Perspektive

Die Gründung des BSA vor 50 Jahren

Ulrich Rippert ist Vorsitzender der Sozialistischen Gleichheitspartei und war 1971 Gründungsmitglied ihres Vorgängers, des Bunds Sozialistischer Arbeiter. Es handelt sich um eine leicht redigierte Form der Rede, die er am 19. September auf der Wahlabschlussversammlung der SGP hielt, die mit einem sozialistischen Programm zur Bundestagswahl und zur Berliner Abgeordnetenhauswahl antritt.

Vor 50 Jahren, am 18. und 19. September 1971, wurde der Bund Sozialistischer Arbeiter (BSA) als deutsche Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale gegründet. Es war ein Ereignis von größter historischer Bedeutung.

26 Jahre nach dem Fall der NS-Diktatur knüpften junge Arbeiter und Studenten wieder an die mächtige marxistische Tradition an, die in Deutschland ihren Ursprung nahm. Hier wurden die SPD als erste marxistische Massenpartei und die KPD als größte Kommunistische Partei außerhalb der Sowjetunion aufgebaut. Doch die Sozialdemokratie, der Stalinismus und der pablistische Revisionismus zerstörten diese Tradition.

Gründungskonferenz des Sozialistischen Jugendbunds, der Jugendorganisation des BSA, 1972

1938 gründete Leo Trotzki die Vierte Internationale, um die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution gegen den Stalinismus zu verteidigen. Die Vierte Internationale verfügte auch in Deutschland über eine starke Sektion. Selbst nach dem Ende der Nazi-Diktatur zählte allein die Berliner Gruppe, die von Oskar Hippe geleitet wurde, mehr als 50 Mitglieder.

Doch dann zerstörten die Anhänger Michel Pablos und Ernest Mandels die deutsche Sektion. Sie lösten sie 1951 in der kurzlebigen Unabhängigen Arbeiterpartei Deutschlands auf, die den jugoslawischen Staatschef Josip Tito unterstützte, und liquidierten sie dann im Milieu der SPD und der Gewerkschaften. Oskar Hippe wurde vom stalinistischen DDR-Regime acht Jahre lang im Gefängnis eingesperrt.

Die Vierte Internationale wurde in dieser Zeit von der amerikanischen, der britischen und der französischen Sektion verteidigt, die 1953 das Internationale Komitee der Vierten Internationale gründeten. In den 1960er Jahren konzentrierte sich diese Aufgabe mehr und mehr auf die britische Sektion, die Socialist Labour League, deren Führer Gerry Healy persönlich an der Gründungskonferenz des BSA teilnahm.

Von den zwei Dutzend Gründungsmitgliedern, die sich damals in Hannover versammelten – ich war einer von ihnen –, war kaum einer älter als 25 Jahre. Was uns am Internationalen Komitee der Vierten Internationale anzog, waren drei Fragen:

Die erste war Trotzkis Analyse des Nationalsozialismus.

Die Frage, wie in einem modernen Land mit einer mächtigen Kultur und einer starken sozialistischen Arbeitertradition ein derartiger Rückfall in die Barbarei möglich war, trieb damals eine ganze Generation um.

Nach dem Krieg waren die Verbrechen der Nazis vertuscht worden. Doch in den 1960er Jahren war dies nicht mehr möglich. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess, in dem erstmals ein deutsches Gericht Massenmörder der Vernichtungslager verurteilte, und Dokumentarfilme wie „Night Will Fall“ führten einem Millionenpublikum das Ausmaß des Nazi-Terrors vor Augen.

Viele erklärten die Ursache des Faschismus mit der Psychologie der Massen und der Verführbarkeit der Deutschen. Doch wir gaben uns mit dieser Antwort nicht zufrieden. Trotzkis Schriften zeigten uns, dass die grundlegende Ursache das Versagen der proletarischen Führung war.

SPD und KPD verfügten über Millionen Wähler und Hunderttausende aktive Mitglieder. Sie hatten bei der letzten Reichstagswahl vor Hitlers Machtübernahme weit mehr Stimmen als die Nazis erhalten. Ihre Anhänger brannten darauf, die Nazis zu stoppen. Doch die Führer weigerten sich, den Kampf gegen sie aufzunehmen.

Die SPD vertraute auf den Staat, die Polizei und Reichspräsident von Hindenburg – der Hitler drei Monate nach der Wahl zum Kanzler ernannte! Die KPD, die völlig unter dem Einfluss Stalins stand, versteckte ihre Feigheit hinter radikalen Phrasen. Sie beschimpfte die Sozialdemokraten als Sozialfaschisten und weigerte sich, für eine Einheitsfront gegen die Nazis zu kämpfen, wie sie Trotzki und seine Anhänger unablässig forderten.

So konnte Hitler seine Diktatur errichten, ohne dass es zu einem Aufstand der Arbeiterklasse kam, der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die ihn hätte aufhalten können.

Ausgehend von Trotzkis Schriften verstanden wir auch den untrennbaren Zusammenhang zwischen Faschismus und Kapitalismus. Die herrschende Klasse Deutschlands hatte Hitler gefördert, finanziert, zum Reichskanzler ernannt und – mit dem Ermächtigungsgesetz – zum Diktator gemacht. Sie tat dies, weil sie Hitler und seine braunen Horden brauchte, um die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und ihren imperialistischen Traum vom „Lebensraum im Osten“ zu erfüllen.

Wir folgerten daraus, dass die faschistische Gefahr nicht gebannt war, solange der Kapitalismus weiter existierte. Ernest Mandel vertrat damals den entgegengesetzten Standpunkt. Er schrieb im Vorwort zu einer deutschen Ausgabe von Trotzkis Schriften, man solle sich nicht „von einer noch nicht vorhandenen [faschistischen] Gefahr faszinieren lassen und weniger über Neofaschismus schreien.“

Wir dagegen waren überzeugt, dass nur der Aufbau einer neuen marxistischen Führung in der Arbeiterklasse einen Rückfall in Krieg und Diktatur verhindern könne – eine Einschätzung, die sich in den letzten Jahren durch den Aufstieg der AfD in Deutschland, Trumps Putschversuch in den USA und ähnliche Entwicklungen in anderen kapitalistischen Ländern dramatisch bestätigt hat.

Das zweite, was uns am Internationalen Komitee anzog, war, dass er an Trotzkis Einschätzung des Stalinismus als konterrevolutionäre Agentur des Weltimperialismus festhielt.

Das Gründungsprogramm der Vierten Internationale hatte die Prognose aufgestellt: „Entweder stößt die Bürokratie, die immer mehr zum Organ der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen um und wirft das Land in den Kapitalismus zurück, oder die Arbeiterklasse zerschlägt die Bürokratie und öffnet den Weg zum Sozialismus.“

Diese Frage stand 1953 im Zentrum der Spaltung der Vierten Internationale. Pablo, Mandel und ihre Anhänger hatten aus einer oberflächlichen Einschätzung der Verstaatlichungen in Osteuropa den Schluss gezogen, der Stalinismus spiele wieder eine fortschrittliche Rolle; der Übergang zum Sozialismus werde sich über „Jahrhunderte von degenerierten Arbeiterstaaten“ entwickeln, wie sie in Osteuropa entstanden waren. Praktisch lief dies auf die Auflösung der trotzkistischen Bewegung in den stalinistischen Parteien hinaus.

Das Internationale Komitee wies dies entschieden zurück. Es bezeichnete den Stalinismus als „Haupthindernis“ für die sozialistische Revolution. Der Stalinismus nutze das Ansehen der Oktoberrevolution von 1917, um Arbeiter anzuziehen und sie dann in Illusionen über den Kapitalismus und Apathie zu treiben. Den Preis für diese Verrätereien zahle die Arbeiterklasse in Form einer Stärkung faschistischer Kräfte und neuer Kriege.

Die Niederschlagung des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 in der DDR, die blutige Unterdrückung der ungarischen Revolution 1956 und des Prager Frühlings 1968 bestätigten den reaktionären Charakter des Stalinismus.

Die dritte und wichtigste Frage, die uns zum Internationalen Komitee brachte, war dessen Festhalten an der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse und am Internationalismus.

Die 1960er und 70er Jahre waren von einem tiefen Widerspruch geprägt. Es gab eine internationale Welle militanter Klassenkämpfe und kolonialer Aufstände, die – wie der Generalstreik 1968 in Frankreich – revolutionäre Ausmaße annahmen. Doch die Massen wurden politisch von reformistischen, stalinistischen und nationalen Bewegungen dominiert, die den Kapitalismus verteidigten.

In Deutschland erreichte die SPD, die 1959 im Godesberger Programm auch formal mit dem Marxismus gebrochen hatte, 1972 mit über einer Million Mitgliedern und einem Bundestagswahlergebnis von 46 Prozent den Höhepunkt ihres Einflusses.

In der studentischen Jugend, die sich in dieser Zeit ebenfalls radikalisierte, herrschten politische Konzeptionen vor, die aus der Nazi-Herrschaft und dem Zweiten Weltkrieg die pessimistischsten Schlussfolgerungen zogen und die Arbeiterklasse dafür verantwortlich machten.

Max Horkheimer und Theodor Adorno, die beiden führenden Köpfe der Frankfurter Schule, bezeichneten die Arbeiter als „Lurche“, die durch die Fließbandarbeit völlig abgestumpft seien. „Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern die logische Konsequenz der Industriegesellschaft,“ schrieben sie in „Dialektik der Aufklärung“.

Die rebellierenden Studenten verstanden unter „Revolution“ keine sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse, sondern die Befreiung von sexuellen und anderen Konventionen der bürgerlichen Gesellschaft. Viele schwärmten für die „Kulturrevolution“ Mao Zedongs, eines überzeugten Stalinisten, oder für nationale Bewegungen wie den Vietcong oder die PLO. Andere traten den „langen Weg durch die Institutionen an“ und wurden schließlich Minister.

Wir lehnten all das ab und beharrten darauf, dass die entscheidende Frage der Aufbau einer revolutionären Führung in der Arbeiterklasse sei. Und während sich alle anderen politischen Tendenzen ans nationale Milieu anpassten, bestanden wir darauf, dass der Aufbau der Internationale Vorrang hat und Voraussetzung für den Aufbau der nationalen Sektion ist.

Gerry Healy sprach auf der Gründungskonferenz sehr eindrucksvoll zu diesen Fragen. Nur einen Monat zuvor hatte US-Präsident Richard Nixon überraschend das Abkommen von Bretton Woods gekündigt, das seit Kriegsende die Grundlage des Weltwährungssystems bildete. Healy wies nach, dass keiner der Widersprüche gelöst war, die zu den beiden Weltkriegen und zum Faschismus geführt hatten. Alle Kräfte mussten darauf konzentriert werden, die Arbeiterklasse durch den Aufbau der Vierten Internationale auf eine neue Epoche revolutionärer Kämpfe vorzubereiten.

Ulrich Rippert spricht 1977 zur Jahreskonferenz der britischen Young Socialists

Mitte der 1970er Jahre gelang es der Bourgeoisie, die Welle militanter Arbeitskämpfe mithilfe der sozialdemokratischen und stalinistischen Apparate abzublocken. Sie begann eine Gegenoffensive, die bis heute anhält.

Diese Gegenoffensive nahm nicht nur soziale und ökonomische Formen an, sondern auch ideologische. An den Universitäten gewannen extreme Formen des subjektiven Idealismus und des Irrationalismus die Oberhand, die nicht nur den historischen Materialismus, sondern auch die Ideen der Aufklärung ablehnen.

Das verschärfte den politischen Druck auf das Internationale Komitee. Seine französische Sektion, die OCI, hatte bereits 1971 mit dem Internationalen Komitee gebrochen. Sie wandte sich der Sozialistischen Partei François Mitterrands zu, in der ihre Kader erfolgreich Karriere machten. Einer von ihnen, Lionel Jospin, wurde später sogar französischer Premierminister.

Die Gruppe Internationale Arbeiterkorrespondenz, die die OCI in Deutschland in den 1960er Jahren aufgebaut hatte, brach auseinander. Die Mehrheit ging in die SPD und passte sich an deren Antikommunismus an. Die Minderheit gründete den BSA.

Im Laufe der 1970er Jahre kapitulierte dann auch die britische Sektion, die sich inzwischen Workers Revolutionary Party nannte, vor dem Pablismus, den sie in den Jahrzehnten zuvor bekämpft hatte. Sie stellte ihre nationalen, opportunistischen Interessen über die Internationale und knüpfte prinzipienlose Beziehungen zu bürgerlich-nationalen Bewegungen, zur Gewerkschafts- und zur Labour-Bürokratie.

Das machte die ersten Jahre des BSA enorm schwierig. Die WRP übte großen Druck auf uns aus, doch wir waren nicht bereit, die Ziele aufzugeben, für die wir den BSA gegründet hatten. Als die WRP 1985 mit dem Internationalen Komitee brach, unterstützte der BSA die Kritik der Workers League unter Führung von David North und stellte sich geschlossen auf die Seite des Internationalen Komitees.

Seither haben sich die Perspektiven des Internationalen Komitees in hohem Ausmaß bestätigt, und es hat enorme politische Fortschritte gemacht.

Die Frage des konterrevolutionären Charakters des Stalinismus wurde vor 30 Jahren endgültig entschieden. Mit der Auflösung der Sowjetunion und der kapitalistischen Umwandlung Chinas hat die Bürokratie, wie von Trotzki vorausgesagt, den Arbeiterstaat in den Kapitalismus zurückgestoßen.

Die sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften treten nicht einmal mehr dem Anschein nach für soziale Verbesserungen ein. Sie organisieren den Sozialabbau und unterdrücken jeden Widerstand dagegen.

Der Pablismus und seine verschiedenen Varianten hat sich vollständig in den bürgerlichen Herrschaftsapparat integriert. Sie saßen oder sitzen in mehreren Ländern in bürgerlichen Regierungen – u.a. in Italien, Griechenland, Brasilien, Spanien. In Deutschland sind sie Führungsmitglieder oder Bundestagsabgeordnete der Linkspartei.

Außer dem Internationalen Komitee gibt es heute keine andere politische Organisation auf der Welt, die marxistische Grundsätze und ein internationales sozialistisches Programm vertritt. Es ist dieses Programm, das jetzt große Anziehungskraft entwickelt und zur Grundlage für den Aufbau sozialistischer Massenparteien wird. Mit der World Socialist Web Site haben wir ein tägliches Organ, das weltweit als authentische Stimme des Sozialismus anerkannt wird.

50 Jahre sind im Leben eines Menschen eine lange Zeit, nicht aber in der Geschichte. 76 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist deutlicher denn je, dass nicht eines der Probleme gelöst ist, die damals zur größten Katastrophe der Menschheit führten.

Die menschenverachtende Corona-Politik, die Profit und Wirtschaftsinteressen höher stellt als den Schutz von Gesundheit und Leben, zeigt, dass die herrschende Kapitalistenklasse wiederbuchstäblich über Leichen geht. Überall brechen die demokratischen Strukturen zusammen und die herrschenden Klassen fördern faschistische Kräfte.

Nach dreißig Jahren verheerenden Kriegen im Nahen Osten und Afrika bereiten die USA und ihre Verbündeten einen Krieg gegen China vor, der mit nuklearen Waffen ausgefochten und die Menschheit vernichten würde. Auch Deutschland rüstet wieder intensiv auf.

Aber die wichtigste Veränderung der gegenwärtigen Situation ist die Rückkehr des Klassenkampfs. Weltweit entwickeln sich Arbeitskämpfe und wächst der Widerstand. In all diesen Kämpfen stellt sich die Frage der politischen Führung mit großer Dringlichkeit. Der Aufbau des IKVI und der Sozialistischen Gleichheitspartei sind jetzt die wichtigste Aufgabe. Die Zukunft hängt davon ab, dass die Arbeiterklasse den Kapitalismus stürzt.

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