[TEIL EINS] [TEIL ZWEI] [TEIL DREI] [TEIL VIER] [TEIL FÜNF] [ZEITLEISTE]
Dies ist der erste von fünf Teilen einer Rezension von Timothy Snyders Buch Bloodlands. Eine begleitende Zeitleiste informiert über wichtige geschichtliche Hintergründe.
Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich alle Seitenangaben auf Timothy Snyder, Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin, 6., erweiterte Auflage, Verlag C. H. Beck, 2022.
Einleitung
Im April 2022 veröffentlichte Basic Books eine zweite englischsprachige Auflage von Timothy Snyders Buch Bloodlands aus dem Jahr 2010 und bewarb es als „unverzichtbaren historischen Hintergrund für den Krieg in der Ukraine“. Die gewichtige Rolle, die Snyder bei der Rechtfertigung des imperialistischen Stellvertreterkriegs gegen Russland in der Ukraine und des Bündnisses des US-Imperialismus mit der ukrainischen extremen Rechten spielt, macht eine genaue Untersuchung des Werks zwingend notwendig.
Seit Beginn des Krieges im Februar 2022 ist Snyder unzählige Male im Fernsehen aufgetreten, hat mehrere Artikel in der New York Times und der New York Review of Books veröffentlicht und auf zahlreichen wissenschaftlichen Veranstaltungen gesprochen. In seinen Auftritten, Twitter-Threads und anderen Texten hat er die imperialistische Kriegspropaganda der USA gegen Russland mit Geschichtsverzerrungen und -lügen unterfüttert, von falschen Behauptungen über einen „Völkermord“ bis hin zu einem angeblichen „Hungerplan“ Putins und der Existenz eines „faschistischen Regimes“ in Russland. Wie die WSWS dokumentiert hat, hat er in seinen Twitter‑Threads immer wieder versucht, die Rolle der ukrainischen Faschisten in der heutigen ukrainischen Politik und Armee und bei der Vernichtung von 900.000 ukrainischen Juden während des Holocausts im Zweiten Weltkrieg zu leugnen oder kleinzureden.
Der größte Teil von Snyders aktueller Kriegspropaganda stützt sich auf Bloodlands. Eine zentrale Aussage des Buches ist, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus in Europa eine Reaktion auf die Verbrechen Stalins in der Sowjetukraine in den Jahren 1932-1933 waren, mit denen „das Zeitalter des europäischen Massenmords begann“ (S. 9), und auf den „nationalen Terror“, den Stalin 1937-1938 angeblich gegen die Polen in der Sowjetunion ausübte.
Laut Snyder geht es ihm in Bloodlands vor allem um die 14 Millionen Menschen, die „das NS- und das Sowjet-Regime“ in Osteuropa ermordeten. Doch seine Aufmerksamkeit gilt nur den von ihm so bezeichneten „Bloodlands“, die sich „von Zentralpolen bis Westrussland, einschließlich der Ukraine, Weißrusslands und der baltischen Staaten“ erstrecken; während er den größten Teil der ehemaligen Sowjetunion willentlich ausklammert. (S. 9)
Der Leser erhält keine schlüssige Erklärung, warum Snyder sich einzig auf diese „Bloodlands“ konzentriert und einen Großteil der ehemaligen Sowjetunion nicht berücksichtigt. Snyder zaubert einfach eine neue geografische Kategorie aus dem Hut, ohne dies historisch zu rechtfertigen.
Wir erfahren auch nicht, warum mit der Hungersnot in der Sowjetukraine von 1932-1933 auf einmal das „Zeitalter des europäischen Massenmords“ begonnen haben soll. Warum nicht mit dem Ersten Weltkrieg von 1914-1918, in dem mindestens 20 Millionen Menschen getötet wurden, und der sowohl zur Oktoberrevolution als auch zum Aufkommen faschistischer Bewegungen in ganz Europa führte? Snyder ignoriert auch die Tatsache, dass allein im Zweiten Weltkrieg mindestens 27 Millionen Sowjetbürger ums Leben kamen, fast die doppelte Zahl derer, auf die sich Snyder fokussiert. Während Snyder über zwölf Millionen Opfer des Nationalsozialismus in der ehemaligen Sowjetunion nicht berücksichtigt, besteht er darauf, dass „Stalins eigenes Massenmordregister fast ebenso lang [war] wie das Hitlers. In Friedenszeiten war es sogar länger.“ (S. 12)
Man kann die Bedeutung dieser Behauptungen nur in ihrem breiteren historischen und politischen Kontext verstehen. Timothy Snyder greift mit diesen Argumenten im Wesentlichen die Positionen des rechtsextremen deutschen Historikers Ernst Nolte auf. Seit 1980 argumentierte Nolte, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus, einschließlich des Holocausts, ihre Ursache in der „Gewalt“ der russischen Revolution von 1917 hatten. Nolte sprach ausdrücklich von einem „kausalen Nexus“ zwischen der russischen Revolution und dem Nationalsozialismus. Er betonte, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus nur verstanden werden konnten als „die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der Russischen Revolution“. Diese „Vernichtungsvorgänge“ waren laut Nolte der Klassenkampf des bolschewistischen Regimes gegen die Bourgeoisie und später gegen die Bauern in der Zwangskollektivierung, die Ende der 1920er Jahre begann. Sie waren, so Nolte, das „Original“, die des Nationalsozialismus „eine verzerrte Kopie“. Die russische Revolution war seiner Meinung nach die „wichtigste Vorbedingung“ für das Naziregime [1].
Noltes Behauptungen lösten den sogenannten Historikerstreit aus. Die überwältigende Mehrheit der deutschen Historiker widersprach Nolte und wies seine Positionen zurück. Nach dem Historikerstreit beschränkte sich Noltes Karriere weitgehend auf Vorträge in offen rechtsextremen und neofaschistischen Kreisen. Sich auf Nolte zu berufen, kam dem Eingeständnis einer politischen und intellektuellen Affinität zum Faschismus gleich.
Im Nachwort zur Neuauflage seines Buchs räumt Snyder ein, Noltes „Schatten [hing] über meinem deskriptiveren und empirischeren Projekt“. Ohne Noltes zentrale Thesen zurückzuweisen, die er beiläufig als „eine Reihe von Verbindungen zwischen der Sowjetunion und dem NS-Regime“ bezeichnet, kritisiert Snyder den rechtsextremen Revisionisten dafür, dass er sie „ohne sprachliche Kenntnisse oder eine Quellengrundlage“ aufgestellt habe. Snyder prahlt: „Im Gegensatz zu Nolte beherrschte ich osteuropäische Sprachen (neben Deutsch und Französisch und so weiter), benutzte osteuropäische Quellen und behandelte Interaktion als eine Hypothese, die zu überprüfen war, statt als wolkige Dialektik.“ (S. 418)
Wie diese Besprechung zeigen wird, präsentiert Snyder mit Bloodlands kein „empirisches“ Projekt, nicht einmal „Geschichte“ im recht verstandenen Sinne. Snyder nutzt sein Ansehen als Professor an der Yale University, eine der führenden Eliteinstitutionen der Welt, um einige der wichtigsten historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auf eine Weise zu präsentieren, die auf Halbwahrheiten, Lügen, Verzerrungen und Horrorgeschichten beruht. Dabei geht es ihm insbesondere darum, Noltes Rechtfertigung des Faschismus wieder salonfähig zu machen, mit Änderungen und Ergänzungen, die vor allem aus dem ideologischen Arsenal der polnischen und ukrainischen extremen Rechten stammen.
Teil 1: Die falsche Darstellung der sowjetischen Hungersnot als „vorsätzlicher“ Massenmord
Der sowjetischen Hungersnot von 1931-1933 fielen schätzungsweise 7 Millionen Menschen zum Opfer, davon etwa die Hälfte in der Sowjetukraine. Selbst wenn man den Ural, Sibirien und den Fernen Osten ausklammert, die ebenfalls von der Hungersnot betroffen waren, lebten über 70 der 160 Millionen Menschen in der UdSSR in Hungergebieten; zu diesen zählten auch die Sowjetrepublik Kasachstan und die Sowjetukraine sowie die unteren und mittleren Wolgagebiete, die Zentrale Schwarzerde-Region und der Nordkaukasus.[2]
Snyder gibt zwar freimütig zu, dass „die Kollektivierung überall in der Sowjetunion eine Katastrophe war“ (S. 63), befasst sich jedoch nahezu ausschließlich mit der Hungersnot in der Sowjetukraine. Er behauptet, „die Beweise für einen geplanten Massenmord von Millionen Menschen [sind] in der Ukraine am klarsten... In Teilen Russlands hatte 1932 ebenso Hungersnot geherrscht wie in großen Teilen der Ukraine. Dennoch war die politische Reaktion auf die Ukraine eine besondere und mörderische.“ (S. 63, Hervorhebung hinzugefügt)
Durch das gesamte Buch stellt Snyder die Hungersnot auf eine Stufe mit der Tötungspolitik der Nazis und behauptet, dass sie Letzteren als Inspiration diente. In Anlehnung an Noltes Behauptung, dass die Verbrechen der Nazis eine „Kopie“ der Verbrechen des Stalinismus waren, schreibt er: „Es hilft, wenn man weiß, dass NS-Planer wussten, dass die Sowjetpolitik 1933 eine schreckliche Hungersnot erzeugt hatte, denn dann verstehen wir, dass sie dasselbe anstrebten.“ (S. 416)
Snyder ist zwar darauf bedacht, für die Hungersnot in der Sowjetukraine den Begriff „Völkermord“ zu vermeiden, deutet aber an, dass dies angemessen sei. So bemerkt er: „Der Völkerrechtler Raphaeł Lemkin, der später den Begriff ‚Genozid‘ prägte, nannte den Fall der Ukraine ‚das klassische Beispiel eines sowjetischen Genozids‘.“ (S. 74)
Allerdings präsentiert Snyder kein einziges Dokument, das die Absicht der sowjetischen Führung belegt, eine große Zahl von Menschen oder Ukrainer im Besonderen zu töten. Dies stellt jedoch die notwendige Voraussetzung dar, um die äußerst schwerwiegende Anschuldigung und historische Bewertung eines „Völkermords“ nach der Definition der Vereinten Nationen zu untermauern. Es muss betont werden, dass es für die nationalsozialistische Politik des Massenmords an den europäischen Juden und einigen anderen Opfergruppen, wie auch für Stalins Großen Terror von 1936-1938 zahlreiche Dokumente gibt, die die Absicht zu töten belegen.
Snyder zitiert keine solchen Dokumente, weil es sie nicht gibt. Obwohl im Zuge der Öffnung der Archive der ehemaligen Sowjetunion seit 1991 zahlreiche Dokumentensammlungen und historische Studien zu diesem Thema veröffentlicht wurden, fand sich kein einziges Dokument, das auf eine Absicht der sowjetischen Führung hindeutet, eine große Anzahl von Menschen zu töten, schon gar nicht auf ethnischer Basis. Die Hungersnot war das Ergebnis einer verbrecherischen Politik, aber diese Politik war von ganz anderer Art als der Völkermord, den das NS-Regime am europäischen Judentum verübte.
Die russische Revolution und die sowjetische Gesellschaft in den 1920er Jahren
Ein Verständnis der sowjetischen Hungersnot erfordert, sie in ihrem historischen Kontext – der Entwicklung der Sowjetunion und der Entstehung des Stalinismus – zu untersuchen. Diesen Analyseansatz lehnt Snyder jedoch ab. Soweit er die historischen Hintergründe der Hungersnot überhaupt thematisiert, ergeht er sich in antikommunistischen Ausbrüchen, abfälligen Bemerkungen und Halbwahrheiten.
Snyder unterstellt, dass die stalinistische Politik, die die Hungersnot verursachte, in der Revolution von 1917 und im Marxismus angelegt war und brandmarkt die Oktoberrevolution als einen Putsch, den Lenin mit deutschem Geld organisierte. Die Bolschewiki, schreibt er, strebten „die Beherrschung von Bauern und Nationalitäten“ an, sie waren „die Feinde ihrer eigenen Völker, ob diese nun durch Klassen oder Nationalitäten definiert wurden. Sie glaubten, die Gesellschaft, die sie regierten, sei historisch überholt, ein Lesezeichen, das man entfernen müsse, bevor eine neue Seite aufgeschlagen werde.“ (S. 32)
Das ist nicht Geschichtswissenschaft, sondern eine politische Tirade. Snyder macht nicht einmal den Versuch, seine Behauptungen zu belegen, wie es die Pflicht jedes Historikers ist. Weder erwähnt noch widerlegt er die Erkenntnis der historischen Forschung, dass die Bolschewiki, nachdem sie das politische Vertrauen der Arbeiterklasse und von Teilen der Bauernschaft gewonnen hatten, durch eine soziale Revolution an die Macht kamen[3].
Auch für den Vorwurf, die Bolschewiki seien „Feinde ihres eigenen Volkes“ gewesen, gibt es keine historischen Belege. In Wirklichkeit führte die frühe bolschewistische Regierung anfangs die wohl radikalsten demokratischen und sozialistischen Maßnahmen aller Regierungen der Weltgeschichte durch. Nach der Machtübernahme in Petrograd beendete die revolutionäre Regierung unter bolschewistischer Führung sofort Russlands Beteiligung am Ersten Weltkrieg und gewährte den unterdrückten Nationalitäten des Zarenreichs volle demokratische Rechte – einschließlich des Rechts auf nationale Selbstbestimmung. Die Großgrundbesitzer wurden enteignet und der Boden verstaatlicht.
Die Sowjetregierung verstaatlichte auch die großen Banken und den größten Teil der Schwerindustrie und des Transportwesens, annullierte die Auslandsschulden und führte ein Außenhandelsmonopol ein, das sicherstellte, dass das internationale Privatkapital die Grundlagen des neu geschaffenen Arbeiterstaates und seiner Wirtschaft nicht untergraben konnte. Der Achtstundentag wurde eingeführt, und die Sowjetunion baute trotz ihrer relativen Armut ein Sozial- und Gesundheitssystem auf, das zu den fortschrittlichsten der Welt zählte.
Die Errungenschaften der Revolution wurden in einem fast vierjährigen Bürgerkrieg, in dem die Rote Armee unter der Führung von Leo Trotzki die Oberhand behielt, gegen imperialistische Interventionsarmeen und nationalistische Kräfte auf einen großen Teil des ehemaligen Russischen Reiches ausgedehnt, darunter auch auf den östlichen Teil der heutigen Ukraine. In diesen Bürgerkriegsjahren brachen in Deutschland (1918-19), Ungarn, der Slowakei und Bulgarien Revolutionen und Aufstände aus. Doch entgegen den Erwartungen der Bolschewiki gelang es der Arbeiterklasse nicht, in anderen Ländern die Macht zu übernehmen – vor allem aufgrund des Verrats ihrer alten sozialdemokratischen Führung. Das Ende des Bürgerkriegs in den Jahren 1921-1922 fiel zusammen mit einem relativen Abebben der revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse auf internationaler Ebene.
Beide Faktoren zusammen, die internationale Isolation und die relative Rückständigkeit der sowjetischen Wirtschaft, erzeugten einen enormen sozialen und politischen Druck auf den noch jungen Arbeiterstaat und seine regierende Partei. Bereits während des Bürgerkriegs hatte sich eine Bürokratie herausgebildet, die nun einen stärkeren gesellschaftlichen und politischen Einfluss ausübte. Ende 1923 hatte eine scharfe Veränderung der internationalen politischen Lage – vor allem die fehlgeschlagene Revolution in Deutschland – dazu geführt, dass der internationalistische Flügel der Partei unter der Führung von Leo Trotzki in die Position einer Minderheitsopposition gegenüber der Mehrheitsfraktion um Josef Stalin geraten war, die den Interessen der entstehenden Bürokratie als Sprachrohr diente. Im Herbst 1924 formulierte diese Fraktion mit dem nationalistischen Programm des „Sozialismus in einem Land“ die sozialen Interessen der Bürokratie.
Snyder widmet dem sich entfaltenden Kampf innerhalb der bolschewistischen Partei nur wenige Absätze und lässt ihn enden, als „Trotzki das Land [verließ]“ (S. 34). Außerdem unterstellt Snyder, dass die Politik der Kollektivierung und Industrialisierung, die seiner Meinung nach zum „massenhaften Hungertod 1933“ führte, erst verfolgt wurde, als Stalin „die Politik seiner verdrängten Rivalen [der Linken Opposition] übernommen [hatte]“. (S. 34)
Diese Auslassungen und Halbwahrheiten machen es dem Leser unmöglich, die Hintergründe der Kollektivierung und der Hungersnot von 1930-1933 zu verstehen. Die Politik der Zwangskollektivierung wurde 1929 als Teil eines Fünfjahresplans beschlossen, der eine forcierte Industrialisierung der Sowjetunion und das Ende der im Frühjahr 1921 eingeführten Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) vorsah.
Snyder äußert sich zynisch zur NÖP, indem er behauptet: „Zunächst mussten die Bolschewiki den Aufbau des Kapitalismus betreiben“ (S. 32). Auch diese Charakterisierung ist falsch und erklärt nichts. Die NÖP machte in der Tat Zugeständnisse an den kapitalistischen Markt und die bäuerlichen Schichten im Sowjetstaat, denn anders hätte die bolschewistische Regierung die Unterstützung großer Teile der immer noch überwiegend ländlichen Bevölkerung verloren und die Wirtschaft unmöglich stabilisieren können.
Die Industrie blieb jedoch verstaatlicht und, darauf kam es an, die Gesamtkontrolle über die Wirtschaft lag weiterhin in den Händen des Arbeiterstaates. Der widersprüchliche und transitorische Charakter der sowjetischen Wirtschaft waren untrennbar mit den objektiven Problemen verbunden, mit denen die Revolution in Russland konfrontiert war.
Das ehemalige Russische Reich, ein wirtschaftlich relativ rückständiges Land, war zum ersten Land geworden, in dem die Arbeiterklasse die Staatsmacht ergreifen und die sozialistische Weltrevolution einleiten konnte. Doch die internationale Isolation der Revolution beraubte die sowjetische Wirtschaft nicht nur der dringend benötigten Technologien und anderer wirtschaftlichen Ressourcen, sie verstärkte und komplizierte auch die sozioökonomischen Beziehungen innerhalb der Sowjetunion. Snyder spricht zwar wiederholt von einem „Krieg gegen die Kulaken“ und Versuchen, „die Bauernschaft dem Staat unterzuordnen“, aber er versäumt es, seinen Lesern die Gesellschaft und Wirtschaft der Sowjetunion und die Frage der Bauernschaft sinnvoll zu erklären.
Ohne eine solche Analyse lassen sich die Ursprünge der Hungersnot in den frühen 1930er Jahren aber nicht verstehen.
Gerade wegen der verspäteten Entwicklung der russischen Wirtschaft, und weil es keine bürgerlich-demokratische Revolution gegeben hatte, waren viele der revolutionären Maßnahmen der sozialistischen Oktoberrevolution letztlich bürgerlicher und nicht sozialistischer Natur. Der Boden wurde verstaatlicht, wodurch der Staat die Macht erhielt, ihn zu verteilen und zuzuweisen. In der Praxis führte die revolutionäre Maßnahme, den Bauern Land zu geben, jedoch zu einer beträchtlichen Zunahme kleiner, in Privatbesitz befindlicher Betriebe. Die sowjetische Wirtschaft, wie sie sich in den 1920er Jahren entwickelte, umfasste sowohl einen „sozialistischen“ Sektor – die Schwerindustrie und das Transportwesen, die praktisch vollständig verstaatlicht waren – als auch einen „kapitalistischen“ Sektor, nämlich die Landwirtschaft, in der das Privatkapital immer noch eine große Rolle spielte. Der Einfluss des Privatkapitals wurde vor allem durch das Außenhandelsmonopol des Sowjetstaates in Schach gehalten, das direkte Handelsbeziehungen zwischen wohlhabenderen Bauern, Händlern und Unternehmen mit ausländischem Kapital verhinderte.
Die Politik der NÖP-Periode in den 1920er Jahren beschleunigte die zunehmende Differenzierung innerhalb der Bauernschaft, die sich in die am meisten verarmten Schichten, die so genannten Bednjaks, die Mittelbauern (Serednjaks) und die besser gestellten Bauern, die Kulaken genannt wurden, aufteilte.
Kollektivierung, die Hungersnot und die Position der Linken Opposition
Seit 1923 hatte sich die Linke Opposition dafür stark gemacht, vor allem die Industrialisierung voranzutreiben und die Schwerindustrie zu stärken, um das soziale und politische Gewicht der Industriearbeiter in der sowjetischen Gesellschaft zu erhöhen. Immer wieder warnte die Opposition, dass bürgerliche Schichten in der Bauernschaft Ausgangspunkt der Entstehung einer neuen Bourgeoisie und der Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse werden könnten, wenn es ihnen gelänge, direkte Handels- und politische Beziehungen zu Kapitalisten in den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern aufzubauen. Die Opposition bestand daher darauf, dass die Partei ihre Arbeit und Unterstützung auf dem Land auf die am meisten unterdrückten und verarmten Bauernmassen stützen müsse.
Die Stalin-Fraktion lehnte die Politik der Opposition ab. Ihr Cheftheoretiker Nikolai Bucharin argumentierte ausdrücklich gegen Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, die darauf bestand, dass die Widersprüche der sozialen Revolution in Russland nur durch die Ausdehnung der Revolution auf die Weltarena gelöst werden könnten. Bucharin behauptete, dass es möglich sei, die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiterklasse und der wohlhabenden Bauern miteinander in Einklang zu bringen, und dass die Sowjetunion den Sozialismus in einem Land „im Schneckentempo“ verwirklichen könne.[4] Diese Auffassungen bestimmten die Politik der Stalin-Fraktion, die die Entwicklung der sowjetischen Industrie ernsthaft untergrub und gleichzeitig die privilegiertesten Schichten der Bauernschaft stärkte.
Auf internationaler Ebene führte diese nationalistische und opportunistische Ausrichtung zur Unterordnung der revolutionären Bewegungen der Arbeiterklasse und der Bauern unter bürgerliche Kräfte, vor allem in China in den Jahren 1926-1927. Die daraus resultierenden Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland, England und China isolierten den Arbeiterstaat international noch mehr und festigten die Position der Bürokratie und ihrer politischen Fraktion in der Partei gegen den revolutionären linken Flügel der Partei.
Im Dezember 1927 wurde die Linke Opposition aus der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ausgeschlossen. Ihre Führer und viele ihrer Mitglieder wurden verhaftet und ins Exil geschickt. 1929 wurde Trotzki aus der UdSSR verbannt und fand zunächst auf der türkischen Insel Prinkipo Zuflucht.
Doch als die Bürokratie die Verfolgung ihrer marxistischen Gegner verschärfte, machten sich die negativen Folgen ihrer Wirtschaftspolitik bereits bemerkbar. Im Jahr 1928 traf die sowjetische Wirtschaft eine massive Getreidekrise, worauf das Regime eine Kehrtwende vollzog und zur Zwangsrequirierung von Getreide überging. Die erwünschten Ergebnisse blieben jedoch aus und es drohte eine allgemeine Hungersnot. Die stalinistische Führung reagierte auf diese verzweifelte Situation, indem sie im Jahr 1929 den Weg der Zwangskollektivierung einschlug. Kleine private Bauernhöfe, die noch immer die vorherrschende Form der sowjetischen Landwirtschaft waren, wurden im Eiltempo in landwirtschaftliche Genossenschaften (Kolchosen) oder verstaatlichte landwirtschaftliche Großbetriebe (Sowchosen) umgewandelt.
Wie die Politik der Bürokratie vor 1928-1929, so basierte auch die forcierte Industrialisierung und Kollektivierung auf der Vorstellung, dass der Sozialismus „in einem Land“ aufgebaut werden konnte, d. h., dass die sowjetische Bevölkerung und die reichen Rohstoffvorkommen alleine eine schnelle wirtschaftliche Entwicklung auf höchstem Niveau gewährleisten könnten. Dies war eine reaktionäre Selbsttäuschung. Weder Industrie noch Landwirtschaft der Sowjetunion befanden sich auch nur annähernd auf dem technologischen Niveau, um eine kollektivierte Landwirtschaft in großem Maßstab, die auch die industrielle Massenfertigung von modernen landwirtschaftlichen Geräten erforderte, einführen zu können.
Während die sowjetische Regierung den „Kulaken“ den „Krieg“ erklärte, traf die Kollektivierung die ärmsten Bauernhaushalte und die Haushalte der Mittelbauern, die häufig ebenfalls sehr klein und verarmt waren, am härtesten. Die bäuerlichen Haushalte mussten ihren Viehbestand an die Kolchosen abgeben, obwohl die überwältigende Mehrheit der Haushalte mit Tieren nur eine Kuh oder ein Schwein und zwei oder drei Schafe besaß.[5]
Diese Politik hatte vor allem zwei Auswirkungen: Erstens wurden die Tiere aus verschiedenen Haushalten nun unter oft unhygienischen Bedingungen in mangelhaften Schutzräumen und ohne ausreichend Futter zusammengepfercht. Tiere verhungerten daher in großer Zahl, und Epidemien breiteten sich unter dem Vieh und in der Bevölkerung aus. Zweitens schlachteten viele Bauern aus Protest gegen die Kollektivierung große Mengen ihrer Tiere. In der gesamten UdSSR ging der Bestand an Vieh und Schweinen bis 1933 um die Hälfte zurück. Erst 1958, eine ganze Generation später, hatte sich der sowjetische Vieh- und Schafbestand wieder erholt und den Stand von 1914 erreicht. [6] Die forcierte Kollektivierung der einzelnen bäuerlichen Betriebe zerstörte praktisch auch die etablierte Fruchtfolge und schädigte künftige Ernten.[7]
Schlechtes Wetter, das die sowjetischen Ernten 1931 und 1932 außergewöhnlich schlecht ausfallen ließ, verstärkte noch die Auswirkungen dieser verheerenden Politik. Ein Historiker schätzte, dass alles zusammen – Dürre, Regen und Schädlingsbefall – in den Jahren 1931 und 1932 mindestens 20 Prozent der Ernte vernichtete und „allein schon ausgereicht hätte, eine ernste Lebensmittelknappheit oder sogar eine Hungersnot zu verursachen“. Daher verringerten sich die Vorräte der Bauern erheblich, obwohl 1932 deutlich weniger Getreide beschlagnahmt wurde als in den Vorjahren.[8]
Die im Rahmen der Zwangskollektivierung ergriffenen Maßnahmen lösten nicht nur eine Hungersnot, sondern beinahe auch einen Bürgerkrieg auf dem Lande aus. 1930 erschütterten Aufstände verzweifelter und hungernder Bauern gegen die Requirierung von Lebensmitteln und die Kollektivierung weite Teile der Sowjetunion. Die Bürokratie reagierte auf die sozialen Massenunruhen mit brutaler Unterdrückung und Massendeportationen oft ganzer Bauernfamilien. Gleichzeitig begann sich die Hungersnot auch in den Städten auszubreiten, wo die Politik der schnellen Industrialisierung zu einem starken Wachstum der städtischen Arbeiterklasse führte. Ein erschreckender Rückgang des Lebensstandards und eine Hungersnot unter der städtischen wie der Landbevölkerung waren die Folge.
Die Katastrophe der Kollektivierung hatte über Jahrzehnte hinweg gravierende Auswirkungen auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion.
Zur horrenden Zahl von mindestens sieben Millionen Toten kam Mangelernährung, unter der mehrere Generationen leiden mussten, die Ausbreitung von Epidemien unter Menschen und Tieren und ein beispielloser Zusammenbruch des Viehbestands. In politischer Hinsicht versetzte die Kollektivierung dem politischen Ansehen des Sozialismus in der sowjetischen Bauernschaft und bei den unterdrückten Massen der ganzen Welt einen schweren Schlag.
Snyders Unterstellung, diese halsbrecherische und irrationale Politik, die nicht auf der sozioökonomischen Realität basierte, sei von der Linken Opposition vertreten und dann von Stalin „übernommen“ worden, verfälscht die historischen Fakten. Es stimmt zwar, dass die Linke Opposition für die Kollektivierung der bäuerlichen Haushalte als höhere wirtschaftliche Organisationsform gegenüber den vorherrschenden kleinbäuerlichen Betrieben eintrat, doch verstand sie diese Politik immer als einen Prozess, dessen Tempo notwendigerweise von der Gesamtentwicklung der sowjetischen Wirtschaft und einer viel höheren industriellen und auch landwirtschaftlichen Produktivität abhing. Im Jahr 1930 schrieb Trotzki:
Dieser [neue] Kurs [in der sowjetischen Wirtschaft] ist die Negation und das abenteuerliche Komplement des opportunistischen Kurses, der schon im Jahre 1923 und dann prononciert von 1926 bis 1928 vorherrschte. Der gegenwärtige Kurs ist nicht weniger gefährlich als der alte, ja, in mancher Hinsicht noch gefährlicher... Das ist im Grunde keine neue Theorie. Das ist die alte Theorie vom Sozialismus in einem Lande, umgestellt auf den „dritten Gang“. Früher lehrte man uns, im rückständigen Russland werde der Sozialismus „im Schneckentempo“ aufgebaut und der Kulak werde in den Sozialismus hineinwachsen.
Jetzt ist an die Stelle des Schneckentempos fast die Flugzeuggeschwindigkeit getreten. Der Kulak wächst nicht mehr in den Sozialismus hinein — bei solchem Tempo ist das gar nicht möglich —, sondern er wird einfach administrativ liquidiert.
Trotzki erläuterte dann die Politik der Opposition:
Immer wieder haben wir uns nachdrücklich gegen das Projekt ausgesprochen, „in kürzester Zeit“ eine nationale sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Kollektivierung und Industrialisierung sind für uns untrennbar mit der Weltrevolution verbunden. Die Probleme unserer Wirtschaft werden letzten Endes auf internationaler Ebene entschieden.[9]
Selbst als Trotzki bereits im Exil war und alle anderen führenden Oppositionellen im Gefängnis einsaßen, entwickelte die sowjetische Linke Opposition scharfe Analysen der sich anbahnenden Katastrophe. So forderten die inhaftierten Oppositionsführer im Dezember 1932 „ein Ende der Politik der vollständigen Kollektivierung“ und warnten vor dem Ausbruch eines Bürgerkriegs. Die Ursachen für das wirtschaftliche Desaster sahen sie zu Recht in der „mangelnden Berücksichtigung der materiellen Ressourcen“ durch die Bürokratie „und [ihrem Kurs], eine geschlossene, vom Weltmarkt isolierte Volkswirtschaft aufzubauen“, der eine „vollständige Missachtung des Planprinzips“ bedeute. Sie schrieben:
Die meisten [Getreide] produzierenden Regionen – der Ural und die Wolga, der Nordkaukasus und die Ukraine, die wichtigsten Kornkammern der Union – leben fast wie im Belagerungszustand. Erschießungen und Verbannungen von Kommunisten und Kolchosbauern werden zunehmend Teil des Systems und zu den Hauptmethoden der Getreidebeschaffung in den [Getreide] produzierenden Regionen der UdSSR... Wir müssen nicht nur den Landarbeitern, sondern auch breiteren Schichten der Bauernschaft klarmachen, dass die leninistische Opposition nie an den Irrsinn der totalen Kollektivierung geglaubt hat und nie der Illusion erlegen ist, man könne die Kulaken mit administrativen Methoden eliminieren.[10]
Diese Dokumente widerlegen Snyders Behauptung, die stalinistische Führung habe mit ihrer Politik der Kollektivierung und Industrialisierung die Politik der Linken Opposition und des Marxismus umgesetzt.
Snyder verzerrt die Ergebnisse der Geschichtsforschung
Das seit 1991 zu diesem Thema veröffentlichte umfangreiche Archivmaterial bestätigt im Wesentlichen die damalige Einschätzung der Linken Opposition. Zu den wichtigsten Untersuchungen gehören die Arbeiten der Historiker Stephen Wheatcroft und Robert W. Davies. Allein im ersten Kapitel seines Buchs verweist Snyder nicht weniger als 27-mal auf verschiedene ihrer Werke und erweckt damit den Eindruck, er würde seine Behauptungen über eine „Politik des vorsätzlichen Massenmords“ auf ihre Forschungen stützen.
Das ist weit von der Wahrheit entfernt. Davies und Wheatcroft gehören vielmehr zu den bekanntesten wissenschaftlichen Gegnern der Behauptung, die Hungersnot sei ein „Völkermord“ oder „vorsätzlicher“ Massenmord gewesen. Im Kapitel über die Hungersnot bezieht sich Snyder fast zwei Dutzend Mal auf ihren 2004 erschienenen Band Years of Hunger. Im Gegensatz zu Snyder erörtern Wheatcroft und Davies die Hungersnot jedoch nicht als ein ukrainisches Phänomen, sondern als Ereignis, das die gesamte Sowjetunion betraf und dem Zusammenwirken einer katastrophal falschen Politik mit dem Erbe einer rückständigen Landwirtschaft und schlechtem Wetter geschuldet war.
Doch Snyder verrät seinen Lesern nie, was Davies und Wheatcroft tatsächlich sagen. Viele Verweise auf deren Werk in Bloodlands sind außerdem irreführend.
So bezieht sich Snyder auf Years of Hunger als Beleg für seine schwerwiegende Behauptung, „Ärzte und Schwestern durften [in der Sowjetukraine] die Hungernden, die zu ihren Krankenhäusern kamen, weder behandeln noch ihnen etwas zu essen geben“ (S. 44). Davies und Wheatcroft schreiben aber nichts dergleichen. Auf der von Snyder angegebenen Seite gehen sie vielmehr auf die zweifellos grauenerregenden Entscheidungen der lokalen und zentralen Behörden ein, diejenigen zu bevorzugen, die in den Kolchosen bei der Lebensmittelverteilung arbeiten konnten. Sie zitieren eine „abschreckende Entscheidung des Zentralkomitees der ukrainischen Partei vom 31. März“ gegen Bauern in der Region Kiew, die wegen Hungers ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Krankenhausmitarbeiter wurden angewiesen: „Teilt alle stationär aufgenommenen Patienten in Kranke und Genesende ein und verbessert die Verpflegung der Letzteren erheblich, damit sie so schnell wie möglich zurück an die Arbeit entlassen werden können.“[11]
In einem anderen Fall bezieht sich Snyder auf dieses Buch, um zu behaupten, dass 1932 und 1933 in der Ukraine 2.505 Menschen wegen Kannibalismus verurteilt wurden. Die angeführte Seite nennt keine solche Zahl und erwähnt nicht einmal das Thema Kannibalismus. Ein anderes Mal gibt Snyder Wheatcroft und Davies als Quelle für seine Behauptung an, die Hungersnot habe sowohl in Kasachstan als auch in der Ukraine zu einer Verschiebung des „demografischen Gleichgewichts... zugunsten der Russen“ geführt. Auf der zitierten Seite in Years of Hunger (S. 316) ist keine Rede von demografischen Verschiebungen in der ethnischen Zusammensetzung der Sowjetukraine oder einer anderen Sowjetrepublik.[12]
Tatsächlich haben Davies und Wheatcroft in den letzten 30 Jahren einen Band nach dem anderen vorgelegt, darunter mehrere edierte Sammelbände von Archivdokumenten, die die Darstellung der Hungersnot als vorsätzlichen Massenmord an einer Ethnie insgesamt widerlegen.
In einem Aufsatz, den Snyder zwar zitiert, aber nie korrekt wiedergibt, prangerte Wheatcroft ausdrücklich die Versuche von Nolte und anderen an, „einen vereinfachenden Kausalzusammenhang zwischen der Repression und dem massenhaften Morden in der Sowjetunion und in Deutschland zu postulieren. Diese Behauptungen... beruhen in der Regel auf einem unzureichenden Verständnis der Komplexität dieser Phänomene, ungenauen Vorstellungen über ihr Ausmaß und einer unzureichenden Berücksichtigung ihrer Chronologie.“[13]
Wheatcroft unterschied zwischen dem vorzeitigen Tod von Menschen infolge einer katastrophalen Politik einerseits, und vorsätzlichen Tötungen andererseits. Während er die Massenexekutionen des stalinistischen Großen Terrors und Hitlers Völkermord am europäischen Judentum als vorsätzliche Tötungen bezeichnete, charakterisierte er die Todesopfer der Hungersnot zutreffend als Opfer einer katastrophal falschen Politik des stalinistischen Regimes, nicht aber als vorsätzlichen Massenmord.
Auch Davies ist bekannt dafür, dass er die „Völkermord“- Behauptung ablehnt. Er widerspricht Snyders Behauptungen mit der Feststellung, dass Stalin die sich ausbreitende Hungersnot „... als ein im Grunde normales bürokratisches Problem behandelte, verursacht durch die fehlerhaften Verteilungszahlen des Getreidebeschaffungsplans, und als Appell an die lokalen Führer, der Landwirtschaft ‚die nötige Aufmerksamkeit’ zu widmen“.
Davies kam zu dem Schluss, dass Stalins Korrespondenz mit Lazar Kaganowitsch, seinerzeit die zweitwichtigste Person im sowjetischen Politbüro, von Stalins Fokus auf der „Routinetätigkeit des Partei- und Staatsapparats“ zeugte, der „voll und ganz seinem Glauben an die Macht des Staats- und Parteiapparats und seinem Vertrauen in administrative Maßnahmen entsprach“.[14]
Diese Passage stellt eine vernichtende Anklage gegen die Bürokratie und ihr Oberhaupt dar, doch sie widerlegt auch die Behauptung, Stalins Politik sei vorsätzlicher Massenmord gewesen.
Snyders Nichteingeständnis, dass zwei der bekanntesten Experten der Hungersnot, die er wiederholt zitiert, seinen Behauptungen widersprechen, kann nicht als harmloser Fehler durchgehen. Auch sein obsessiver Fokus auf die Sowjetukraine und die unbegründeten Behauptungen über eine „vorsätzliche“ Politik des „Massenmords“ gegen die Ukrainer sind nicht nur das Ergebnis mangelhafter historischer Forschung.
Timothy Snyders Behauptung, die Hungersnot sei ein „vorsätzlicher“ Massenmord an den Ukrainern gewesen, hat eine lange Geschichte. Sie geht zurück auf die ukrainische extreme Rechte, die während des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis kollaborierte, als diese die Sowjetukraine besetzten. Das Besatzungsregime förderte „Enthüllungen“ über stalinistische Verbrechen durch seine journalistischen Handlanger in der Ukraine. Viele dieser „Journalisten“ waren Mitglieder oder Sympathisanten der faschistischen Organisation der Ukrainischen Nationalisten (OUN). Ohne den damals noch nicht gebräuchlichen Begriff „Völkermord“ zu verwenden, stellten sie die Hungersnot als solchen dar. Sie gaben dem „Moskauer Imperialismus“ und der „Russifizierung der Ukraine“ die Schuld und sprachen von einer „Zerstörung der ukrainischen Kultur durch die Bolschewiki“.[15]
In diesem Narrativ gab es schon immer ein starkes antisemitisches Element, da die Hungersnot stereotyp als Ergebnis der Machenschaften der „kommunistischen Juden“ in Moskau dargestellt wurde. Nach dem Krieg wurde diese rechtsextreme Fälschung der sowjetischen Geschichte von rechtsextremen Elementen in der ukrainischen Diaspora propagiert. Sie genossen die Unterstützung von westlichen Geheimdiensten und hatten Verbindungen zu angesehenen akademischen Einrichtungen in den USA und Kanada.
Die auf breiter Front betriebene Legitimierung dieses rechtsextremen Narrativs begann in den 1980er Jahren und wurde vor allem von amerikanischen Akademikern mit engen Verbindungen zum US-Staatsapparat vorangetrieben. 1986 veröffentlichte Robert Conquest von der Stanford University das Buch Harvest of Sorrow. Es war das erste Werk eines bekannten westlichen Akademikers, der die Hungersnot als „Völkermord“ bezeichnete, der sich in Form einer „Terror‑Hungersnot“ gegen die Ukrainer gerichtet habe. Conquest bestritt, dass es natürliche Ursachen für die Hungersnot gegeben habe und verglich sie stattdessen explizit mit den Verbrechen der Nazis.[16] Man muss hier anmerken, dass Conquest selbst seine Behauptungen später revidierte und seit Anfang der 2000er Jahre von der Bezeichnung „Völkermord“ Abstand nahm.[17]
Noch folgenreicher für die Rehabilitierung der Darstellung der Hungersnot durch die ukrainischen Rechtsextremen war wohl das Wirken von James Mace, der an der Harvard University lehrte und eine Kommission des US-Kongresses zur Hungersnot in der Ukraine leitete. 1988 legte Mace dem Kongress einen Bericht über die „Ergebnisse“ vor und behauptete, die „Nachforschungen“ hätten ergeben, dass die Hungersnot ein „Völkermord“ war. Mace verglich die Hungersnot ausdrücklich mit dem Holocaust und ging sogar so weit zu behaupten, dass sie mit behaupteten sieben im Vergleich zu den sechs Millionen Toten des Holocausts noch schlimmer war.[18]
Als Teil dieser gezielten Versuche, die Hungersnot mit dem Holocaust gleichzusetzen, nahm die ukrainische Diaspora den Begriff „Holodomor“, der wörtlich übersetzt „Mord durch Verhungern“ bedeutet, in ihr Vokabular auf.[19]
In der Sowjetunion, wo die Bürokratie Kurs auf die vollständige Restauration des Kapitalismus nahm, propagierten nationalistische ukrainische Intellektuelle und ehemalige stalinistische Schreiberlinge eifrig die Geschichtslügen der ukrainischen Diaspora und ihrer akademischen Verbündeten.
Das „Völkermord“-Narrativ im Kontext der Nato-Osterweiterung in den 2000er Jahren
Die intensivste Propaganda für die Behauptung, die Hungersnot sei ein „Völkermord“ gewesen, fand jedoch in den frühen 2000er Jahren statt, als die Nato nach Osteuropa expandierte und die USA sich aggressiv in die ukrainische Politik einmischten. 2003 verabschiedeten das ukrainische Parlament, der US-Kongress und das kanadische Parlament Resolutionen, die die Hungersnot als „Völkermord“ verurteilten und damit die Darstellung der ukrainischen Faschisten zum offiziellen Narrativ machten.
2004/2005, nach den von den USA unterstützten Protesten der sogenannten „Orangenen Revolution“, kam die Nato-freundliche Regierung von Viktor Juschtschenko an die Macht. Die Regierung scheute keine Mühen, um die Nazi-Kollaborateure in der Ukraine aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs und ihre Geschichtsfälschungen zu rehabilitieren. Der „Holodomor“ wurde Kindern im Schulunterricht vermittelt, und die Regierung unterstützte die Herausgabe einer Dokumentensammlung, die die Hungersnot demonstrativ als „ukrainischen Holocaust“ bezeichnete.[20]
Diese Kampagne reichte über die Ukraine hinaus. Auch internationale Historiker schlossen sich ihr an und behaupteten nun allen gegenteiligen Beweisen zum Trotz, die Hungersnot sei ein „Völkermord“ gewesen.[21]
Snyders Darstellung basiert größtenteils auf Werken, die im Zuge dieser Kampagne erschienen. Eine seiner wichtigsten Quellen ist The 1932-1933 Famine as Genocide (Die Hungersnot 1932-1933 als Völkermord) des bekannten ukrainischen Historikers Stanislav Kulchytskyi. Dieses Buch ignoriert alle gegenteiligen Erkenntnisse und käut einfach Robert Conquests Behauptung wieder, die Hungersnot sei ein Völkermord an den ukrainischen Bauern in der ukrainischen Sowjetrepublik und im Kuban gewesen.[22] (Bis 2003 hatte Kulchytskyi jedoch die Auffassung, die Hungersnot sei ein „Völkermord“ gewesen, zurückgewiesen.)
Snyder nimmt ausgiebig Bezug auf Robert Kuśnierz' Ukraine in the years of collectivization and the Great Famine (1929-1933), das 2005 in polnischer Sprache veröffentlicht wurde und in Snyders 99 Endnoten für das Kapitel über die Hungersnot nicht weniger als 28-mal erwähnt wird. In seinen Verweisen auf dieses Werk unterlaufen Snyder nicht nur zahlreiche Fehler, er führt auch durch die Hintertür die Propaganda der ukrainischen Rechten ein.
Kuśnierz gehört zu Snyders bevorzugten Quellen für seine zahlreichen „Horrorgeschichten“ über Kannibalismus und andere Aspekte der Kollektivierung, mit denen er seine Leser schockieren und verstören will. In mehreren Fällen gibt er diese Quelle jedoch ungenau wieder und fügt wichtige Details hinzu oder lässt sie aus.[23]
So beschreibt er, Bezug nehmend auf Kuśnierz, in einem Abschnitt grauenhafte Verbrechen von Parteibrigaden und Mitgliedern der Jugendbewegung Konsomol. Er charakterisiert sie im Grunde als Bande marodierender Gangster, die im staatlichen Auftrag vergewaltigten und töteten:
Wie eine Invasionsarmee lebten die Parteiaktivisten vom Land, nahmen, was sie konnten, und aßen sich satt, wodurch wenig übrigblieb, was ihre Arbeit und ihren Enthusiasmus bezeugen konnte, außer Elend und Tod… Sie urinierten in Fässer mit eingelegten Lebensmitteln, befahlen hungernden Bauern, zur Unterhaltung miteinander zu boxen, ließen sie wie Hunde kriechen und bellen oder im Schlamm niederknien und beten… In einem Dorf betrank sich die Brigade in der Hütte eines Bauern und vergewaltigte nacheinander seine Tochter. Alleinlebende Frauen wurden regelmäßig nachts unter dem Vorwand der Getreidebeschlagnahme vergewaltigt – und tatsächlich wurden ihnen danach auch die Lebensmittel weggenommen. Dies war der Triumph von Stalins Gesetz und Stalins Staat.“ (S. 60)
Doch selbst der erbitterte Antikommunist Kuśnierz räumt ein, dass die Komsomol-Mitglieder wegen ihrer „unbolschewistischen Haltung“ ausgeschlossen und für ihre Verbrechen bestraft wurden. Anders als von Snyder behauptet, wurde ihr Verhalten also keineswegs geduldet. Kuśnierz hält außerdem fest, dass Mitglieder von Brigaden, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten, vor Gericht gestellt und zu Gefängnis oder Lagerhaft verurteilt wurden. In Bloodlands bleibt dies unerwähnt.[24]
Noch ein aufschlussreiches Beispiel: In einer seiner vielen grausigen Schilderungen der Hungersnot schreibt Snyder: „In einem ukrainischen Dorf lagen um den Triumphbogen, der zur Feier der Vollendung des ersten Fünfjahresplans gebaut worden war, die Leichen von Bauern herum.“ (S. 74/75)
Als Quelle für diese Behauptung nennt Snyder Kuśnierz (S. 178), der diese Schilderung dem Bericht eines „Augenzeugen“ zuschreibt, erschienen angeblich in der Zeitschrift Ukrainian Herald aus dem Jahr 1976 unter dem Titel Ethnocide of Ukrainians in the USSR. Der Ukrainian Herald war die englischsprachige Ausgabe einer „Untergrund“-Zeitschrift rechter ukrainischer Dissidenten, die mit Unterstützung von Robert Conquest erschien.
Diese Episode, die beide, Kuśnierz und Snyder, zitieren, findet sich auf Seite 47 der Zeitschrift. Verfasser des Artikels mit dem Titel „Soviet fascism' war Maxim Sahaydak. Er wettert über den angeblichen Völkermord auf Raten an den Ukrainern, ohne auch nur ansatzweise eine objektive Analyse oder eine glaubwürdige wissenschaftliche Quelle anzubieten. Die Geschichte mit dem Triumphbogen wird ohne Quellenangabe erwähnt (es wird kein Augenzeuge genannt); ihr fehlt somit jede wissenschaftliche Glaubwürdigkeit. Kuśnierz hat sie fälschlich einem polnischen Buch zugeordnet. Dann greift Snyder in seinem angeblich wissenschaftlichen Werk diese rechte Propaganda einfach wieder auf, wohl wissend, dass die meisten seiner Leser nicht in der Lage sein würden, seine polnischsprachigen Quellenangaben zu überprüfen.[25]
Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass Snyder in mehreren Fällen ungenaue Seitenangaben für Zahlen und Zitate anführt, die er von Kuśnierz übernimmt.[26]
Außerdem verweist Snyder immer wieder auf Kuśnierz‘ Übersetzungen russischsprachiger Artikel und Reden von Josef Stalin ins Polnische, darunter bekannte Artikel von Stalin wie „Dizzy with Success“, der auf Russisch wie auf Englisch leicht zugänglich ist (dt.: Vor Erfolgen von Schwindel befallen). Das ist vergleichbar mit einem deutschen Historiker der Amerikanischen Revolution, der eine chinesische Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung der USA zitiert, anstatt das weithin verfügbare Original oder die deutsche Übersetzung zu zitieren. Das ist nicht nur absurd, sondern auch illegitim.
Historiker sind verpflichtet, die von ihnen verwendeten Angaben so leicht zugänglich wie möglich zu machen und gleichzeitig so nah wie möglich am Originaldokument zu bleiben. Um die Überprüfung der Quellen so einfach wie möglich zu machen und die größtmögliche Nähe zum Originaltext zu wahren, muss daher das Original zitiert werden, wenn keine anerkannte Übersetzung eines Dokumentes oder Textes vorliegt. Doch Snyder zitiert weder eine der vielen englischen Übersetzungen dieser Dokumente noch das russische Original, sondern die kaum zugängliche Übersetzung in eine dritte Sprache, das Polnische.
Wie jeder Akademiker seiner Ausbildung und seines Ranges kennt Snyder die Regeln und Grundsätze des Zitierens. Historiker müssen ihre Behauptungen nicht nur mit präzisen Verweisen auf andere Historiker und Primärdokumente untermauern, sondern auch die Ergebnisse und Argumente anderer Historiker korrekt zuordnen und zusammenfassen, unabhängig davon, ob sie mit ihnen übereinstimmen oder nicht. Entwickeln sie eine abweichende oder neue Einschätzung eines historischen Phänomens oder Ereignisses, müssen sie die historischen Beweise anführen, die die Grundlage für ihre Schlussfolgerungen und Einschätzungen bilden.
Snyders zahlreiche Zitierfehler und sein Rückgriff auf Quellen in weniger verbreiteten Sprachen trotz vorliegender Übersetzungen zeugen nicht nur von großer Nachlässigkeit. Sie machen es auch schwierig, seine Behauptungen und Quellen zu überprüfen. Die Mehrzahl seiner Leser kann daher praktisch nicht erkennen, dass Snyder ihnen wesentliche Fakten vorenthält, die nicht in sein „Narrativ“ passen, und andere erfindet, für die es keine historischen Belege gibt. Er ignoriert, verfälscht oder weist anerkannte Ergebnisse der Geschichtsforschung zurück, ohne dies offen zu sagen, während er seine Hauptargumente rechter Propaganda entlehnt.
Wird fortgesetzt
Ernst Nolte, Zwischen Geschichtslegende und Revisionismus? in: Ernst Piper (Hrsg.). „Historikerstreit“ Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, Piper, 1987, S. 32/33
Stephen Wheatcroft, R. W. Davies: The Years of Hunger: Soviet Agriculture, 1931-1933, Palgrave/Macmillan 2004, S. 410-411. (Aus dem Englischen
Hier ist besonders die Studie von Alexander Rabinowitch über die Oktoberrevolution 1917 in Petrograd zu nennen, The Bolsheviks Come to Power, Haymarket Books 2009 (Dt.: Die Sowjetmacht. Band 1: Die Revolution der Bolschewiki 1917, Mehring Verlag 2012). David North hat auf die Behauptungen geantwortet, 1917 sei ein „Putsch“ gewesen, in “The Bolshevik Seizure of Power in October 1917: Coup d’État or Revolution?”, 17 April 1995, World Socialist Web Site. URL: https://www.wsws.org/en/special/library/russian-revolution-unfinished-twentieth-century/01.html. (dt. in: Die Russische Revolution und das unvollendete Zwanzigste Jahrhundert, Mehring Verlag, 2014, S. 35 ff.) Zu den Lügen über „deutsches Geld“ hinter der Revolution, eine uralte Behauptung der russischen Rechtsextremen, siehe David North, https://www.wsws.org/de/articles/2017/07/03/meek-j03.html, 3. Juli 2017, World Socialist Web Site
Siehe: Nikolai Bukharin, “The Theory of Permanent Revolution,” https://www.marxists.org/archive/bukharin/works/1924/permanent-revolution/index.htm
Wheatcroft, Davies, Years of Hunger, S. 312.
Ebd., S. 326
Ebd., S. 110.
Mark B. Tauger, Natural Disasters and Human Actions in the Soviet Famine of 1931-1933, Carl Beck Papers in Russian & East European Studies, Number 1506, 2001, S. 6-8, 20. (Aus dem Englischen
Leo Trotzki, Der neue Wirtschaftskurs in der UdSSR, in: Leo Trotzki, Schriften 1, Sowjetgesellschaft und stalinistische Diktatur, Band 1.1 (1929-1936), Rasch und Röhring 1988, S. 140, 148, 158.
“Polozhenie v strane i zadachi bol’shevikov-lenintsev” [Die Lage im Land und die Aufgaben der Bolschewiki-Leninisten], 10 Dezember 1932, URL: https://www.kommersant.ru/doc/3656916.
Wheatcroft, Davies, Years of Hunger, S. 220. (Aus dem Englischen)
Einige weitere Beispiele seien genannt. Ein Zitat Stalins auf S. 146 gibt Snyder unrichtig wieder: Aus „ukrainische Demobilisierer“ macht er „ukrainische Destabilisierer“ (S. 36). Der Verweis auf das Buch auf S. 187 für ein Zitat in Endnote 63 führt zu keinem Ergebnis; die Verweise in den Endnoten 64, 66 und 67 führen zu Seitenzahlen, die mit der fraglichen Periode und den Behauptungen Snyders in keinem Zusammenhang stehen. In Endnote 72 wird auf S. 210 statt 211 verwiesen, und der Verweis in Endnote 91 auf S. 158 ist vollkommen irreführend. Während Snyder über die Hungersnot in der Ukraine spricht, handelt der Absatz bei Wheatcroft und Davies von einer ganz anderen Frage, nämlich der, wie sich die Hungersnot im Nordkaukasus und der Zentralen Wolgaregion entwickelt hat.
Stephen Wheatcroft, “The Scale and Nature of German and Soviet Repression and Mass Killings, 1930-45,” in: Europe-Asia Studies, December 1996, Vol. 48, No. 8, S. 1319. (Aus dem Englischen)
Robert W. Davies, “Introduction,” in The Stalin-Kaganovich correspondence, 1931-1936, Yale University Press, 2003, S. 12-13. (Aus dem Englischen)
Tanja Penter, Dmytro Tytarenko, “Der Holodomor, die NS-Propaganda in der Ukraine und ihr schwieriges Erbe” in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 69 (2021) H. 4, S. 646-648.
Robert Conquest, The Harvest of Sorrow. Soviet Collectivization and the Terror-Famine, Oxford University Press 1986, S. 3; dt.: Ernte des Todes. Stalins Holocaust in der Ukraine 1929-1933, Langen Müller, 1988, S. 10. Anzumerken ist, dass Snyder verschweigt, dass Conquest später seine Behauptung eines „Genozids“ zurücknahm. In einer wichtigen Fußnote in The Years of Hunger erläutern Wheatcroft and Davies: „… im Juni 2006 traf sich eine ukrainische Delegation von Holocaust-Experten und des Holodomor mit Robert Conquest in der Stanford University und befragten ihn zu seinen Auffassungen. Conquest sagte ihnen unmissverständlich, dass er den Begriff Genozid nicht benutzen wolle.“ The Years of Hunger, S. xvii. (Aus dem Englischen)
2003 schrieb Conquest an Wheatcroft und Davies, „Sorgte Stalin 1933 absichtlich für die Hungersnot? Nein. Meine These ist, dass er die Hungersnot, als sie unmittelbar drohte, hätte abwenden können. Doch er definierte die ‚sowjetischen Interessen‛ anders als zuerst die Hungernden zu ernähren, und leistete so der Hungersnot wissentlich Vorschub.“ R. W. Davies and Stephen G. Wheatcroft, “Stalin and the Soviet Famine of 1932-1933: A Reply to Ellman” in: Europe-Asia Studies, Vol. 58, No. 4 (June 2006), S. 629. (Aus dem Englischen
James E. Mace, “Secret of Ukrainian Genocide Must Not Be Forgotten Tragedy,” The Vindicator, August 22, 1986, S. 1, 9.
Die Darstellung der Hungersnot als Völkermord, der mit dem Holocaust auf einer Stufe steht oder ihn gar in den Schatten stellt, wurde von der rechten Diaspora und ihren akademischen Verbündeten entwickelt. Das war nicht zuletzt eine Reaktion auf den Prozess gegen den ukrainischen Nazi-Kollaborateur John Demjanjuk, der 1986 begann, und der Einsetzung einer Kommission zur Aufdeckung möglicher Kriegsverbrecher in Kanada.
Der führende Forscher zum ukrainischen Nationalismus, John-Paul Himka, meinte zu den Motiven dieser Bestrebungen: „Einige glaubten, man ‚könnte die Versuche, Ukrainer als rücksichtslose Unterdrücker von Juden‛ während des Holocausts darzustellen, untergraben, indem man die Öffentlichkeit darauf aufmerksam macht, dass auch sehr viele Ukrainer Opfer waren,. Und wenn es gelänge, die Sowjetunion als antiukrainisches, kriminelles Regime zu präsentieren, könnte man damit das Beweismaterial unglaubwürdig erscheinen lassen, das die Sowjets der Anklage bei Kriegsverbrechen zur Verfügung stellten.“ John-Paul Himka, “Making Sense of Suffering: Holocaust and Holodomor in Ukrainian Historical Culture, and Holod 1932-1933 rr. v Ukraini iak henotsyd/Golod 1932-1933 gg. v Ukraine kak genotsid [The 1932–33 Famine in Ukraine as a Genocide] (review)” in: Kritika Explorations in Russian and Eurasian History, Vol. 8, No. 3, Summer 2007, S. 687-688. (Aus dem Englischen
Siehe David Marples, Heroes and Villains: Creating National History in Contemporary Ukraine, Central European University Press, 2007, S. 35-7
In Frankreich wurde dies von Nicholas Werth und in Italien von Andrea Graziosi propagiert. Siehe den von Snyder zitierten Essay von Nicholas Werth über die Hungersnot in La Terreur et le désarroi. Staline et son système, Perrin 2007, S. 117-134. Der Essay erschien 2003, anlässlich des 70. Jahrestags des Endes der Hungersnot, macht auf die Entscheidung des einzigen gesetzgebenden Organs der Ukraine, Werchowna Rada, aufmerksam und erwähnt am Ende die Einschätzung von Mace, dass man die Schrecken und das Ausmaß des „Holodomor“ auf eine Stufe stellen müsse mit dem Völkermord an den Juden und den Armeniern (Ebd., S. 132-134). Andrea Graziosis Essay, den Snyder ebenfalls häufig zitiert, ist vielleicht das beste Beispiel für einen westlichen Historiker, der die „Holodomor“-These rehabilitiert. („The Soviet 1931-1933 Famines and the Ukrainian Holodomor: Is a New Interpretation Possible, and What Would Its Consequences Be?, in Harvard Ukrainian Studies, 2004-2005, Vol. 27, No. 1/4 (2004-2005), S. 97-115.
Stanyslav Vladyslavovych Kul’chyts’kyi, Holod 1932-1933 rr. v Ukraini iak henotsyd/Golod 1932-1933 gg. v Ukraine kak genotsid [The 1932–33 Famine in Ukraine as a Genocide], Instytut istorii Ukrainy NANU, 2005. Aus irgendeinem Grund zitiert Snyder nicht das ukrainische Original, sondern die polnische Übersetzung. Stanisław Kulczycki, Hołodomor: Wieki głód na ukrainie w latach 1932-1933 jako ludobójcstwo — problem swiadomosci, Kolegium Europy Wschodniej im. Jana Nowaka-Jeziorańskiego, Breslau 2008
In einem Fall, in dem ein eindeutiger Übersetzungsfehler vorliegt, zitiert Snyder Kuśnierz als Quelle folgender Begebenheit: „Ein sechsjähriges Mädchen, das von seinen Verwandten gerettet wurde, sah seinen Vater zuletzt, als er das Messer schärfte, um es zu sclachten.“ (S. 70) Das sechsjährige Mädchen war in Wirklichkeit ein Junge mit Namen Iwan Wolosenko, wie man bei Kuśnierz nachlesen kann. (Robert Kuśnierz, Ukraina w latach kolektywizacji i Wielkiego Głodu (1929-1933), Wydawnictwo GRADO, Toruń 2005, S. 168
Ebd., S. 119 und 146
Maksym Sahaydak, “Ethnocide of Ukrainians in the USSR”, in: The Ukrainian Herald, 1976, Nos. 7-8, S. 47. Die genannte Zeitschrift kann online heruntergeladen werden, und es wäre für Snyder und seine Verleger ein Leichtes gewesen, die Quelle zu überprüfen – auch für seine Leser, wenn Snyder sie korrekt als Originalquelle seiner Behauptung genannt hätte
Das ist der Fall bei Endnote 18, die sich auf Kuśnierz, S. 41 bezieht und nicht auf S. 40; Endnote 47, wo die Seitenzahl 139, die Snyder als Quelle für ein Zitat angibt, dieses Zitat nicht enthält; und Endnote 81, wo die Seitenzahl 158 ist, nicht 157.
Mehr lesen
- Bundestag erklärt Hungersnot in der Ukraine zum „Völkermord“: Geschichtsfälschung im Dienst von Kriegspropaganda
- Timothy Snyder fälscht die Geschichte des Holocaust
- Geschichte und Kriegspropaganda: Timothy Snyder fälscht die Rolle des ukrainischen Faschismus
- „Russland ist faschistisch“: Geschichtsfälschung von Timothy Snyder im Dienste der US-Nato-Kriegspropaganda