaders Anwalt, Dezember 1976 (Foto: David North) [Photo by David North]

Im Januar 1977 veröffentlichte das Internationale Komitee der Vierten Internationale Informationen, die auf Nachforschungen von David North und Alex Mitchell (dem damaligen Herausgeber der News Line, die von der britischen Workers Revolutionary Party herausgegeben wurde) in Mexiko beruhten. Demnach ging aus der Korrespondenz zwischen Mercader und seinem Anwalt Eduardo Ceniceros hervor, dass sich Mercader im Urlaub in der Sowjetunion in der ukrainischen Donezk-Region befand.

Brief von Mercader an Ceniceros, Dezember 1976 (Foto: David North) [Photo by David North]

In der Sowjetunion verlieh ihm die stalinistische Bürokratie die höchste Auszeichnung des Landes, den Leninorden, und brachte ihn in einer komfortablen Wohnung unter, wo er in regelmäßigem Kontakt mit der Exilführung der Kommunistischen Partei Spaniens stand. Er reiste zwischen der Sowjetunion und Kuba hin und her, wo er ein geehrter Gast und persönlicher Bekannter von Fidel Castro war. Er starb 1978 im Alter von 65 Jahren in Kuba.

Ramón Mercader (Zweiter von links) und Ramón Castro [Photo: Olivia Gall]

Sylvia Ageloff führte ein komfortables Leben in New York City und starb 1995 im Alter von 86 Jahren, mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen in Coyoacán.

Im Jahr 2011 wurde ihre enge Freundin Lillian Pollak in ihrer Wohnung in der Upper West Side von Manhattan interviewt. Sylvia Ageloff „wohnte ganz in der Nähe von hier“, sagte sie, „in einer wunderschönen Wohnung“. [200] Entfernte Verwandte der Ageloff-Schwestern sagten, dass sie von ihrer eigenen Familie nie etwas über die beiden erfahren haben und dass die einzigen Informationen, die sie jemals über ihr Leben in Erfahrung bringen konnten, aus öffentlichen Todesanzeigen stammten. [201] Laut dem FBI betrieb Sylvia einen Kindergarten in einem Vorort von New York und musste, nachdem sie die US-Regierung mit „wertvollen Informationen“ über die GPU versorgt hatte, wegen ihrer Rolle bei Trotzkis Ermordung keine größeren Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen.

Fazit

Auf der Grundlage aller mittlerweile verfügbaren Informationen ist es möglich, den Mythos der „armen kleinen Sylvia“ durch eine detaillierte Darstellung ihrer Rolle in der politischen Katastrophe vom 20. August 1940 zu ersetzen. Endlich tritt die reale Person an die Stelle der konstruierten Figur.

Wer war Sylvia Ageloff? Die Beweise führen überwältigend zu dem Schluss, dass sie eine Agentin der GPU war, die beim Mord an Leo Trotzki eine entscheidende Rolle spielte.

Ende

Anmerkungen:

[An dieser Stelle nicht nochmals in Langform angegebene Quellen sind in den Anmerkungen zu Teil 1, Teil 2 oder Teil 3 aufgeführt.]

[161] Erst durch die Bemühungen des mexikanischen Ermittlers Alfonso Quiroz Cuarón wurde 1949 oder 1950 Mercaders wahrer Name in der Öffentlichkeit bekannt.

[162] Barrón Cruz, S. 59.

[163] Ebd., S. 76.

[164] Ebd., S. 83.

[165] Ebd., S. 60.

[166] Ebd., S. 61.

[167] Ebd., S. 54.

[168] Ebd., S. 76.

[169] FBI-Bericht vom 5. September 1940: „Re: Murder of Trotsky in Mexico“, von J. B. Little an H. H. Clegg.

[170] „Trotsky Dies of His Wounds; Asks Revolution Go Forward“, in: New York Times, 22. August 1940.

[171] FBI-Memorandum vom 29. August 1940 zum Thema „Mord an Leo Trotzki“.

[172] Ebd. In einem Interview mit David North aus dem Jahr 1977, das im Rahmen der Untersuchung „Sicherheit und die Vierte Internationale“ geführt wurde, sagte der FBI-Agent M. R. Griffin, der aktiv an den Ermittlungen gegen die in das Attentat verwickelten Stalinisten beteiligt war, dass Ageloff seiner Meinung nach eine GPU-Agentin war.

[173] The Gelfand Case, Band 1, Detroit 1985, S. 15.

[174] Luri, S. 259–260.

[175] Ebd., S. 280.

[176] Barrón Cruz, S. xix.

[177] Ebd., S. 67.

[178] Ebd., S. 77.

[179] Ebd., S. 82.

[180] Ebd., S. 83–85.

[181] FBI-Memorandum vom 29. August 1940 zum Thema „Mord an Leo Trotzki“.

[182] Barrón Cruz, S. 179.

[183] Luri, S. 272.

[184] Eric Gurevitch, „Thinking with Sylvia Ageloff“, in: Hypocrite Reader, August 2015. Hier verfügbar.

[185] Barrón Cruz, S. xiv–xv.

[186] Ebd., S. xix–xx.

[187] Ebd.

[188] Auch Ruth Ageloff wurde vorgeladen, aber laut einem Juristen des Ausschusses war sie krank. Der Ausschuss beschloss, von ihr keine Aussage unter Eid zu verlangen.

[189] Ebd., S. vi.

[190] Ebd., S. ix.

[191] Ebd.

[192] American Aspects of the Assassination of Leon Trotsky, US House of Representatives Committee on Un-American Activities, 1950, S. 3,416.

[193] Ebd., S. 3,402.

[194] Ebd., S. 3,403.

[195] Ebd., S. 3,404.

[196] Ebd.

[197] Ebd., S. 3,406.

[198] Ebd.

[199] Ebd., S. xiv.

[200] Siehe Anmerkung 51. Hier verfügbar, S. 15–16.

[201] Interview mit Amy Feld von Eric London, 17. August 2020; Interview mit Eric M. Gurevitch von Eric London, 17. August 2020.

Loading