Wir veröffentlichen hier das Vorwort zu dem Buch »Wohin geht Frankreich?«, eine Sammlung von Leo Trotzkis Schriften zu Frankreich in den Jahren 1934 bis 1938. Das Buch wird in diesem Herbst im Mehring Verlag erhältlich sein und kann hier vorbestellt werden.
Wir rufen alle Leser auf, den Mehring Verlag zu unterstützen und das Gesamtpaket der drei Trotzki-Neuerscheinungen zum Sonderpreis vorzubestellen: »Wohin geht Frankreich?«, »Porträt des Nationalsozialismus« und »Geschichte der Russischen Revolution«. Diese Bände behandeln zentrale Erfahrungen und Lehren der Arbeiterbewegung, die gerade jetzt höchst aktuell sind.
Vorwort des Herausgebers
Die Artikel Leo Trotzkis über Frankreich, die in diesem Band gesammelt sind, entstanden in den Jahren 1934 bis 1938. Es waren entscheidende Jahre für das Schicksal Frankreichs und Europas.
Unter dem Druck der Großen Depression, die weltweit zu Massenarbeitslosigkeit, weitverbreiteter Armut und heftigen Klassenkämpfen führte, zerbrach die bürgerliche Demokratie. In einem europäischen Land nach dem anderen stützte sich die Bourgeoisie auf den Faschismus, dessen historische Bedeutung laut Trotzki darin besteht, »die Arbeiterklasse niederzuwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen, die politische Freiheit zu erwürgen, und zwar dann, wenn die Kapitalisten nicht mehr imstande sind, mithilfe der demokratischen Mechanismen zu regieren und zu herrschen«.[1]
In Italien war bereits 1922 Benito Mussolini an die Macht gelangt und hatte eine faschistische Diktatur errichtet, die als Vorbild für viele andere dienen sollte. In Polen herrschten Józef Piłsudski und in Ungarn Miklós Horthy mit autoritären Methoden. In Deutschland hatte Reichspräsident von Hindenburg 1933 Adolf Hitler zum Kanzler ernannt.
In Frankreich – und auch in Spanien – war die Lage dagegen noch nicht entschieden. »Zurück zur friedlichen Demokratie gibt es schon keinen Weg mehr«, stellte Trotzki 1934 fest. »Die Entwicklung führt unabänderlich und unabwendbar zum Zusammenprall von Proletariat und Faschismus.« Die allgemeine Tendenz treibe Frankreich »unabweislich zu der Alternative: Entweder muss das Proletariat die durch und durch verfaulte bürgerliche Ordnung stürzen, oder der Kapitalismus muss im Interesse seiner Selbsterhaltung die Demokratie durch den Faschismus ersetzen.«[2]
Eine siegreiche sozialistische Revolution in Frankreich oder Spanien war damals durchaus möglich. In Frankreich erschütterte 1936 ein mehrmonatiger Generalstreik die bürgerliche Herrschaft und rückte die Übernahme der Staatsmacht durch die Arbeiterklasse in greifbare Nähe. In Spanien entwickelte sich der Bürgerkrieg gegen Francos Faschisten zu einem Machtkampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie.
Ein Sieg der Arbeiterklasse in diesen Ländern hätte den Verlauf der Geschichte geändert. Die Arbeiter Deutschlands, die Hitler ablehnten, hätten neuen Mut geschöpft, das Nazi-Regime wäre ins Wanken geraten. Auch die Arbeiter der Sowjetunion wären ermutigt worden, sich gegen Stalin aufzulehnen, der mit der katastrophalen Fehlorientierung der Kommunistischen Parteien und mit dem Großen Terror von 1937/1938, der die revolutionäre Avantgarde in der Sowjetunion und die Rote Armee enthauptete, Hitlers Überfall auf die Sowjetunion erst möglich machte. Doch die Revolution scheiterte – nicht am Unvermögen der Arbeiterklasse, sondern am Versagen und Verrat ihrer Parteien.
Leo Trotzkis hier wiedergegebene Schriften bilden den Schlüssel zum Verständnis der damaligen Ereignisse und der Lehren daraus, die heute – angesichts eskalierender Kriege, heftiger Klassenkämpfe und des Wiederauflebens faschistischer Parteien – von brennender Aktualität sind. Trotzki schrieb nicht als passiver Beobachter, sondern als revolutionärer Marxist. Er kämpfte gegen die Politik der Stalinisten, die die Arbeiterklasse lähmte und politisch entwaffnete, und entwickelte – in enger Zusammenarbeit mit seinen französischen Gesinnungsgenossen – Perspektiven und Initiativen, mit denen die Arbeiterklasse diese Lähmung durchbrechen und die politische Macht erobern konnte.
Er tat dies gestützt auf ein präzises, materialistisches Verständnis der objektiven Dynamik des Klassenkampfs, der Rolle des Faschismus und der Psychologie der Massen, über das Trotzki wie kein anderer verfügte. Er war der herausragendste, noch lebende Vertreter einer Generation revolutionärer Marxisten, die sich die Lehren von Marx und Engels gründlich angeeignet hatten und – anders als ihre Lehrmeister in der Zweiten Internationale – als Anleitung zum revolutionären Handeln verstanden.
In der ersten Russischen Revolution 1905 hatte der 26-jährige Trotzki an der Spitze des Petersburger Sowjets der Arbeiterdeputierten gestanden. 1917 hatte er an der Seite Lenins die Oktoberrevolution zum Sieg geführt, die er mit der Theorie der permanenten Revolution vorbereitet hatte. Er spielte eine führende Rolle auf den ersten vier Kongressen der Kommunistischen Internationale und organisierte und kommandierte die Rote Armee, die in einem erbitterten Bürgerkrieg die Sowjetmacht gegen die weiße Konterrevolution und mehrere imperialistische Interventionsarmeen verteidigte. Sein tiefes Verständnis der Psychologie der Massen befähigte Trotzki, der nie eine militärische Ausbildung genossen hatte, aus fünf Millionen Arbeitern und Bauern eine schlagkräftige, motivierte Armee zu formen.
Der wichtigste Teil von Trotzkis politischem Wirken begann 1923/1924 mit der Krankheit und dem Tod Lenins. Erschöpft durch Jahre des Kriegs und des Bürgerkriegs und isoliert aufgrund des Scheiterns der Revolution in Deutschland und anderen fortgeschrittenen Ländern flutete die Welle der Revolution in der Sowjetunion zurück. Konservative bürokratische Elemente, die in Stalin ihren Führer fanden, machten sich breit und rissen die Kontrolle über Partei und Staat an sich. Trotzki übernahm die Führung der Linken Opposition, die gegen die bürokratische Degeneration des Sowjetregimes kämpfte und das politische und theoretische Erbe der Oktoberrevolution verteidigte. Er wurde von der Stalin-Fraktion erst verleumdet, dann seiner Ämter enthoben, aus der Kommunistischen Internationale und der Partei ausgeschlossen, nach Asien und 1929 schließlich in die Türkei verbannt, wo ihn Stalin zum Schweigen zu bringen hoffte.
Doch Trotzki ließ sich nicht zum Schweigen bringen. Unterstützt von Zehntausenden linken Oppositionellen in der Sowjetunion und auf der ganzen Welt führte er den Kampf gegen den Stalinismus aus seinem abgelegenen türkischen Exil weiter. Im Sommer 1933 gewährte ihm die Regierung des Radikalen Édouard Daladier schließlich Asyl in Frankreich, das allerdings neun Monate später widerrufen wurde. Da kein anderes demokratisches Land bereit war, den sozialistischen Gegner Stalins aufzunehmen, blieb Trotzki bis zu seiner Weiterreise nach Norwegen im Juni 1935 in Frankreich – überwacht von der Polizei und unter ständiger Verfolgung durch faschistische und stalinistische Gegner. So konnte er die Ereignisse aus nächster Nähe verfolgen.
Die deutsche Katastrophe
Inzwischen ging es längst nicht mehr nur um das Regime in der Sowjetunion. Bereits 1924 hatte Stalin, unterstützt von Bucharin, die internationalistische Perspektive der permanenten Revolution, auf der die Oktoberrevolution beruhte, durch das nationalistische Programm des »Aufbaus des Sozialismus in einem Land« ersetzt. Demnach konnte Russland den Sozialismus aus eigener Kraft, ohne Unterstützung durch erfolgreiche proletarische Revolutionen in anderen Ländern, aufbauen.
Das hatte weitreichende Folgen. Die Kommunistische Internationale verwandelte sich aus einer Partei der sozialistischen Weltrevolution in ein Instrument der sowjetischen Außenpolitik und ordnete die Interessen des Weltproletariats den kurzsichtigen Bedürfnissen der stalinistischen Bürokratie unter. Die Komintern wurde zur Quelle von Desorientierung und proletarischen Niederlagen.
Bis 1933 verfolgten Trotzki und die Linke Opposition das Ziel, die Kommunistische Internationale und die Kommunistischen Parteien zu reformieren und auf den Kurs des proletarischen Internationalismus zurückzuführen. Das änderte sich nach der deutschen Katastrophe von 1933, für die der Stalinismus die Hauptverantwortung trug. Obwohl die Nazis rasch wuchsen und 1932 mit der SA über nahezu eine halbe Million bewaffnete Männer verfügten, lehnte es die Kommunistische Partei Deutschlands strikt ab, mit der SPD ein Verteidigungsbündnis zu vereinbaren. Gestützt auf die ultralinke Linie der »Dritten Periode«, die die Komintern 1928 beschlossen hatte, denunzierte sie die Sozialdemokraten als »Sozialfaschisten« und ging in einigen Fällen so weit, gemeinsame Sache mit den Nazis gegen die SPD zu machen.
Diese ultralinke Politik, hinter der sich eine defätistische Haltung verbarg, lähmte die Arbeiterklasse und ebnete Hitler den Weg an die Macht. Obwohl die beiden Arbeiterparteien ungleich stärker waren als die Nazis – bei der letzten halbwegs regulären Reichstagswahl im November 1932 hatten sie 1,5 Millionen Stimmen mehr erzielt als die NSDAP –, konnte Hitler im Januar 1933 ohne Gegenwehr die Macht ergreifen.
Leo Trotzki kämpfte unermüdlich gegen diese verheerende Politik und setzte sich für eine Politik der Einheitsfront ein. Seine Artikel und Broschüren wurden zu Zehntausenden verbreitet und fanden unter KPD-Mitgliedern großen Widerhall, während die KDP-Führung um Ernst Thälmann mit hysterischer Feindschaft reagierte.[3]
Trotzki machte sich keinerlei Illusionen über den Charakter der sozialdemokratischen Führung, die die Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Faschismus ablehnte, sich hinter dem bürgerlichen Staat verschanzte, Brünings Notverordnungen unterstützte, Paul von Hindenburg zum Reichspräsidenten wählte und sich selbst dann nicht zur Wehr setzte, als ihr im Juli 1932 ihre wichtigste Bastion, die preußische Landesregierung, entrissen wurde. Er schlug keine Vermischung der politischen Programme von KPD und SPD vor, sondern die gemeinsame Verteidigung von Versammlungen, Parteieinrichtungen und Mitgliedern gegen gewaltsame Angriffe der Nazis. Sie hätte die sozialdemokratischen Arbeiter, für die die Nazis eine tödliche Gefahr darstellten, überzeugt, dass es die Kommunisten mit dem Kampf gegen die Nazis ernst meinten. Die Sozialfaschismuspolitik der KPD stieß die sozialdemokratischen Arbeiter dagegen in die Arme der SPD-Führer zurück.
Selbst als die deutsche Katastrophe nicht mehr zu leugnen war und zahlreiche KPD- und SPD-Mitglieder in Hitlers Konzentrationslagern saßen, hielt die Kommunistische Internationale an der Richtigkeit der Politik der KPD fest. Nicht eine einzige Sektion äußerte Kritik. Trotzki schloss daraus, dass die Komintern nicht mehr reformiert werden konnte und der Aufbau einer neuen, Vierten Internationale unerlässlich sei. Die Ereignisse in Frankreich fallen in die Zeit, in der die Gründung der Vierten Internationale vorbereitet wurde, die im September 1938 stattfand.
Die Volksfront
1934 vollzog die Komintern dann in Frankreich einen scheinbaren Schwenk um 180 Grad. Nachdem am 6. Februar mehrere Tausend Faschisten und Royalisten versucht hatten, gewaltsam die französische Nationalversammlung zu stürmen, und das erschrockene Parlament darauf reagierte, indem es die neun Tage zuvor gewählte Regierung des Radikalen Édouard Daladier durch das halbautoritäre Regime von Gaston Doumergue ersetzte, näherten sich Sozialisten und Kommunisten an. Sie bildeten eine Einheitsfront, die später auf Drängen von KP-Führer Maurice Thorez zu einer Volksfront erweitert wurde, die auch die Radikalen, die wichtigste bürgerliche Partei im damaligen Frankreich, miteinschloss.
Die Volksfront war das Gegenteil der Einheitsfront, für die Trotzki eintrat. »Das historische Problem besteht nicht darin, mechanisch alle Organisationen, die immer noch aus den verschiedenen Etappen des Klassenkampfes existieren, zu vereinigen, sondern das Proletariat im Kampf und für den Kampf zu sammeln«, schreibt er. »Dies sind zwei grundverschiedene und sogar entgegengesetzte Probleme.«[4]
Die Volksfront der Sozialisten und Kommunisten mit den Radikalen war kein Bündnis der Arbeiterklasse mit dem Kleinbürgertum, der Wählerbasis der Radikalen, wie die Stalinisten behaupteten. Sie war ein Bündnis der Parteiapparate gegen die Arbeiterklasse und die unteren Schichten des Kleinbürgertums. Im Namen der Einheit mit den Radikalen passte sich die Kommunistische Partei an deren politische Interessen an, verzichtete auf die Perspektive der sozialistischen Revolution und unterdrückte alle Kämpfe, die das kapitalistische Eigentum und den bürgerlichen Staat in Frage stellten.
Damit lähmte sie die Arbeiterklasse und trieb verzweifelte, von der Wirtschaftskrise ruinierte Teile des Kleinbürgertums in die Arme der Faschisten, denn »die wachsende Empörung der unteren Schichten des Kleinbürgertums gegen seine eigenen oberen ›gebildeten‹ Schichten in Gemeinde, Kanton und Parlament … ist die soziale und politische Hauptquelle des Faschismus«, wie Trotzki deutlich macht.[5]
Trotzki bestreitet nicht die Notwendigkeit, die unteren Schichten des Kleinbürgertums auf die Seite der Arbeiterklasse zu gewinnen: »Sich dem Bauern und dem kleinen Mann der Stadt nähern, sie auf unsere Seite zu ziehen, ist unerlässliche Voraussetzung für einen erfolgreichen Kampf gegen den Faschismus, von der Machteroberung gar nicht zu reden.«[6] Doch das konnte nur gelingen, wenn die Arbeiterklasse bewies, dass sie zum Kampf entschlossen war: »Das Kleinbürgertum wird die Demagogie des Faschismus nur in dem Falle von sich weisen, wenn es an die Wirklichkeit des anderen Weges glaubt. Der andere Weg aber, das ist der Weg der proletarischen Revolution.«[7]
Es sei »falsch, dreimal falsch, zu behaupten, das heutige Kleinbürgertum gehe nicht mit den Arbeiterparteien, weil es ›extreme Maßnahmen‹ scheue«, betont Trotzki. Im Gegenteil. Die unteren Schichten des Kleinbürgertums sähen in den Arbeiterparteien nur Parlamentsmaschinen und trauten ihnen nicht zu, »diesmal den Kampf bis ans Ende zu führen«. Das wirkliche Bündnis des Proletariats mit den Mittelklassen sei »nicht eine Frage der parlamentarischen Statik, sondern der revolutionären Dynamik. Dieses Bündnis gilt es zu schaffen, im Kampf zu schmieden.«[8]
Eine revolutionäre Situation
Trotzki geißelt unermüdlich die Selbstzufriedenheit der Stalinisten, die »die Theorie der revolutionären Aktion durch die Religion des Fatalismus«[9] ersetzen und ihre Ablehnung jeder revolutionären Initiative mit der Behauptung bemänteln, die Situation sei »nicht revolutionär« und die »Endkrise des kapitalistischen Systems« habe noch nicht begonnen.
Trotzki antwortet: »Die Diagnose der Kommunistischen Internationale ist grundfalsch. Die Situation ist so revolutionär, wie sie bei einer nichtrevolutionären Politik der Arbeiterparteien nur sein kann. Genauer: Die Situation ist vorrevolutionär. Um diese Situation zur Reife zu bringen, ist sofortige, kühne und unermüdliche Mobilisierung der Massen unter den Losungen der Machteroberung im Namen des Sozialismus notwendig. Dies ist der einzige Weg, auf dem die vorrevolutionäre Situation in eine revolutionäre verwandelt werden kann. Im entgegengesetzten Fall, d. h. wenn man weiter auf der Stelle tritt, wird sich die vorrevolutionäre Situation unausweichlich in eine konterrevolutionäre verwandeln und den Sieg des Faschismus herbeiführen.«[10]
Auf diese Frage kommt er immer wieder zurück. An anderer Stelle betont er die entscheidende Rolle der politischen Vorbereitung für den Verlauf der Revolution, die er als Bürgerkrieg bezeichnet. Dessen Ergebnis hänge »zu einem Viertel, wenn nicht einem Zehntel, vom Verlauf des Bürgerkrieges selbst ab, von seinen technischen Mitteln, der rein militärischen Leitung; zu drei Vierteln, wenn nicht neun Zehnteln, von der politischen Vorbereitung.«
»Worin besteht aber die politische Vorbereitung?«, fragt Trotzki. »Im revolutionären Zusammenschweißen der Massen, in ihrer Befreiung von der Sklavenhoffnung auf die Gnade, Großmut, Loyalität der ›demokratischen‹ Sklavenhalter, in der Erziehung revolutionärer Kader, imstande, die offizielle öffentliche Meinung gering zu achten und der Bourgeoisie auch nur den zehnten Teil jener Unerbittlichkeit entgegenzubringen, die die Bourgeoisie den Werktätigen gegenüber an den Tag legt.«[11]
Zur Spekulation darüber, ob die »Endkrise des kapitalistischen Systems« begonnen habe, schreibt Trotzki: »Der proletarische Revolutionär muss vor allem begreifen, dass der Marxismus, die einzige wissenschaftliche Theorie von der proletarischen Revolution, nichts gemein hat mit dem fatalistischen Hoffen auf die ›letzte‹ Krise. Der Marxismus besteht seinem Wesen nach aus einer Anleitung zu revolutionärem Handeln. Der Marxismus ignoriert nicht Willen und Mut, sondern hilft ihnen auf den richtigen Weg.«
Es gebe »keine Krise, die von selber für den Kapitalismus ›tödlich‹ werden könnte. Die Konjunkturschwankungen schaffen lediglich Situationen, in denen es dem Proletariat leichter oder schwerer fällt, den Kapitalismus zu stürzen. Der Übergang von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft setzt das Handeln lebendiger Menschen voraus, die ihre eigene Geschichte gestalten. Dabei gehorchen sie nicht dem Zufall oder ihrer Lust, sondern dem Einfluss bestimmter objektiver Ursachen. Ihre eigenen Handlungen aber – ihre Initiative, Kühnheit, Aufopferung oder umgekehrt Dummheit und Feigheit – bilden notwendige Glieder in der Kette der historischen Entwicklung.«[12]
Aktionsprogramm für Frankreich
Trotzki beschränkte sich nicht darauf, die Stalinisten zu kritisieren. Gemeinsam mit seinen französischen Gesinnungsgenossen entwickelte er politische Initiativen und ein »Aktionsprogramm für Frankreich«[13], um den Würgegriff der bürokratischen Apparate zu durchbrechen. 1934 traten die französischen Anhänger Trotzkis auf sein Anraten als Fraktion in die Sozialistische Partei ein, um Zugang zu radikalisierten Arbeitern und Jugendlichen zu finden, die sich – abgestoßen von der Politik der Stalinisten – den Sozialisten zuwandten. Als die Trotzkisten nach einem Jahr von der alarmierten Führung ausgeschlossen wurden, hatten sie viele wertvolle Kader gewonnen.
Auch hier betont Trotzki die Notwendigkeit, die Arbeiter offen mit ihren revolutionären Aufgaben zu konfrontieren. »Die Massen begreifen oder fühlen, dass unter den Bedingungen der Krise und der Arbeitslosigkeit ökonomische Teilkonflikte unerhörte Opfer erfordern, die in keinem Fall durch die erreichten Resultate gerechtfertigt werden«, schreibt er. »Die Massen erwarten und fordern andere, wirksamere Methoden.«[14]
Um »den antirevolutionären Widerstand der Partei- und Gewerkschaftsapparate zu brechen«, tritt Trotzki für den Aufbau von Aktionskomitees ein. »Es handelt sich hier nicht um die formell-demokratische Vertretung aller und irgendwelcher Massen, sondern um die revolutionäre Vertretung der kämpfenden Massen«, betont er. »Das Aktionskomitee ist das Instrument des Kampfs.«[15]
1936 erreichte der revolutionäre Aufschwung in Frankreich seinen Höhepunkt. Die wachsende Radikalisierung verhalf der Volksfront zum Wahlsieg. Der Sozialist Léon Blum bildete eine Regierung mit den Radikalen, die von den Stalinisten unterstützt wurde. Wie Trotzki vorausgesehen hatte, brandete die revolutionäre Welle sofort über die Köpfe der Volksfront hinweg. Es entwickelte sich eine breite Streikbewegung mit Fabrikbesetzungen, an der sich fast 2,5 Millionen Arbeiter beteiligten. Es bedurfte der geballten Anstrengung der Volksfront und der Stalinisten, um diese mächtige revolutionäre Bewegung zu bremsen und nach vier Monaten zum Stillstand zu bringen. Dabei mussten sie erhebliche Zugeständnisse machen – wie die Einführung der gesetzlichen 40-Stunden-Woche und des bezahlten Urlaubs –, die später alle wieder zurückgenommen wurden.
Zur selben Zeit begann mit General Francos Putsch der Spanische Bürgerkrieg. Hier zeigten die Volksfront und die Stalinisten ihre konterrevolutionäre Fratze weit offener als in Frankreich. In Frankreich lehnte die Volksfrontregierung von Léon Blum aus Rücksicht auf das verbündete Großbritannien und auf Franco-Sympathien in der französischen Bourgeoisie jede Unterstützung der republikanischen Seite ab. In Spanien wüteten die Stalinisten hinter der Front gegen revolutionäre Arbeiter, die sich dem bürgerlichen Programm der Volksfront nicht unterordnen wollten. Sie verhafteten, folterten und ermordeten Tausende Trotzkisten, Anarchisten und Mitglieder der zentristischen POUM und ebneten Franco so den Weg zum Sieg.
Mit der Volksfrontpolitik hatte Stalin zu erkennen gegeben, dass er nicht mehr auf die internationale Arbeiterklasse setzte, um die Sowjetunion gegen Angriffe imperialistischer Mächte zu verteidigen. Sie kam in »demokratischen« Ländern zum Einsatz, mit denen der Kreml ein Bündnis anstrebte, und sollte die Bourgeoisie überzeugen, dass von der Sowjetunion keine revolutionäre Gefahr mehr ausging. Im August 1939 vollzog Stalin dann einen abrupten Schwenk, der die französischen Kommunisten vollends demoralisierte. Als es ihm nach dem Münchner Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien nicht gelang, sein Bündnis mit Frankreich und Großbritannien zu erneuern, schloss er einen Pakt mit Hitler. Die kommunistischen Arbeiter, die im Namen der Volksfront gegen die Faschisten auf revolutionäre Forderungen verzichtet hatten, fanden sich ohne Vorwarnung in einem Bündnis mit den Nazis wieder.
Ein knappes Jahr später wurde auch in Frankreich die bürgerliche Republik formell zu Grabe getragen. Die Nationalversammlung ernannte mit 569 zu 80 Stimmen Marschall Pétain zum Diktator, der ein autoritäres Regime errichtete und bis zum Ende des Kriegs eng mit den Nazis zusammenarbeitete. Seiner Ernennung war die militärische Niederlage Frankreichs vorausgegangen. Diese war weniger das Ergebnis deutscher militärischer Überlegenheit als der defätistischen Haltung des französischen Generalstabs. Bereits 1936, auf dem Höhepunkt des Generalstreiks, hatten konservative Kreise die Parole ausgegeben: »Lieber Hitler als Blum« –, wobei sie mit Blum nicht den sozialdemokratischen Regierungschef, sondern die sozialistische Revolution meinten.
Ein hochaktuelles Buch
Berücksichtigt man die politischen Unterschiede, sind die Fragen, die Trotzki in »Wohin geht Frankreich?« herausarbeitet, auch heute von brennender Aktualität. Erneut befindet sich der globale Kapitalismus in einer Sackgasse, aus der es keinen demokratischen Ausweg gibt. Der NATO-Stellvertreterkrieg gegen Russland erweist sich immer deutlicher als erstes Stadium eines dritten Weltkriegs, bei dem es um nichts weniger als um die Verteidigung der amerikanischen Hegemonie und um die gewaltsame Neuaufteilung der Welt unter den imperialistischen Mächten geht. Die Eskalation des Kriegs, die Kosten des Militarismus, die extreme soziale Ungleichheit und der Profithunger der aufgeblähten Finanzmärkte lassen sich nicht mit demokratischen Verhältnissen vereinbaren.
Das ist der Grund für das Anwachsen faschistischer Parteien auf der ganzen Welt. Sie werden wieder gebraucht, um »die Arbeiterklasse niederzuwerfen, ihre Organisationen zu zerschlagen, die politische Freiheit zu erwürgen«.[16] Deshalb lobt US-Präsident Joe Biden ständig seine »republikanischen Freunde«, obwohl sich die Republikaner unter aller Augen in eine faschistische Partei verwandeln. Deshalb bahnen alle deutschen Parteien der AfD den Weg. Deshalb ist die Mussolini-Verehrerin Giorgia Meloni italienische Regierungschefin und willkommener Gast auf internationalen Treffen.
Die rechte Politik der Sozialdemokraten, Poststalinisten und anderer angeblich linker Parteien, die für Sozialabbau, Staatsaufrüstung und Militarismus eintreten, hat zur Folge, dass empörte Kleinbürger und teilweise auch Arbeiter eine radikale Lösung auf der Rechten suchen. Sie treibt verbitterte Wähler in die Arme faschistischer Demagogen, die ihnen eine bessere Zukunft versprechen und auf die liberalen Eliten schimpfen. Darauf beruhen die Wahlerfolge von Donald Trump, der Fratelli d’Italia und der deutschen AfD. Noch handelt es sich nicht um faschistische Massenbewegungen, aber es besteht die Gefahr, dass sie sich zu solchen entwickeln.
Diese Gefahr kann nur durch eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse gestoppt werden, die den Kampf gegen soziale Ungleichheit und Krieg mit einem sozialistischen Programm zum Sturz des Kapitalismus verbindet. Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt kämpfen bereits gegen die Folgen der Inflation, gegen Rentenkürzungen und Sozialabbau. Wie in den 1930er Jahren in Frankreich entwickelt sich eine vorrevolutionäre Situation. Und wie damals erfordert ihre Verwandlung in eine revolutionäre die »aktive Beteiligung der revolutionären Klasse und ihrer Partei«.[17]
Diese Partei ist heute die Vierte Internationale, die vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale und ihren Sektionen, den Sozialistischen Gleichheitsparteien, verkörpert wird. »Nur die Partei hat Recht auf eine historische Existenz, die an ihr Programm glaubt und danach strebt, das ganze Volk um ihr Banner zu scharen«, schreibt Trotzki. »Sonst ist sie keine historische Partei, sondern eine Parlamentssippschaft, eine Karrieristenclique.«[18]
Peter Schwarz
20. Juni 2023
In diesem Buch S. 22.
S. 24 und 138.
Siehe dazu: Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, das der Mehring Verlag zeitgleich mit diesem Buch in einer erweiterten Ausgabe neu herausgegeben hat.
In diesem Buch S. 117.
S. 30.
S. 28.
S. 31.
S. 32 und 34.
S. 67.
S. 62.
S. 51.
S. 65.
Siehe Anhang S. 187.
S. 75.
S. 130, 129.
S. 22.
S. 40.
S. 34.
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