Perspektive

Zwischen US-Eisenbahnern und Biden-Regierung bahnt sich entscheidende Auseinandersetzung an

Weniger als eine Woche vor dem Stichtag am 16. September, ab dem ein landesweiter Streik der Eisenbahner legal beginnen kann, braut sich ein Konflikt zwischen den US-Eisenbahnern auf der einen und den Unternehmen, der Biden-Regierung und dem Gewerkschaftsapparat auf der anderen Seite zusammen.

Die Unterstütztung unter den 100.000 Eisenbahnern für einen Streik ist überwältigend. Im Juli stimmten die Lokführer mit 99,5 Prozent für einen Streik. Doch es ist nicht nur eine Frage des Willens. Die Arbeiter haben schlicht keine andere Wahl. Es ist unmöglich, dass sie weiterhin 80 oder gar 100 Stunden pro Woche arbeiten und rund um die Uhr auf Abruf stehen.

Das brutale Arbeitsregime in der Bahnbranche, die profitabler ist als jede andere, führt dazu, dass die Beschäftigten in ihren eigenen Familien zu Fremden werden. Es bleibt nicht einmal mehr die Zeit, um Arzttermine wahrzunehmen. Jetzt wehren sich die Arbeiter dagegen, dass die von Biden ernannte Schlichtungsstelle Presidential Emergency Board (PEB) eine Zwangseinigung durchsetzt, die den Forderungen der Arbeiter nicht annähernd gerecht wird.

Die Kollision eines Güterzugs der Gesellschaft Union Pacific mit stehenden Güterwagen in Südkalifornien am Donnerstag, bei der zwei Lokführer getötet wurden, rief erneut auf tragische Weise die unerträglichen Bedingungen in Erinnerung, die die Arbeiter ein für alle Mal zu beenden entschlossen sind. Allein bei der Union Pacific stieg die Zahl der Todesopfer damit innerhalb von nur 10 Tagen auf drei.

Die Gewerkschaftsfunktionäre haben verzweifelt versucht, einen Streik zu verhindern und die Autorität des PEB gegen den Widerstand der Arbeiter durchzusetzen. Mit einer Strategie nach dem Motto „Teile und herrsche“ haben fünf kleinere Gewerkschaften schon vorläufige Vereinbarungen nach dem Muster des PEB angekündigt und den Verhandlungszeitraum, in dem keine Streiks stattfinden, freiwillig bis zum Ende des Monats verlängert.

In den Chefetagen der Unternehmen wächst jedoch die Befürchtung, dass die Gewerkschaften möglicherweise nicht in der Lage sind, die Arbeit zu leisten, die von ihnen erwartet wird. Letzte Woche schaltete sich die Regierung Biden über die Nationale Schlichtungsstelle ein, die Gewerkschaftsvertreter zu dreitägigen Schlichtungsgesprächen nach Washington zurückrief, an denen auch Arbeitsminister Marty Walsh teilnahm.

Es handelt sich bei diesen Gesprächen nicht um „Verhandlungen“, sondern um eine Verschwörung aus den Bahnunternehmen, den Gewerkschaften und der Regierung, um einen Tarifvertrag durchzusetzen, bevor die Auseinandersetzung an einen Punkt gelangt, an dem der Kongress eingreifen würde.

Laut anonymen Quellen, die mit der Branchenzeitschrift Railway Age sprachen, habe Arbeitsminister Walsh am ersten Tag der Gespräche ein Machtwort gesprochen: „Auch wenn sie nicht die Öffentlichkeit erreichte, war Walshs Botschaft laut einigen Anwesenden deutlich“, so die Quelle. „Legt euch jetzt, wo wir nur wenige Wochen vor den Zwischenwahlen stehen, nicht mit der fragilen Wirtschaft des Landes an, denn das wird weder dem Kongress noch der Regierung Biden gefallen.“

Die Gespräche erfolgen fast drei Jahren, nachdem der letzte Vertrag endete. In dieser Zeit wurden das arbeiterfeindliche Gesetz Railway Labor Act und andere juristische Mechanismen eingesetzt, um eine einstweilige Verfügung nach der anderen und endlose Vermittlungs- und Schlichtungsrunden durchzusetzen.

Die Gewerkschaften haben von Anfang an sowohl als Befürworter als auch als Vollstrecker dieses Prozesses fungiert und den Arbeitern sogar mit rechtlichen Schritten gedroht, falls sie gegen die Unterlassungsanordnungen verstoßen. Der kapitalistische Staat, der keineswegs die „neutrale Instanz“ ist, als den ihn die Gewerkschaften darstellen, hat dieses Verfahren jahrzehntelang zuverlässig eingesetzt, um den Arbeitern eine Runde staatlich sanktionierter Zugeständnisse nach der anderen abzunötigen und sie gleichzeitig ihres demokratischen Rechts auf Streiks zu berauben.

Doch stecken dieses Mal sämtliche Institutionen, auf die sich die herrschende Klasse bei der Unterdrückung der Arbeiter so lange verlassen hat, in der Krise, während die Arbeiterklasse gleichzeitig durch die tiefste Krise des amerikanischen und globalen Kapitalismus seit einem Jahrhundert in den Kampf getrieben wird.

Die Aufgabe, den Kampf der Eisenbahner zu entwickeln, wirft grundlegende politische und organisatorische Fragen auf:

Erstens müssen die Arbeiter die notwendigen Schlüsse aus der Rolle des Gewerkschaftsapparats ziehen, der mit den Unternehmen und dem Staat aufs Engste verbunden ist.

Der Präsident der Branchengewerkschaft Smart TD, Jeremy Ferguson, appellierte in einem Brief an die Zugbegleiter, sie sollten die wirtschaftlichen Folgen eines Streiks bedenken. Er hatte dabei wohl vor allem die Kassen der Bürokratie im Sinn, aus denen 100 Dollar pro Tag an Streikgeld an die Mitglieder zu zahlen wären. Ferguson selbst streicht über 300.000 Dollar im Jahr ein und steht einer Organisation vor, die über ein Vermögen von über 330 Millionen Dollar verfügt, das größtenteils in Unternehmensaktien angelegt ist. Im letzten Jahr gingen 17 Millionen Dollar aus diesem Vermögen als Gehälter an die Funktionäre. Für Streikgelder wurden null Dollar aufgewendet. Diese Bilanz legt die finanziellen und sozialen Interessen offen, die hinter der Feindseligkeit der Bürokratie gegenüber die Arbeiter stehen.

Nachdem die Gewerkschaften jahrzehntelang den Klassenkampf bürokratisch unterdrückt haben, sind sie diskreditiert und sehen sich mit einer wachsenden Rebellion ihrer einfachen Mitglieder konfrontiert. Ein besonders kraftvoller und bewusster Ausdruck dieser Entwicklung ist die Kampagne des Mack-Trucks-Arbeiters Will Lehman für das Amt des Präsidenten der Gewerkschaft United Auto Workers. Will setzt sich dafür ein, dass die Gewerkschaftsbürokratie abgeschafft wird und die Arbeiter die Dinge durch den Aufbau von Aktionskomitees selbst in die Hand nehmen.

Die Eisenbahner haben den entscheidenden Schritt bereits getan, indem sie das Railroad Workers Rank-and-File Committee (Aktionskomitee der Eisenbahnarbeiter) gegründet haben. Die Gründung des Komitees fand starke Resonanz: Hunderte von Arbeitern haben sich schriftlich gemeldet, um beizutreten und sich im Komitee zu engagieren.

Zweitens entlarvt das Eingreifen der Biden-Regierung den Klassencharakter des Staates, ganz unabhängig davon, ob dieser von einem Demokraten oder einem Republikaner geführt wird.

Die Biden-Regierung erklärt regelmäßig, dass sie die „gewerkschaftsfreundlichste Regierung in der amerikanischen Geschichte“ sei. Damit sollte stets der Eindruck erweckt werden, dass Biden ein Verbündeter der Arbeiter sei, während er in Wirklichkeit die Gewerkschaften stark unter Druck setzt, damit sie Streiks unterdrücken und den massiven Abbau von Löhnen und Rechten der Arbeiter erzwingen. Bidens Einmischung in den Kampf bei der Bahn ist nur die jüngste in einer Reihe derartiger Kampagnen in wichtigen Branchen, zu denen auch die Docks und die Raffinerien gehören. Wenn Biden und die Demokraten gezwungen wären, einen Bahnstreik zu unterdrücken, würde dies nicht nur Bidens Doppelzüngigkeit entlarven. Ein Streik würde auch seine Versuche gefährden, Arbeitsdisziplin in anderen kritischen Sektoren durchzusetzen.

Ein landesweiter Bahnstreik würde sich explosionsartig mit der wachsenden politischen Krise in den Vereinigten Staaten überschneiden – der tiefsten seit dem Bürgerkrieg. Ungeachtet ihrer Differenzen sind sich Demokraten und Republikaner einig in ihrer Verteidigung der herrschenden Klasse und ihrem Beharren darauf, der Arbeiterklasse die volle Last einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise aufzubürden.

Drittens gibt es eine enorme Unterstützung für die Eisenbahner – sowohl in der amerikanischen als auch in der internationalen Arbeiterklasse. Überall kämpfen die Arbeiter gegen ein brutales Ausmaß an Mehrarbeit, die steigenden Lebenshaltungskosten und die katastrophale Zahl der Todesopfer durch die Pandemie. Die Kämpfe der Beschäftigten im Gesundheitswesen, der Automobilindustrie und im Dienstleistungssektor, der Erzieher und anderer Teile der Arbeiterklasse nehmen zu.

Im Bahnsektor kam es Anfang des Jahres zu Aussperrungen bei der Gesellschaft Canadian Pacific sowie zu einer Reihe von landesweiten Bahnstreiks in Großbritannien, den ersten seit Generationen.

Die Arbeiter sind zudem mit korrupten Gewerkschaftsbürokratien konfrontiert, die aufs Engste mit dem Staatsapparat verbunden sind. In Großbritannien nutzte die Gewerkschaft RMT (National Union of Rail, Maritime and Transport Workers), die die Streiks bei der Bahn auf jeweils nur wenige Tage beschränkt hat, den Tod der Queen, um bereits geplante Streiks am 15. und 17. September abzusagen. Es besteht kein Zweifel daran, dass einer der Hauptfaktoren, der dem Vorgehen der Gewerkschaft zugrunde liegt, die Tatsache war, dass diese Streiks eine aufrüttelnde Wirkung auf die Arbeiter auf beiden Seiten des Atlantiks gehabt hätten. In den USA wäre zu diesen Zeitpunkten die Verhandlungsphase zu Ende gegangen, wodurch Streiks auch rechtlich wieder möglich gewesen wären.

Die Arbeiterklasse ist auf dem Vormarsch und zeigt sich als die stärkste Kraft in der Gesellschaft.

Diese Kraft muss jedoch eine organisierte und programmatische Form finden. Aus diesem Grund haben die World Socialist Web Site und das Internationale Komitee der Vierten Internationale den Aufbau der International Workers Alliance of Rank-and-File Committees (IWA-RFC) initiiert.

Vor allem aber wirft der Bahnkampf die Frage der politischen Macht auf. Die Arbeiter sind in ihrem Kampf nicht nur mit den Bahnunternehmen, sondern ebenso mit dem kapitalistischen Staat konfrontiert, der für die Profitinteressen einer kleinen kapitalistischen Minderheit gegen die Arbeiter interveniert. Die Arbeiter müssen den Kampf für den Sozialismus aufnehmen, der für die Umgestaltung der Gesellschaft durch die Arbeiterklasse im Interesse der menschlichen Bedürfnisse und nicht des privaten Profits steht.

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