Ausverkauf des Pflegestreiks an den Unikliniken von NRW:

Pflegerinnen und Pfleger rechnen mit Verdi ab

Am Freitag vergangener Woche stimmte die Verdi-Tarifkommission an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen dem „Tarifvertrag Entlastung“ zu, der keine Verbesserungen schafft, sondern die unhaltbaren Arbeitsbedingungen in den Kliniken zementieren soll. Die Dienstleistungsgewerkschaft hatte das Klinikpersonal von anderen Streikenden an Häfen und Flughäfen isoliert, sämtliche Lohnforderungen aus dem elfwöchigen Arbeitskampf herausgehalten und ihn schließlich ausverkauft. In einer „Urabstimmung“ stimmten am Freitag rund 74 Prozent der betroffenen Verdi-Mitglieder der Tarifeinigung zu.

Der lange und ermüdende Arbeitskampf hat den Streikenden psychisch und physisch alles abverlangt, doch der Abschluss kommt nun einem weiteren Schlag ins Gesicht gleich. Die brennenden Probleme und lebenswichtigen Forderungen der Pflegekräfte und der Klinikbeschäftigten – höhere Löhne und mehr Personal – werden in keiner Weise adressiert. Stattdessen soll in eineinhalb Jahren ein „Punktesystem“ eingeführt werden, das die unerträgliche Belastung – durch jahrzehntelange Kürzungspolitik, Pandemie und Inflation – auf den bestehenden Personalkörper abwälzt.

Streikende Pfleger sprechen über katastrophale Bedingungen an den Kliniken

Das Aktionskomitee Pflege und die World Socialist Web Site kämpfen dafür, Pfleger, Klinikpersonal und Ärzte auf internationaler Ebene zu organisieren und mit den zunehmenden Kämpfen der internationalen Arbeiterklasse zu vereinen. Ein Statement des Aktionskomitees, das weitergehende Forderungen erhob und dazu aufrief, Verdi das Verhandlungsmandat zu entziehen, erhielt im Vorfeld der Abstimmung in den sozialen Medien breite Resonanz. In Social-Media-Kommentaren und Gesprächen mit der World Socialist Web Site rechnen Pflegerinnen und Pfleger mit dem Ausverkauf ihres Kampfes durch die Gewerkschaft ab.

„Im Sozial- und Erziehungsdienst war das wieder mal ein Flop auf ganzer Linie“, stellt die Pflegerin Karin S. auf Facebook unter einem Beitrag von Verdi fest. „Statt Entlastung gab es zwei Tage mehr Urlaub. Das trägt ganz und gar nicht zur Entlastung bei: Den Dienst von Kolleginnen und Kollegen, die krank sind oder Urlaub haben, müssen die Verbleibenden mit abdecken. Das bedeutet Mehrarbeit und höhere Belastung. Wenn also bei zehn Mitarbeitern Zusatzurlaub gewährt wird, bedeutet das bei zwei Zusatz-Urlaubstagen, 20 Tage mehr zu überbrücken. Das ist keine Entlastung – mehr Personal wäre eine Entlastung!“

Christiane K. kommentiert: „Ganz ehrlich? Für diese monatelange Auseinandersetzung und der Kraft und Zeit, die wir investiert haben, bin ich nicht zufrieden. Meines Erachtens sind wir von den Arbeitgebern völlig veräppelt worden und wir als Menschen interessieren sowieso nicht. Stattdessen wirkt es, als ob sie auf unsere Resignation gewartet hätten, bis wir mit hängenden Köpfen zurück auf die Stationen schleichen und mit ein wenig Zuckerbrot zufrieden sind.“ Christiane erwartet in naher Zukunft eine „Kündigungswelle, deren Ausmaß sich niemand vorstellen kann und auch niemand erleben möchte“.

„Ich bin von Verdi auch enttäuscht“, sagt Jörg S., ein Pfleger aus Baden-Württemberg: „Sie schwingen große Reden und beim erstbesten/-schlechten Angebot kriechen sie zu Kreuze und küssen den Arbeitgebern die Füße.“ Mehrere Kollegen fordern umfassendere Streikmaßnahmen bis hin zum Generalstreik: „Es sollten sich einfach mal alle Pflegekräfte für eine Woche krankmelden, dann soll das System einbrechen“, fordert ein Pfleger. Heidi B., eine Krankenpflegerin aus Berlin, fügt hinzu: „Legen wir das Land lahm, legen wir den Hahn des Profits trocken.“

Marco, ein Heilerziehungspfleger, der in einem Wohnheim in Bayern arbeitet und den Streik verfolgt hat, schrieb der World Socialist Web Site: „Ich denke, dass es sich um einen schlechten ‚Kompromiss‘ handelt. Die Gewerkschaft hat die Arbeiterinnen und Arbeiter verraten. Die großen Probleme der Pflege werden nicht angegangen, sondern werden weiterhin bestehen und sich in den kommenden Jahren noch verstärken. Auf die Gewerkschaften und Mitarbeitervertretungen kann sich die Pflege nicht verlassen. Sie muss selbst von der Basis heraus aktiv werden und in großem Maße streiken, um Veränderungen erzielen zu können.“

Mit Blick auf die Durchseuchung von Wohn- und Pflegeheimen schreibt Marco: „Das System wird auf Kosten des verbleibenden Personals und der Pflegebedürftigen in sich zusammenbrechen. Weil Personal fehlt, arbeite ich mindestens 50 Stunden pro Woche, obwohl ich mich selbst trotz großer eigener Schutzvorkehrungen wieder infiziert habe und seitdem unter Kopfschmerzen und chronischer Erschöpfung leide. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen wechseln den Beruf. Es herrscht in jedem Wohnheim Personalmangel.“

Ausführlich sprach die World Socialist Web Site mit Frank, einem Krankenpfleger in Nordrhein-Westfalen, der bei einem kirchlichen Träger angestellt ist und ebenfalls das Aktionskomitee Pflege unterstützt. „Was Verdi vorgelegt hat, ist ein Witz“, sagt er. „Ich weiß nicht, wie sie es geschafft haben, ihren Mitgliedern das zu verkaufen. Eigentlich müsste es ‚Tarifvertrag Verschieben der Belastung‘ heißen, denn man schiebt einfach die Belastung von einem zum anderen, hin und her. Entlastung geht nur über mehr Personal: Wenn du nicht da bist, müssen die anderen das auffangen und umgekehrt.“

Die permanente Überlastung hat verheerende Folgen, berichtet Frank: „Am Ende sind alle krank, das ist ein Teufelskreis. Keiner fragt, warum wir Pflegekräfte krank werden. Niemand bleibt zuhause, weil er oder sie keine Lust hat. Es ist eine Kombination aus physischer und psychischer Belastung. Dazu kommt die Verantwortung. Ich habe teilweise 30 Monitorplätze, die ich überwachen muss, auch die Ärzte sind überlastet. Das ist natürlich schlecht für die Patienten. Schon heute gibt es Mindestbesetzungszahlen und Personaluntergrenzen, sie werden aber regelmäßig unterschritten oder von der Pflegedienstleitung kaschiert. Ein Mindeststandard auf dem Papier nützt nichts, wenn man nicht genug Personal hat. Mehr Personal bekommt man aber nur durch bessere Bezahlung.“

„Warum wurde darüber nicht mit den Arbeitgebern verhandelt?“, fragt Frank. „Ich vermute, dass sie sich vorher schon mit ihnen geeinigt haben. Die Unikliniken sind auch nur ein Bruchteil der Pflege. Was ist mit den anderen Krankenhäusern und den Pflegeeinrichtungen? Dort ist die Belastung oft noch größer. Auch die ambulante Pflege ist schlecht bezahlt und unterbesetzt. Wenn jemand bei uns austherapiert ist, finden wir kaum Pflegedienste, die bereit sind, einen Patienten zu übernehmen. Wer aber seine Angehörigen privat pflegt, hat in der Regel keine Ausbildung und kann das nicht stemmen. Man braucht dafür professionelles Personal.“

Das von Verdi und den Arbeitgebern vorgesehene Punktesystem schaffe inmitten der Pandemie erneut „Potential für Ungleichempfinden“, sagt Frank: „Das hat schon mit den Corona-Prämien begonnen. Obwohl die Mehrbelastung nicht nur intensivmedizinisches Personal betroffen hat, sondern im ganzen Haus verteilt war, spricht niemand mehr von einer Corona-Prämie für Pflegende. Wir haben jetzt wieder sehr viele Patienten mit leichten, mittleren und schweren Verläufen und auch Tote. Unsere Corona-Station ist immer an der Auslastungsgrenze.“

Gerade in der Covid-19-Pandemie habe der Personalmangel seine tödliche Konsequenz gezeigt: „Die Isolations- und Schutzmaßnahmen für die infektiösen Patienten bedeuten einen enormen Mehraufwand. Auch eine Dreifachimpfung bietet keinen hundertprozentigen Schutz, besonders wenn man mehrfach vorerkrankt ist. Wir müssen uns mit Schutzkleidung und Haube doppelt vermummen und sind bei der Hitze nur am Schwitzen. Das kommt alles ‚on top‘, ohne dass wir mehr Personal erhalten.“

„Dass die Regierung die Maßnahmen aufgehoben hat, ist bedrohlich. Wenn wir jetzt im Sommer schon so eine Welle haben, kann man nur ahnen, worauf wir im Herbst zusteuern. Vielleicht ist das auch eine Überlegung der Durchseuchung, dass man das Pflege- und Rentensystem ‚entlastet‘. Es passiert genau das Gegenteil davon, was die ‚Querdenker‘ sagen: Der Staat will, dass sich das Virus ausbreitet und genug alte und kranke Menschen sterben. Deshalb wurden alle Corona-Maßnahmen aufgehoben.“

Es handle sich um dieselben kapitalistischen Motive, die auch der Kriegspolitik zugrunde liegen, erklärt Frank: „Mit einem Fingerschnipsen werden jetzt 100 Milliarden der Bundeswehr zur Verfügung gestellt. Dabei geht es längst nicht nur um den Krieg in der Ukraine, sondern um das eigene Militär. Wenn man will, ist Geld anscheinend locker vorhanden. Im Kapitalismus ist Krieg eines der lohnendsten Geschäfte: Ganz abgesehen davon, dass Absatzmärkte und Ressourcen erschlossen werden, muss hinterher alles wieder aufgebaut werden.“

Dann betont er:

Wenn man den Streik begrenzt, können die Arbeitgeber es noch handlen. Dann wird das Problem ausgelagert und andere Häuser müssen es auffangen. OPs werden verschoben und Patienten leiden. Andere müssten für uns mitstreiken. Als die Mitarbeiter vom Flughafenpersonal gestreikt haben, wäre das möglich gewesen. Keine Industriegewerkschaft wird sagen: Wir streiken jetzt auch für die Pflegekräfte. Aber genau das wäre nötig. Es müsste ein Generalstreik stattfinden wie in anderen Ländern, um allgemeine Forderungen durchzusetzen.

Ich bin der Meinung, dass Gewerkschaften ihre eigenen Interessen haben – und das sind nicht unsere Interessen. Als die Medizin vor dreißig Jahre privatisiert wurde, haben sich die Gewerkschaften dem nicht entgegengestellt. Sie wollen Konflikte minimieren und dämpfen, anstatt die Kraft der Bewegung zu nutzen, um Interessen durchzusetzen. Es gab schon oft Berichte darüber, dass Gewerkschaftsfunktionäre vom Management in den Urlaub eingeladen wurden oder Schlimmeres – und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Ich kann mir gut vorstellen, dass so etwas häufiger stattfindet.

Die Aktionskomitees werden von Leuten aufgebaut, die selbst in der Pflege arbeiten. Ich finde ihre Forderungen genau richtig. Die Interessen der Basis müssen durchgesetzt werden. Und diese Interessen können nur von denen vertreten werden, die das auch täglich erleben. Ich weiß nicht, wie viele Verdi-Unterhändler noch in der Pflege arbeiten. Das wichtigste ist eine höhere Bezahlung aller an der Pflege beteiligten Menschen, damit dadurch mehr Personal gewonnen und die Belastung verringert wird. Das umfasst auch Service- und Transportarbeiter in jeder Einrichtung.

Das geht nur, wenn Pflege nicht profitorientiert geleitet wird. Die Feuerwehr muss auch nicht nachweisen, dass sie Profit erwirtschaftet. Gesundheit sollte unser höchstes Gut sein, aber das Grundübel des Kapitalismus ist der Profit. Es ist in der Wirtschaft schon schlimm genug, dass viele den Profit für wenige erarbeiten. Im Gesundheitssystem ist es aber erst recht dramatisch, weil es dort direkt um Leben und Gesundheit geht. Medizin kann ein lohnendes Geschäft sein: Für die Pharmaindustrie und die Medizintechnik – aber nicht für die Patienten. Das ist nicht nur in Deutschland ein Problem, sondern weltweit.

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