Während im Gaza-Streifen ein regelrechter Völkermord an den palästinensischen Bewohnern stattfindet, der Millionen Menschen auf der ganzen Welt fassungslos auf die Straßen treibt, entwickelt sich die offizielle Kulturpolitik Deutschlands zu einem schamlosen Instrument der Kriegspolitik.
Kulturfunktionäre, Journalisten und Politiker überbieten sich mit bizarren Verdrehungen und Lügen, um den massenhaften Mord an Kindern, Alten und Frauen, die Bombardierung von Krankenhäusern, das Abschalten von Strom, Wasserzufuhr und Nahrungsmitteln für 2,3 Millionen Menschen als „Selbstverteidigung Israels“ darzustellen. Sie benutzen in einer grotesken Umkehr der Begriffe den Vorwurf des „Antisemitismus“, um Kultur und Kunst einer aggressiven deutschen Großmachtpolitik zu unterwerfen und Kriegsverbrechen zu rechtfertigen.
In diesen Tagen richtet sich diese abstoßende Kampagne erneut gegen die Documenta in Kassel, die bereits im vergangenen Jahr attackiert wurde. Dieser international bedeutendsten Ausstellung zeitgenössischer Kunst droht nun sogar das Aus. Kulturstaatsministerin Claudia Roth von den Grünen hat den Stopp der finanziellen Mittel angedroht.
In der zweiten Novemberwoche inszenierten die Medien, angeführt von der Süddeutschen Zeitung, eine schrille Verleumdungskampagne gegen den namhaften indischen Autor und Kulturwissenschaftler Ranjit Hoskoté, der zu einer sechsköpfigen Findungskommission gehörte, die eine neue künstlerische Leitung für die nächste Ausstellung im Jahr 2027, die 16. Documenta, finden sollte. Die bisherige Geschäftsführerin Sabine Schormann war während der Documenta 15 im vergangenen Jahr zurückgetreten, nachdem rechte zionistische Kreise das indonesische Kuratorenteam Ruangrupa als „antisemitisch“ angegriffen hatten. Ihr Nachfolger wurde Andreas Hoffmann.
Nachdem am 9. November in der SZ ein Artikel von Nele Pollatschek die erneute Debatte angestoßen hatte, legte der Kulturkorrespondent der SZ in New York, Jörg Häntzschel, nach. Ranjit Hoskoté, so die Beschuldigung, habe im August 2019 einen „antisemitischen“ Aufruf unterzeichnet, den auch Vertreter der Boykott-Kampagne BDS gegen Israel unterstützt hätten. „Antisemitisch“ sei es, den Zionismus als „rassistische Ideologie“ zu bezeichnen, „die einen Siedlerkolonial- und Apartheidstaat fordert, in dem Nicht-Juden ungleiche Rechte haben, und die in der Praxis seit sieben Jahrzehnten auf der ethnischen Säuberung der Palästinenser beruht“.
Unmittelbar nach Erscheinen des Artikels wüteten weitere Medien gegen die Documenta und forderten ihr Ende. Das Hausblatt der Grünen, die taz, titelte „Jetzt hilft nur noch Förderstopp“ und warf Hoskoté „Judenhass“ vor. Es sei ein Skandal, dass es auch der neuen Documenta-Leitung nicht gelungen sei, „irgend etwas an der organisierten Unverantwortlichkeit dieser Veranstaltung zu ändern. Das Versprechen, Judenhass nicht länger zuzulassen, war nur ein Lippenbekenntnis.“ Der Spiegel warf der Documenta „Ignoranz“ vor, und der notorisch rechte Jürgen Kaube fragte in der FAZ: „Wann greift Claudia Roth durch?“
Kulturstaatsministerin Roth erklärte ihrerseits, die von Hoskoté unterzeichnete Erklärung sei „ganz klar antisemitisch und strotzt vor israelfeindlichen Verschwörungstheorien“. Sie drohte: „Eine finanzielle Beteiligung des Bundes wird es für die nächste Documenta nur geben, wenn es einen gemeinsamen Plan und sichtbare Reformschritte hin zu klaren Verantwortlichkeiten, einer echten Mitwirkungsmöglichkeit für den Bund und Standards zur Verhinderung von Antisemitismus und Diskriminierung gibt. Ich sehe hier noch keine Grundlage erreicht.“
Ranjit Hoskoté erklärte darauf seinen Rücktritt von der Findungskommission, gefolgt von der israelischen Künstlerin, Philosophin, Psychoanalytikerin und Theoretikerin Bracha Lichtenberg Ettinger. Wenige Tage später traten auch die übrigen vier Mitglieder der Kommission, Simon Njami, Gong Yan, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez, geschlossen zurück. In ihrem Rücktrittsbrief erklären sie: „Wenn die Kunst den komplexen kulturellen, politischen und sozialen Realitäten unserer Gegenwart Rechnung tragen soll, braucht sie geeignete Bedingungen, die ihre vielfältigen Perspektiven, Wahrnehmungen und Diskurse zulassen.“
Sie verteidigen Ranjit Hoskoté und schreiben weiter, „die Dynamik der letzten Tage mit ihrer unwidersprochenen medialen und öffentlichen Diskreditierung unseres Kollegen Ranjit Hoskoté, die ihn zum Rücktritt aus dem Findungskomitee zwang, lässt uns sehr daran zweifeln, ob diese Voraussetzung für eine kommende Documenta-Ausgabe in Deutschland derzeit gegeben ist. ...Wir glauben nicht, dass es unter den gegenwärtigen Umständen in Deutschland einen Raum für einen offenen Gedankenaustausch und die Entwicklung komplexer und nuancierter künstlerischer Ansätze gibt, die Documenta-Künstler und -Kuratoren verdienen.“
Diese Worte sind klar: Die aktive Beteiligung der deutschen Bourgeoisie am Krieg gegen die Palästinenser zerstört zugleich Demokratie und Freiheit der Kunst!
„Künstler sind nicht schmückendes Beiwerk der Politik“
Die 75-jährige Bracha Lichtenberg Ettinger hatte vergeblich darum gebeten, die Entscheidungsfindung über die Documenta-Leitung 2027 angesichts der Lage im Nahen Osten zu verschieben. Sie hielt es für notwendig, Zeit zum Nachdenken und Innehalten einzuräumen. Sie habe sich angesichts der Ereignisse in Israel und Palästina nicht in der Lage gesehen, ihr Amt weiter auszufüllen. „Unschuldige Zivilisten litten und starben, und mein Herz weint um jeden Toten auf allen Seiten. Jedes Leben ist kostbar“, heißt es in ihrem Rücktrittsschreiben.
Und weiter schreibt sie: „Die Kunstwelt, wie wir sie uns vorgestellt haben, ist zusammengebrochen und zersplittert. (...) Was kann die Kunst in unseren dunklen Zeiten beitragen?“ Und sie ergänzt: „Die Frage nach dem Sinn des Menschseins ist eng mit dem Sinn der Kunst verbunden. Künstler sind nicht dazu da, schmückendes Beiwerk der Politik zu sein.“ Geschäftsführer Andreas Hoffmann lehnte eine Verschiebung der Entscheidungsfindung jedoch „aus verfahrenstechnischen Gründen“ ab.
Ranjit Hoskoté begründete seinen Rücktritt von der Findungskommission am 12. November mit bewegenden und bemerkenswerten Worten, die wir hier ausführlich wiedergeben wollen:
Lieber Andreas, die letzten Tage gehörten zu den zutiefst erschütterndsten Tagen in meinem Leben. Der ungeheuerliche Vorwurf des Antisemitismus wurde gegen meinen Namen erhoben, und zwar in Deutschland, einem Land, das ich mit Liebe und Bewunderung betrachte und zu dessen kulturellen Einrichtungen und intellektuellem Leben ich seit mehreren Jahrzehnten als Schriftsteller, Kurator und Kulturtheoretiker beigetragen habe. Deutsche Berichterstatter*innen, die mein Leben und meine Arbeit nicht kennen, haben mich aufgrund einer einzigen Unterschrift auf einer Petition, die aus dem Zusammenhang gerissen und nicht im Geiste der Vernunft angegangen wurde, verurteilt, denunziert und stigmatisiert. Über mich wurde mit Härte und Herablassung geschrieben, und keiner meiner Verleumder*innen hat es für wichtig gehalten, mich nach meinem Standpunkt zu fragen. Ich habe das starke Gefühl, dass ich einem Scheingericht unterworfen worden bin.
„Ein System, das seinen moralischen Kompass verloren hat“
Hoskoté klagt, dass von ihm verlangt werde, „eine pauschale und unhaltbare Definition von Antisemitismus zu akzeptieren, die das jüdische Volk mit dem israelischen Staat in einen Topf wirft und dementsprechend jede Sympathiebekundung für das palästinensische Volk als Unterstützung für die Hamas ausgibt“. Wie zahlreiche jüdische Intellektuelle lehne er jede „Gleichsetzung von Antizionismus mit Antisemitismus“ ab.
Er betont: „Ein System, das auf einer derartigen Definition und derartigen Einschränkungen besteht – und das sich entscheidet, sowohl Kritik als auch Mitgefühl zu ignorieren – ist ein System, das seinen moralischen Kompass verloren hat.“
Er endet sein Schreiben mit einer nüchternen Aufzählung von Fakten, die den schreierischen Propagandisten der Grünen und der offiziellen Medien eigentlich die Schamröte ins Gesicht treiben müssten.
Erstens möchte er betonen, „dass ich das jüdische Volk in höchstem Maße schätze und immer tiefstes Mitgefühl für seine historischen Leiden und Bewunderung für seine glorreichen kulturellen Errungenschaften empfunden habe.“ Er verweist auf seine eigene Biografie: „Ich bin in einer pluralistischen Familie aufgewachsen, die stolz auf die Vielfalt Indiens war, einschließlich der jahrhundertelangen Anwesenheit von drei verschiedenen jüdischen Gemeinschaften unter uns – den Bene Israel, den Cochini-Juden und den Baghdadi-Juden.“
Sein erster Mentor und Freund sei der indische Dichter und Kunstkritiker Nissim Ezekiel gewesen, ein Mitglied der Bene Israel Gemeinde. Eine seiner Großtanten, Kitty Shiva Rao, sei „als Kitty Verständig in einer jüdischen Familie in Wien geboren“ worden. „Die Shoah ist für mich kein Fremdwort; sie ist einer der Stränge meiner eigenen Familiengeschichte.“
Zweitens sei er gegen die Positionen der Boykott-Kampagne BDS, weil sie „unsere liberalen, progressiven, kritischen und integrativen Kolleg*innen in Israel weiter schwächen und isolieren wird. ... Mein Mitgefühl gilt sowohl dem jüdischen als auch dem palästinensischen Volk, das in Westasien seit mehr als sieben Jahrzehnten ununterbrochene Kämpfe erdulden muss.“
Auch er beklage den Tod unschuldiger Menschen durch den Hamas-Angriff am 7. Oktober, aber er könne nicht „das brutale Vernichtungsprogramm, das die israelische Regierung als Vergeltung gegen die palästinensische Zivilbevölkerung eingeleitet hat“, ignorieren. Jetzt sei es „mehr denn je notwendig, die Gemeinschaften Israels und Palästinas zusammenzubringen“.
Im dritten Punkt verweist Hoskoté auf eine Tatsache, die in der gegenwärtigen deutschen Diskussion besonders bedeutsam ist: Auf der Einladung zu der Veranstaltung 2019, gegen die er protestiert hatte, sei ein Porträt von Theodor Herzl, der Gründerfigur des Zionismus, neben einem Porträt von V. D. Savarkar, einer Gründerfigur der Hindutva, abgebildet gewesen. „Ich fand dies höchst ironisch, da Savarkar als Bewunderer Hitlers bekannt war und offen seine Bewunderung für die Nazi-Ideologie und -Methoden zum Ausdruck brachte“.
Savarkar, der zu den Mördern an Mahatma Ghandi gehörte, betrachtete die Nazi-Methoden als Vorbild für Indien, um die religiösen Minderheiten zu unterdrücken. „Keiner der deutschen Kommentator*innen, die mich anprangerten, hat sich gefragt, warum das israelische Generalkonsulat es überhaupt für angebracht hielt, Zionismus mit Hindutva gleichzusetzen.“
Er habe sein Leben „dem Widerstand gegen autoritäre Kräfte und diskriminierende Ideologien gewidmet“, betont Hoskoté am Ende. Diese Verpflichtung bleibe für ihn „der Eckpfeiler meines Lebens“.
Das Geschrei von Medien und Politikern hierzulande gegen diesen ernsthaften indischen Künstler und Wissenschaftler entlarvt sie letztlich selbst: Nicht die Aussage, der Zionismus sei rassistisch, ist „antisemitisch“ und mit der Nazi-Ideologie zu vergleichen. Sondern umgekehrt, die ethnische Säuberung und Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung, die gerade in diesen Tagen und Stunden in Gaza stattfindet, rückt den Zionismus in die Nähe des Nazi-Faschismus, der von den hinduistischen Nationalisten so bewundert wird. Er richtet sich damit auch gegen die jüdische Bevölkerung und ihre demokratischen Rechte.
Die aggressive Schmutzkampagne gegen die wichtige internationale Kunstausstellung Documenta macht schmerzhaft deutlich, wie die deutsche herrschende Klasse bei ihren erneuten Versuchen, militärisch als Großmacht aufzutreten, zugleich die geistige und kulturelle Mobilmachung betreibt. Es erinnert an ihre Traditionen im 20. Jahrhundert – an den fatalen „Aufruf an die Kulturwelt“ im Ersten Weltkrieg, der die Zerstörungen, Geiselerschießungen, Massaker an Zivilisten im überfallenen Belgien als deutsche Kulturleistung feierte, und an die Gleichschaltung, Bücherverbrennung, Vertreibung jüdischer und linker Künstler unter den Nazis.