Tetradi verchne-ural’skogo politicheskogo izoliatora, 1932–1933, Alexei Gusev, A. Reznik, A. Fokin, V. Schabalin (Hrsg.), Moskau: Trovant 2022, 479 Seiten. Sofern nicht anders vermerkt, beziehen sich alle Seitenangaben auf diesen Band. Übersetzungen aus dem Russischen von dieser Autorin.
Im Jahr 2022 sind die Dokumente der sowjetischen Linken Opposition, die 2018 in einem Gefängnis in Tscheljabinsk aufgefunden worden waren, endlich in russischer Sprache in einer kleinen Auflage von 100 Exemplaren veröffentlicht worden. Der Band, dessen Titel übersetzt „Notizbücher aus dem politischen Isolator von Werchneuralsk, 1932–1933“ lautet, gehört zu den wichtigsten politischen Dokumentenbänden seit vielen Jahrzehnten.
Die Dokumente, die 90 Jahre nach ihrer Entstehung zum ersten Mal öffentlich erschienen sind, bestätigen unwiderlegbar den jahrhundertelangen Kampf der trotzkistischen Bewegung gegen den Stalinismus und für die historische Wahrheit. In ihrer Analyse und Perspektive beweisen sie zudem eindrucksvoll die historische Kontinuität des Trotzkismus, der heute im Internationalen Komitee der Vierten Internationale verkörpert ist.
Der Band besteht aus drei Teilen. Der erste und wichtigste Teil umfasst den Großteil des Manuskripts eines Textes namens „Die Krise der Revolution und die Aufgaben des Proletariats“. Es ist ein wichtiges programmatisches Dokument, verfasst im Jahr 1932 von der orthodoxen trotzkistischen Mehrheit im Gefängnis. Der zweite Teil enthält Protokolle von Debatten, die unter den inhaftierten Oppositionellen geführt wurden, sowie Erklärungen und Artikel, die sie in ihren Gefängniszeitschriften zirkulierten. Der dritte und kürzeste Teil enthält Listen von Büchern, die die Gefangenen bei der Verwaltung bestellt hatten.
Im Rahmen dieser Rezension ist es unmöglich, eine umfassende Bewertung dieser Dokumente vorzunehmen. Die World Socialist Web Site hatte in einem Kommentar zur Entdeckung der Dokumente im Jahr 2018 bereits ausführlich aus dem Dokument über die Bedrohung durch den Faschismus in Deutschland zitiert. Diese Rezension kann nur auf das wichtigste, 150 Seiten lange Dokument, „Die Krise der Revolution und die Aufgaben des Proletariats“, eingehen und beschränkt sich im Übrigen auf die Erläuterung der historischen Bedeutung der Dokumente.
Der historische Kontext: Die trotzkistische Bewegung im Gefängnis und in der Verbannung
Um den Inhalt und die Bedeutung dieser Dokumente zu verstehen, ist es notwendig, kurz den historischen Kontext zu beleuchten, in dem sie entstanden sind. Die Jahre 1932–1933 waren eine der schwersten Perioden in der Geschichte der trotzkistischen Bewegung und der internationalen Arbeiterklasse. In diese Zeit fällt der endgültige Niedergang der Kommunistischen Internationale, die 1919 als Weltpartei der sozialistischen Revolution gegründet worden war, sich jedoch in ein Werkzeug der konterrevolutionären Bürokratie in der Sowjetunion verwandelte. In Deutschland konnte Hitler im Januar 1933 an die Macht kommen, da die Komintern den Kampf von sechs Millionen sozialdemokratischer und kommunistischer Arbeiter gegen die faschistische Gefahr sabotiert hatte, indem sie die Bildung einer Einheitsfront verhinderte. Leo Trotzki reagierte auf diese historische Niederlage mit dem Aufruf zum Aufbau der Vierten Internationale.
In der Sowjetunion fand die Stalinisierung der Kommunistischen Internationale und der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ihren schärfsten Ausdruck in der immer brutaleren Unterdrückung der Trotzkisten, die bis 1933 für eine grundlegende Reform der Partei gekämpft hatten. Nach dem Ausschluss der Opposition aus der Kommunistischen Partei im Zuge der Niederlage der chinesischen Revolution 1927 wurden die meisten aktiven Oppositionellen inhaftiert oder verbannt. Während direkte Tötungen zu dem Zeitpunkt noch selten waren, erkannte das Bulletin schon 1929, dass die Bürokratie nichts Geringeres als die „physische Vernichtung der Bolschewiki–Leninisten“ zum Ziel hatte.[1]
Dies war keine Übertreibung. Die Orte der Verbannung wurden absichtlich so ausgewählt, dass Oppositionelle unter den dortigen Bedingungen schwer erkranken und schließlich sterben würden. Leo Trotzki und seine Frau sowie viele seiner engsten politischen Verbündeten, darunter Christian Rakowski, wurden in entlegene Gebiete der Sowjetunion geschickt, von denen bekannt war, dass dort Cholera- und Malariaepidemien wüteten. Tatsächlich erkrankten viele schwer. Viele Oppositionelle litten an Tuberkulose und erhielten keine medizinische Behandlung. Etliche starben an den Folgen, so wie Trotzkis jüngste Tochter Nina im Jahr 1929.
In den Jahren 1930–1931 wurden immer mehr Oppositionelle in sogenannte „Politisolatoren“ geschickt. Das größte solche Gefängnis lag in Werchneuralsk in Tscheljabinsk, wo man die Dokumente gefunden hat. Bis 1931 waren dort über 200 Trotzkisten inhaftiert.
Einer von ihnen, Ante Ciliga, ein jugoslawischer Kommunist und Oppositioneller, erinnerte sich später, dass es den Trotzkisten trotz strenger Überwachung gelang, sich Broschüren und Briefe von Trotzki und Rakowski zu beschaffen und sogar mit der Opposition im Ausland zu kommunizieren. Das politische Leben im Gefängnis, so Ciliga, machte dieses zu einer „Universität für Sozial- und Politikwissenschaften“, der „einzigen unabhängigen Universität in der UdSSR“.[2] Bei Spaziergängen fanden Debatten und politische Treffen statt, von denen zumindest einige schriftlich festgehalten wurden. Darüber hinaus wurden mehrere Zeitschriften unterschiedlicher politischer Strömungen innerhalb der Opposition herausgegeben. Die handschriftlich verfassten und kopierten Dokumente, die oft schwer zu entziffern sind, überlebten versteckt hinter den Wandverkleidungen und unter den Bodenplatten des Gefängnisses.
Die Opposition befasste sich damit, die grundlegendsten politischen, historischen und theoretischen Fragen zu klären, mit denen die internationale Arbeiterbewegung unter den Bedingungen einer schweren politischen Krise konfrontiert war. Nach der Niederschlagung des britischen Generalstreiks 1926 und der chinesischen Revolution 1927 war die Weltwirtschaftskrise ausgebrochen, in Deutschland befand sich die nationalsozialistische Bewegung auf dem Vormarsch. In der Sowjetunion hatte die stalinistische Bürokratie 1928 den Fünfjahresplan beschlossen und damit ein Programm zur raschen Industrialisierung und Zwangskollektivierung von Bauernhaushalten eingeleitet, das 1931–1932 in den ländlichen Gebieten der Sowjetunion zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte.
In seiner Einleitung zu dem Band erwähnt der russische Historiker Alexei Gusev, der an der Moskauer Staatsuniversität lehrt, der Eliteinstitution des Landes, praktisch nichts von diesem Kontext. Damit werden jedoch die publizierten Dokumente nahezu unverständlich. Stattdessen zitiert er einzelne historische Fakten auf eine Art und Weise, die darauf abzielt, die politische Bedeutung und das Programm der trotzkistischen Bewegung in jenen Jahren herunterzuspielen. Dies ist kein Zufall. Wie mehrere der anderen Herausgeber gehört Gusev der pablistischen Tendenz an, die das Programm und die Kontinuität des Trotzkismus seit der Nachkriegszeit zurückweist. Diese antitrotzkistische politische Einstellung hat eindeutig beeinflusst, wie die Herausgeber die Dokumente präsentieren.
So schreibt Gusev, dass 1929–1930 die „Mehrheit“ der Mitglieder der Opposition und 10 von 13 ihrer Anführer, die 1927 die Plattform der Opposition unterzeichnet hatten, vor Stalin kapituliert hätten. Zunächst muss festgestellt werden, dass es keine dokumentarischen Beweise dafür gibt, dass die „Mehrheit“ der Opposition kapituliert hat. Im Gegenteil, es gibt Belege dafür, dass die Opposition, insbesondere in den Jahren 1928–1930, einen erheblichen Zuwachs erlebte, vor allem unter jungen Arbeitern, von denen Tausende fast unmittelbar nach Beginn ihrer oppositionellen Aktivitäten in die Verbannung geschickt und ins Gefängnis geworfen wurden.[3]
Zweitens: Während in der Zeit von 1928–1929 tatsächlich ein großer Teil der alten Führung der Opposition kapitulierte, führten Trotzkis politische Intervention und sein Kampf um Klärung dazu, dass die Opposition in den Jahren 1930–1931 als politisch gefestigte internationale Tendenz mit fester Führung entstand. Das wichtigste Dokument dieses Kampfs war Trotzkis „Kritik des Programmentwurfs des VI. Weltkongresses der Kommunistischen Internationale“ aus dem Jahr 1928. Darin zog Trotzki die Lehren aus den vorangegangenen fünf Jahren des Kampfs gegen den Stalinismus und entwickelte die bisher umfassendste Kritik an den internationalen und innenpolitischen Auswirkungen des reaktionären nationalistischen Programms des „Sozialismus in einem Land“. Dieser Text beginnt mit den berühmten Worten:
In unserer Epoche, welche die Epoche des Imperialismus, d. h. der Weltwirtschaft und der Weltpolitik unter der Herrschaft des Finanzkapitals ist, vermag keine einzige Kommunistische Partei ihr Programm lediglich oder vorwiegend aus den Bedingungen und Entwicklungstendenzen ihres eigenen Landes abzuleiten. Dasselbe gilt in vollem Umfang auch für die Partei, die innerhalb der UdSSR die Staatsmacht ausübt. … Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches im Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus entspricht. … In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Darin besteht der grundlegende und ursächliche Unterschied zwischen der Kommunistischen Internationale und allen Abarten des nationalen Sozialismus.[4]
In Nordamerika und China gingen damals die Anhänger der Opposition dazu über, organisierte Gruppen aufzubauen. In der Sowjetunion diente das Dokument als Grundlage für die politische Konsolidierung der Opposition, nachdem mehrere ihrer alten Führer wie Jewgeni Preobraschenski, Iwar Smilga und schließlich Alexander Beloborodow kapituliert hatten. Trotzki war zwar empört über die Kapitulationen, verstand sie jedoch als Teil eines objektiven Prozesses der politischen Differenzierung.
In einem Kommentar zur Kapitulation von Preobraschenski, Radek und Smilga im Jahr 1929 betonte Trotzki, dass sie schon vor ihrem Austritt aus der Opposition die Perspektive der permanenten Revolution zurückgewiesen und in der chinesischen Revolution von 1925–1927 die unabhängige Rolle der proletarischen Partei geleugnet hatten. (Gusev erwähnt in seiner Einleitung die chinesische Revolution nicht einmal.) Wie Trotzki anmerkte, hatten alle drei während der chinesischen Revolution unterstützt, dass die Kommunistische Partei Chinas sich der bürgerlich-nationalistischen Guomindang unterordnen sollte: „Es ist eine auffällige Tatsache: Alle, die in den Reihen der Opposition die Unterordnung der Kommunistischen Partei unter die Guomindang verteidigten, haben sich als Kapitulanten erwiesen.“
In Vorwegnahme der Argumente von Pablisten wie Gusev, die die Kapitulationen als Zeichen der Schwäche der Opposition interpretieren, fuhr Trotzki fort:
Die Kapitulation der Oppositionellen, die die Troika unterstützen, ist heute natürlich ein Trumpf in den Händen des Apparats. Die Apparatschiks, Schwätzer und Straßengaffer sprechen vom „Zerfall der trotzkistischen Opposition“. Jaroslawski schreibt von der „Dämmerung des Trotzkismus“.[5]
Trotzki wies diese Behauptungen über den Untergang der Opposition mit Verachtung zurück, und die Geschichte hat seine Einschätzung bestätigt. Die Internationale Linke Opposition gründete 1938 die Vierte Internationale, eine Tatsache, die Gusev nicht erwähnt. Die neu veröffentlichten Dokumente liefern unwiderlegbare Beweise dafür, dass die sowjetische trotzkistische Bewegung ihren politischen Kampf auf höchstem theoretischem Niveau auch unter schwierigsten Bedingungen fortsetzen konnte. Die Tatsache, dass Gusev in der Einführung zu diesen historischen Dokumenten die alte stalinistische Erzählung über den angeblichen Niedergang der Opposition wiederaufleben lässt, kann nur als Versuch verstanden werden, die politische Wirkung dieser Dokumente zu entschärfen. Aber für jeden ehrlichen Leser werden die Dokumente für sich selbst sprechen.
„Die Krise der Revolution und die Aufgaben des Proletariats“, 1932
Das wichtigste Dokument in dem Band, „Die Krise der Revolution und die Aufgaben des Proletariats“, wurde im Juli 1932 fertiggestellt. Es war eine wichtige programmatische Erklärung der sowjetischen trotzkistischen Bewegung. Ihr Ziel bestand darin, die Arbeit der Opposition in der kommenden Zeit anzuleiten und eine Bilanz der ersten zehn Jahre des Kampfs zu ziehen. Das Dokument befasste sich mit den Hauptthesen eines kürzeren Dokuments aus dem Jahr 1930, welches ebenfalls den Titel „Die Krise der Revolution“ trug, Trotzki bekannt war und in Teilen im Bulletin der Opposition veröffentlicht worden war.
Das Manuskript besteht aus elf Teilen. Es beginnt mit einer Diskussion über die „strategische Linie der proletarischen Revolution“ und einer Verteidigung der Perspektive der permanenten Revolution. Darauf folgen Analysen der Entwicklung der „Klassenbeziehungen in der UdSSR“, der internationalen Situation und des Verrats der Kommunistischen Internationale, der sowjetischen Wirtschaft im Rahmen des ersten Fünfjahresplans und der Situation, mit der die sowjetische Arbeiterklasse und die Bauernschaft konfrontiert sind. In den abschließenden Teilen wird die Analyse des sowjetischen Bonapartismus, die Trotzki 1930 begonnen hatte, weiterentwickelt. Zudem werden der Zustand der Partei sowie die Taktik und die programmatischen Vorschläge der Bolschewiki-Leninisten erörtert. Man hat nur neun der elf Teile wiedergefunden und veröffentlicht; auch der Anhang fehlt. Dennoch handelt es sich um ein Dokument von über 150 eng bedruckten Seiten, das zweifellos zu den wichtigsten Dokumenten der Geschichte der sozialistischen Bewegung gehört.
Um einen Eindruck vom theoretischen Niveau und der politischen Ausrichtung dieser Arbeit zu vermitteln, ist es angebracht, einige längere Passagen aus den wichtigsten Abschnitten zu zitieren. Das Dokument beginnt mit der Bekräftigung, dass die Oktoberrevolution auf Lenins Übernahme der Theorie der permanenten Revolution beruhte.
Beim Oktoberumsturz war die demokratische Revolution direkt mit der ersten Phase der sozialistischen Revolution verbunden. Das Programm der bolschewistischen Partei, das Lenin auf dem 8. Kongress [im März 1919] ausgearbeitet hatte, betrachtet die Oktoberrevolution als die erste Phase der Weltrevolution und ist von dieser nicht zu trennen. In dieser Bestimmung unseres Programms kommt das Grundprinzip der permanenten Revolution zum Ausdruck. … Lenin wiederholte unermüdlich, dass „unsere Rettung aus all diesen Schwierigkeiten in der gesamteuropäischen Revolution liegt“, und: „Wir sind weit davon entfernt, auch nur die Übergangszeit vom Kapitalismus zum Sozialismus zu vollenden. Wir sollten uns niemals der Hoffnung hingeben, dass wir dies ohne die Hilfe des internationalen Proletariats schaffen können“ (Lenin). Diese leninistischen Grundsätze, die die Grundlage der Theorie der permanenten Revolution bilden, definieren die strategische Linie des Marxismus-Bolschewismus. Dem steht die Theorie des Sozialismus in einem Land entgegen, die der vollendeten Revolution eine nationale Weihe verleiht, sie von der internationalen Revolution trennt und die strategische Grundlage des National-Sozialismus bildet. (S. 24)
Ein ganzes Kapitel ist den Wurzeln des „National-Sozialismus“ der Stalin-Fraktion in der Geschichte der bolschewistischen Partei und der Entwicklung der Revolution gewidmet. Diese „neue Variante des nationalen Sozialismus in Russland“, so erklären die Autoren, war ideologisch im rechten Flügel der bolschewistischen Partei verankert,
der entschieden gegen die Machtergreifung durch das Proletariat auftrat und unsere Revolution auf einen bürgerlich-demokratischen Rahmen beschränkte. Im Zeitraum von Februar bis März 1917 führten alle heutigen Epigonen ohne Ausnahme und nach Lenins Ankunft – Kamenew, Rykow, später Sinowjew und andere rechte Bolschewiki – einen unerbittlichen Kampf gegen Lenin. Sie rutschten schließlich in die Position des linken Flügels der radikalen kleinbürgerlichen Demokratie ab. Das veranlasste Lenin sogar dazu, die Frage zu stellen: „Gibt es in unserer Partei einen Platz für rechten Bolschewismus?“ (S. 29f.)
Das Dokument bezeichnet den „stalinistischen Zentrismus“ und seinen „National–Sozialismus“ als „ideologischen Nachfolger des rechten Bolschewismus“.
Die leninistische Opposition hingegen vertritt als einzige die Positionen des Proletariats. Unter schwierigen Bedingungen verteidigt sie weiterhin die strategische Linie des Marxismus–Bolschewismus gegen den National–Sozialismus. Sie bewertet jeden Schritt unserer Revolution vom Standpunkt der Entwicklung der Weltrevolution und verbindet mit ihr und nur mit ihr ihre grundlegende historische Perspektive. (S. 37, Hervorhebung im Original)
Diese Analyse steht nicht nur im Einklang mit Trotzkis Hauptwerken zur Geschichte der bolschewistischen Partei und der Revolution (z. B. mit den „Lehren des Oktober“, seiner Autobiografie, seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ und seiner Stalin-Biografie). Sie findet sich auch in der Analyse der verschiedenen Tendenzen innerhalb der bolschewistischen Partei, wie sie das Internationale Komitee nach 1991 entwickelt hat.
In einem Vortrag aus dem Jahr 2001 mit dem Titel „Zum Stellenwert Leo Trotzkis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“ erklärte der Chefredakteur der WSWS und Vorsitzende der amerikanischen Socialist Equality Party, David North, dass Trotzkis Perspektive der permanenten Revolution „einen wichtigen theoretischen Durchbruch“ darstellte. Im Gegensatz zu den Menschewiki und den Bolschewiki trat Trotzki „für eine andere Herangehensweise ein: Die Revolution sollte in der modernen Epoche als ein im Wesentlichen welthistorischer Prozess aufgefasst werden, ein Prozess des Übergangs von der Klassengesellschaft, die politisch in Nationalstaaten verwurzelt ist, zu einer klassenlosen Gesellschaft, die sich auf der Grundlage einer global integrierten Wirtschaft und der international vereinten Menschheit entwickelt“. In der bolschewistischen Partei entwickelten sich jedoch gegenläufige „nationalistische und kleinbürgerlich-demokratische“ Tendenzen, die die „Vermischung von nationaldemokratischen und sozialistischen Tendenzen“ in der Revolution widerspiegelten.[6]
Diese Tendenzen lagen der Opposition rechter Bolschewiki gegen die Machtergreifung von 1917 zugrunde, die Trotzki in seinen „Lehren des Oktobers“ von 1924 ausführlich analysierte.
Vor 1917 hatte sich Lenin noch gegen die Theorie der permanenten Revolution ausgesprochen. Er lehnte zwar die Zusammenarbeit mit der liberalen Bourgeoisie ab, betrachtete die Revolution aber dennoch im Wesentlichen als bürgerlich–demokratisch und sah keine Möglichkeit für die Arbeiterklasse, in einem wirtschaftlich so rückständigen Land wie Russland die Macht allein zu ergreifen. Aufgrund seiner Analyse des Imperialismus während des Ersten Weltkriegs übernahm Lenin jedoch im April 1917 Trotzkis Auffassung der Dynamik des revolutionären Prozesses und stützte sich in seinen Aprilthesen darauf. Diese Wende Lenins bildete die Grundlage für seinen entschlossenen Kampf gegen den national orientierten, kleinbürgerlich-demokratischen Flügel der Parteiführung. Ein zentraler Bestandteil dieses Kampfs und der Neuausrichtung der bolschewistischen Partei war die Aufnahme Trotzkis und seiner Anhänger von den sogenannten Interrayonisten (Meschrayonzy) in die bolschewistische Partei im Sommer 1917 und die sofortige Aufnahme Trotzkis in die bolschewistische Führung.
Während der Machtergreifung und des Bürgerkriegs sorgte das politische Bündnis zwischen Lenin und Trotzki dafür, dass die Revolution überlebte und auf große Teile des ehemaligen russischen Reiches ausgedehnt werden konnte. Da die Revolution jedoch nicht international ausgeweitet wurde, erstarkten Anfang der 1920er Jahre erneut die nationalistischen Tendenzen in der bolschewistischen Partei, insbesondere nach Lenins Tod Anfang 1924. Sie wurden zum politischen Hebel für die Usurpation der Staatsmacht durch die Bürokratie und ihre nationalistische Reaktion gegen die Oktoberrevolution.
Die sowjetischen Trotzkisten analysierten sorgfältig die Auswirkungen dieses Prozesses auf die Entwicklung der Kommunistischen Internationale. Das Dokument erklärt den Verrat an der internationalen Revolution in China, Indien und England als Folge der Aufgabe von Lenins und Trotzkis Strategie der Weltrevolution.
Die welthistorische Bedeutung der Dritten Internationale liegt in der Tatsache, dass sie begann, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen, eine Losung, die nach Lenins Worten „die jahrhundertelange Entwicklung des Sozialismus und der Arbeiterbewegung zusammenfasste“.
Im Kampf um diese grundlegende Losung stützte die Kommunistische Internationale unter Lenins Führung ihre Strategie auf Marx’ Theorie der permanenten Revolution, die die proletarische Revolution in einzelnen Ländern als Glieder einer sich entwickelnden Weltrevolution und letztere als einen einzigen Prozess verstand, der sich aus den Entwicklungsbedingungen der gesamten Weltwirtschaft ergibt.
Die Theorie des Sozialismus in einem Land, die von ihren Epigonen in den Jahren 1924–1925 entwickelt wurde, ignoriert und leugnet diese beiden Hauptpositionen des Marxismus. (S. 155)
In mehreren Kapiteln wird die Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft im Rahmen des ersten Fünfjahresplans ausführlich erörtert. An dem Dokument besticht besonders das hohe Maß an politischem Bewusstsein der Opposition für das, was sie selbst repräsentierte. Der Abschnitt über die Taktik der Opposition beginnt mit einem Abriss ihres historischen Ursprungs und ihrer Entwicklung:
Die leninistische Opposition ist vor allem eine internationale Tendenz. Ihre Entstehung und Entwicklung wurzeln in den tiefgreifenden Veränderungen der gesamten internationalen Lage nach der Niederlage der ersten Welle der europäischen Revolution in den Jahren 1921–1923. Die sogenannte Stabilisierung des Kapitalismus führte zur Stärkung der Position des Sozialreformismus in der Arbeiterklasse, einem Niedergang der kommunistischen Weltbewegung und dem Erstarken der Mitte-Rechts-Elemente in ihren Reihen. Der linke leninistische Flügel der Komintern erlitt mehrere Niederlagen, bis er schließlich [Ende 1927] offiziell aus den Reihen der Komintern ausgeschlossen wurde.
Die Niederlage des linken Flügels des Kommunismus brachte den Abschluss einer Verschiebung in den weltweiten Beziehungen zum Ausdruck. Diese Niederlage führte jedoch nicht zur Auflösung der oppositionellen Bewegung.
Die Widersprüche der Weltwirtschaft haben die „Stabilisierung“ [des Kapitalismus] stetig untergraben und teilweise zum Aufschwung im proletarischen Klassenkampf geführt, auf dessen Welle der linke Flügel erneut gestärkt wurde und neue Lebensquellen erhielt. Die moderne Epoche birgt die größten revolutionären Möglichkeiten. (S. 120)
Auf der Grundlage dieser internationalistischen Orientierung boten die orthodoxen Trotzkisten eine objektive Analyse der verschiedenen politischen Strömungen, die sich in der vorangegangenen Periode innerhalb der Linken Opposition entwickelt hatten. Eine dieser Strömungen bezeichneten sie als „linke Zentristen“. Zu ihr gehörten zuerst Grigori Sinowjew und Lew Kamenew, die von 1926 bis Anfang 1928 einen Block mit der trotzkistischen Opposition gebildet hatten, und später Jewgeni Preobraschenski, Iwar Smilga und Karl Radek, die 1929 kapituliert hatten.
Wie die Opposition erklärt, beruhte deren Kapitulation vor dem Stalinismus auf einer Anpassung an die nationale Ausrichtung der Bürokratie. Wie es weiter heißt, hatten sie „die Theorie des Sozialismus in einem Land nicht als strategische Grundlage des Zentrismus aufgefasst, die eng mit seiner internationalen und inneren Politik verbunden ist“. Stattdessen bezogen die linken Zentristen „alle ihre Differenzen mit der stalinistischen Bürokratie nur auf die Methoden in der Durchführung dieser Wirtschaftspolitik des Stalinismus und auf Fragen ihres Regimes. Dabei ignorieren sie die Tatsache, dass sowohl die Methoden der Politik als auch die Fragen des Regimes nicht für sich allein stehen, sondern mit der strategischen Linie des Stalinismus vollständig verbunden sind, sich von ihr ableiten und einen untrennbaren Bestandteil der stalinistischen Politik selbst bilden.“ (S. 155)
Die zweite Minderheitentendenz waren die „Demokratischen Zentralisten“. Diese hatten sich während des Bürgerkriegs als ultralinke Opposition gegen die Parteiführung unter Lenin und Trotzki gestellt und schon früh Kritik an der Bürokratisierung des Sowjetstaats geübt. Im Gegensatz zu Lenin und Trotzki taten sie dies jedoch von einem kleinbürgerlich-radikalen und nationalen Standpunkt aus. Sie nahmen staatskapitalistische Vorstellungen von der Sowjetunion vorweg, die in den 1930er Jahren von breiteren Schichten der radikalen Intelligenz aufgegriffen werden sollten. 1923 hatten sich die Demokratischen Zentralisten mit den Trotzkisten zur Linken Opposition zusammengeschlossen. Grundlegende politische Differenzen blieben jedoch immer bestehen. Das Dokument fasst die Positionen der Demokratischen Zentralisten prägnant und scharf zusammen:
Der Versuch, den Widersprüchen der Übergangsperiode innerhalb eines nationalen Rahmens zu entkommen, einen idealen isolierten nationalen Arbeiterstaat aufzubauen, den Bürokratismus endgültig durch Methoden zu beseitigen, die aufgrund ihrer Funktion eine absolute Garantie gegen die Wiederentstehung einer Avantgarde darstellten und eine krisenfreie Entwicklung innerhalb eines nationalen Rahmens gewährleisten, ist eine kleinbürgerliche Utopie. Die Arbeiterbewegung hat sie auf ihrem Weg längst hinter sich gelassen. Sie stellt nur die ultralinke, anarchosyndikalistische Kehrseite des stalinistischen National-Sozialismus dar. (S. 158, Hervorhebung im Original)
Beide Tendenzen, die linken Zentristen und die Demokratischen Zentralisten, übten in den 1930er Jahren weiterhin Einfluss auf die Opposition aus, was sich teilweise auch in den Dokumenten selbst widerspiegelt. Im zweiten Teil des Bands sind dazu Protokolle von Debatten, Briefen und Artikelfragmenten zusammengestellt. Leider ist die Dokumentation dieser Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten fragmentarisch, oft ist nur eine Seite der Debatte dokumentiert.
Die pablistischen Herausgeber des Bands haben praktisch nichts unternommen, um diese Unterschiede in ihrem Zusammenhang verständlich zu machen. Und das, obwohl die Differenzen im Bulletin der Opposition ausführlich diskutiert worden waren. Sie widerspiegelten den sozialen Druck und die politischen Vorstellungen, die sich Anfang der 1930er Jahre nicht nur in der sowjetischen, sondern auch in der Internationalen Linken Opposition ausdrückten. In vielen Artikeln und Stellungnahmen befasste sich Trotzki mit staatskapitalistischen Auffassungen von der Sowjetunion, die für die Demokratischen Zentralisten typisch waren, und mit verschiedenen Formen zentristischer Standpunkte, die in den Reihen der Internationalen Linken Opposition aufkamen.
Stattdessen betont Alexei Gusev in seiner Einleitung die Unterschiede und Spaltungen innerhalb der Opposition in einem rein nationalen Kontext, ohne dabei auf das Offensichtliche hinzuweisen: dass nämlich die Mehrheit, die das Dokument von 1932 unterzeichnet hatte, an den politischen und historischen Prinzipien festhielt, die Leo Trotzki in allen wichtigen Dokumenten der Opposition im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens dargelegt hatte. Diese Verzerrung steht im Einklang mit den langjährigen Bestrebungen von Leuten wie Gusev und anderen pablistischen Autoren, wie beispielsweise Alexander Reznik und Simon Pirani, die 1985–1986 auf einer nationalistischen Grundlage mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale gebrochen hatten.
In ihren Büchern über die Opposition der letzten 20 Jahre haben Gusev, Reznik und Pirani versucht, die Bedeutung Trotzkis und der Perspektive der permanenten Revolution herunterzuspielen, indem sie die Bedeutung der Demokratischen Zentralisten übermäßig betonten. Diese Argumentation läuft im Wesentlichen darauf hinaus, dass sie die Kontinuität der trotzkistischen Bewegung leugnen. Diese Position ist für die politische Ausrichtung der Pablisten seit ihrem Bruch mit der Vierten Internationale im Jahr 1953 von zentraler Bedeutung.
Die Dokumente beweisen jedoch, dass dies im Kern falsch ist. Sie zeigen, dass die sowjetische Opposition weiterhin von Marxisten angeführt wurde, die sogar unter schwierigsten Bedingungen die Prinzipien des revolutionären Internationalismus und die Strategie der permanenten Revolution aufrechterhielten und weiterentwickelten.
Nicht nur die Dokumente selbst, sondern auch die Biografien der Autoren sprechen eindringlich für die Kontinuität des Bolschewismus und Trotzkismus, die im Kampf der Opposition gegen den Stalinismus zum Ausdruck kam. Verfasst wurden sie von einer Gruppe außergewöhnlicher Revolutionäre, deren herausragende Beiträge zum Kampf für den Sozialismus aufgrund der Verbrechen des Stalinismus für eine ganze historische Periode nicht zugänglich waren.
So besteht ein wichtiger Beitrag dieses Bandes darin, dass er es Arbeitern und Jugendlichen innerhalb und außerhalb der ehemaligen Sowjetunion ermöglicht, einen Eindruck von dem gewaltigen politischen und theoretischen Format dieser Marxisten zu bekommen und sich von ihrem politischen Kampf inspirieren zu lassen. Den Herausgebern muss zugute gehalten werden, dass sie ihren Band um Kurzbiografien von Dutzenden inhaftierter Trotzkisten ergänzt haben.
Dabei fällt auf, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen Vertreter der jüngeren Generation der Oppositionellen waren. Größtenteils wurden sie um die Jahrhundertwende geboren, erlebten die Oktoberrevolution als Jugendliche und schlossen sich in der Folge den Bolschewiki an. Sie wurden vor allem in den Feuern des Bürgerkriegs und des Kampfs gegen den Stalinismus der 1920er Jahre gestählt und erprobt, in dessen Verlauf sie die Traditionen, Perspektiven und Kampfmethoden von Leo Trotzki und den altbolschewistischen Führern der Opposition übernahmen.
Vier von ihnen wollen wir hier nennen:
Fjodor Dingelstedt. 1890 in St. Petersburg geboren, war er seit 1910 Mitglied der bolschewistischen Partei und entwickelte sich während des Ersten Weltkriegs zu einem wichtigen Anführer der Parteiarbeit unter Studierenden und Industriearbeitern. Als bolschewistischer Agitator auf mittlerer Ebene nahm er 1917 an beiden Revolutionen jenes Jahres und später am Bürgerkrieg teil. Er besuchte das Institut der Roten Professur, eine Elite-Parteischule in Moskau, und verfasste mehrere Bücher und Broschüren, darunter die Studie „Die Agrarfrage in Indien“ (1928). Ab Ende der 1920er Jahre verbrachte er mehr als zehn Jahre in der Verbannung, in Gefängnissen und Straflagern. Seine Frau, eine Anhängerin der Demokratischen Zentralisten, und sein Sohn wurden am 30. März 1938 erschossen, nachdem sie sich am Hungerstreik in Workuta beteiligt hatten. Dingelstedt soll Anfang der 1940er Jahre in einem Lager gestorben sein.
Eleasar Solnzew. Er wurde 1897 in Winnyzja in der heutigen Ukraine geboren. Seine Familie gehörte zur jüdischen Mittelschicht. Er trat der bolschewistischen Partei in der Anfangsphase des Bürgerkriegs im Jahr 1919 bei, zu einer Zeit, als Leo Trotzkis politische Bedeutung in der Partei nur von derjenigen Lenins übertroffen wurde. Anschließend studierte er am Institut der Roten Professur. Wie die Mehrheit der Studierenden dieses Instituts entschied sich Solnzew 1923 für die Linke Opposition. Trotzki betrachtete ihn als einen seiner „engsten Mitarbeiter“.[7] In den Jahren 1927–1928, als er als Vertreter der sowjetischen Handelsorganisation Amtorg in New York tätig war, legte Solnzew dort den Grundstein für die amerikanische Linke Opposition, die schließlich im Herbst 1928 von James P. Cannon gegründet wurde. Kurz nach seiner Rückkehr in die UdSSR wurde Solnzew verhaftet, und den Rest seines Lebens verbrachte er im Gefängnis und in der Verbannung. Nach mehreren Hungerstreiks geschwächt und krank, starb er Ende 1935.
Grigori Jakowin. Wie Solnzew wurde Jakowin 1899 in der heutigen Ukraine geboren. Während des Bürgerkriegs schloss er sich den Bolschewiki an und studierte am Institut der Roten Professur, wo er sich auf Geschichte spezialisierte. Trotzki beschrieb ihn in seiner Aussage vor der Dewey-Kommission als „brillanten Gelehrten, der ein außergewöhnlich brillanter Mann war“.[8] 1927 half Jakowin bei der Ausarbeitung des Programms der Vereinigten Linken Opposition. Nach dem Ausschluss der Opposition aus der Partei auf dem 15. Parteitag im Dezember 1927 war er Mitglied der zentralen Untergrundführung der Opposition. Nach seiner Verhaftung im Jahr 1928 verbrachte er die letzten zehn Jahre seines Lebens in verschiedenen Gefängnissen und Lagern. Er wurde am 1. März 1938 im Rahmen einer Massenhinrichtung von Trotzkisten ermordet, die im Arbeitslager von Workuta einen Hungerstreik angeführt hatten.
Georgi Stopalow. Stopalow wurde 1900 in der Ukraine geboren und gehörte derselben Generation an wie Solnzew und Jakowin. Er absolvierte ebenfalls ein Studium am Institut der Roten Professur. Er arbeitete für die Opposition in Baku im Kaukasus, ehe er 1929 verhaftet und von Gefängnis zu Gefängnis, von Lager zu Lager geschickt wurde. Er und seine Frau Viktoria Lemberskaja, ebenfalls eine Trotzkistin, wurden im Jahr 1937 im Abstand von nur vier Wochen im Lager Kolyma in Magadan erschossen.
Diese Personen – und viele weitere, die hier nicht alle genannt werden können – verkörperten eine außerordentliche politische, intellektuelle und theoretische Stärke und moralische Integrität und hatten ein ausgeprägtes Gespür für ihren eigenen Platz in der Geschichte. Dies machte sie zu herausragenden Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts und der Oktoberrevolution. Sie entsprachen dem Typus eines bolschewistischen Revolutionärs, dessen Hauptmerkmale niemand besser auf den Punkt brachte als Leo Trotzki.
In einer bewegenden Würdigung seines langjährigen Genossen und Freundes Kote Zinzadse, eines alten georgischen Bolschewisten, der 1930 in der Verbannung an Tuberkulose gestorben war, schrieb Trotzki:
Mit Zinzadses Tod verschwand eine der anziehendsten Figuren des alten Bolschewismus von der Bühne. Dieser Kämpfer, der mehr als einmal seine eigene Brust dem Feuer bot und seine Feinde zu bestrafen wusste, war im persönlichen Umgang ein Mann von außergewöhnlicher Sanftmut. Gutmütiger Spott und ein etwas verschmitzter Humor verbanden sich in diesem hartgesottenen Terroristen mit einer Zärtlichkeit, die man fast weiblich nennen könnte. Die schwere Krankheit, die ihn nicht eine Stunde aus ihren Klauen ließ, konnte weder seine moralische Festigkeit brechen, noch seine stets fröhliche Stimmung und sanfte Aufmerksamkeit für die Menschen trüben.
Kote war kein Theoretiker. Aber sein klarer Verstand, sein revolutionärer Instinkt und seine große politische Erfahrung – die lebendige Erfahrung aus drei Revolutionen – wappneten ihn besser, ernsthafter und zuverlässiger als eine formal aufgefasste Doktrin den weniger Standhaften wappnet. So wie Lear, in Shakespeares Worten, mit jedem Zoll ein König ist, war Zinzadse mit jedem Zoll ein Revolutionär. Vielleicht zeigte sich sein Charakter am deutlichsten in den letzten acht Jahren des anhaltenden Kampfs gegen die drohende und sich verstärkende Vorherrschaft der geistlosen Bürokratie. …
Zinzadse war die lebendige Zurückweisung und Verurteilung jeglicher Art von politischem Karrierismus, d. h. Prinzipien, Ideen und Ziele des Ganzen im Interesse persönlicher Ziele zu opfern. Das bedeutet nicht, die Legitimität revolutionären Ehrgeizes zu leugnen. Nein, politischer Ehrgeiz ist ein wichtiger Antrieb für den Kampf. Aber der Revolutionär beginnt dort, wo der persönliche Ehrgeiz voll und ganz in den Dienst der großen Idee gestellt wird, sich ihr freiwillig unterordnet und mit ihr verschmilzt. Mit Ideen zu liebäugeln, mit revolutionären Formeln zu fechten, seine Position aus Gründen der persönlichen Karriere zu ändern – das ist es, was Zinzadse mit seinem Leben und seinem Tod gnadenlos verurteilte. Kotes Ehrgeiz war ein Ehrgeiz unerschütterlicher revolutionärer Loyalität. Das ist es, was die proletarische Jugend von ihm lernen muss.[9]
Mit der unsentimentalen Klarsicht, die für die sowjetischen Trotzkisten so bezeichnend war, erkannte Zinzadse selbst sehr gut, welches Schicksal die Geschichte für ihn und seine Kameraden bereithielt. Er verstand jedoch auch die objektive Bedeutung ihres Kampfes für künftige Generationen. In einem Brief an Trotzki vom Juni 1928 schrieb er:
So viele unserer Genossen und derer, die uns nahe stehen, erwartet das undankbare Schicksal, ihr Leben irgendwo in einem Gefängnis oder in der Verbannung zu beenden, aber letztlich wird all dies eine Bereicherung der Revolutionsgeschichte sein, aus der neue Generationen lernen werden. Die proletarische Jugend wird, wenn sie erst einmal den Kampf der bolschewistischen Opposition gegen den opportunistischen Parteiflügel kennengelernt hat, verstehen, auf wessen Seite die Wahrheit steht.[10]
Schluss
Schon früh erkannte Leo Trotzki, dass es im Kampf gegen den Stalinismus nicht nur um Taktik oder einzelne politische Maßnahmen ging, sondern um die gesamte Kontinuität des Marxismus. Er betonte daher, dass die wichtigste Grundlage für diesen Kampf die Verteidigung der historischen Wahrheit über die Oktoberrevolution und die dokumentarische Aufzeichnung des politischen Kampfes innerhalb der revolutionären Bewegung sein müsse. In seinem Werk „Stalins Schule der Fälschung“ betonte Trotzki:
Es bleibt eine unbestreitbare historische Tatsache, dass die Vorbereitung der blutigen Justizkomplotte [der Moskauer Prozesse] ihren Anfang in den „geringfügigen“ historischen Verzerrungen und „harmlosen“ Fälschungen von Zitaten nahm. … Der prominenteste Platz im Kampf gegen den „Trotzkismus“ wurde den historischen Fragen eingeräumt.[11]
Der stalinistischen Bürokratie war keine Verleumdung und keine Lüge zu groß, um sie gegen die trotzkistische Bewegung einzusetzen. Sie beschlagnahmte und vernichtete systematisch Dokumente, Bücher und Broschüren, die von der Opposition und den Anführern der Revolution und des Bürgerkriegs verfasst worden waren, und sperrte andere für Jahrzehnte weg. Letztendlich war die historische Funktion dieser grausamen Fälschungskampagne die Zerstörung des historischen Bewusstseins und damit des Klassenbewusstseins der Arbeiterklasse.
Infolgedessen sind Quellen über die sowjetische Opposition und ihren politischen Kampf in den 1930er Jahren bis heute äußerst rar. Soweit vorhanden, beschränkten sie sich weitgehend auf die Korrespondenz in Trotzkis Archiven und anekdotische Erinnerungen in den Memoiren von Überlebenden des stalinistischen Terrors.
Die stalinistische Reaktion auf den Oktober gipfelte 1991 in der Auflösung der Sowjetunion durch die Bürokratie und der Restauration des Kapitalismus. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale reagierte auf die Zerstörung der Sowjetunion und die Krise des politischen Bewusstseins, die dadurch offengelegt wurde, mit dem Aufruf für eine „Kampagne zur Aufdeckung der historischen Wahrheit“ über die Verbrechen des Stalinismus. Diese Kampagne umfasste die Veröffentlichung der Werke des sowjetischen Historikers Wadim Rogowin über den Kampf der Linken Opposition und eine Vortragsreise Rogowins. Sie beinhaltete auch die detaillierte Widerlegung der postsowjetischen Schule der Geschichtsfälschung durch westliche Akademiker, die nach 1991 die stalinistischen Verleumdungen von Leo Trotzki wiederbelebten, um zu verhindern, dass sich eine neue Generation von Arbeitern und Jugendlichen dem Erbe Trotzkis zuwendet . Dieser Kampf ist in Büchern wie „Verteidigung Leo Trotzkis“ und „Die Russische Revolution und das unvollendete zwanzigste Jahrhundert“ des SEP-Vorsitzenden und WSWS-Herausgebers David North dokumentiert.
1992 erklärte North die historische Bedeutung dieser Kampagne:
[Wir sehen] darin eine Aufgabe, die nicht nur der Arbeiterklasse im engen Sinn, sondern der gesamten progressiven Menschheit dient. … Die Entlarvung der Verbrechen des Stalinismus ist ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit, den Schaden zu überwinden, den er der Entwicklung des gesellschaftlichen und politischen Denkens zugefügt hat. … Nachdem die trotzkistische Bewegung die Prinzipien und Traditionen des Marxismus die vielen Jahrzehnte hindurch, in denen der Stalinismus als unbesiegbare Kraft erschien, verteidigt hat, darf sie nun keine Mühen scheuen, um die historische Wahrheit aufzudecken und so die notwendigen Grundlagen für die Renaissance des Marxismus in der internationalen Arbeiterklasse zu legen.[12]
Die Veröffentlichung dieser Dokumente bestätigt diesen jahrzehntelangen Kampf der trotzkistischen Bewegung und verleiht ihm neuen historischen und politischen Schwung. Die Dokumente beweisen einmal mehr, dass die historische Wahrheit und die dokumentarische Aufzeichnung mächtiger und langlebiger sind als selbst der repressivste Staatsapparat.
Ungeachtet der Einschränkungen dieser Ausgabe deutet die Veröffentlichung dieser Dokumente auf einen breiteren politischen Wandel hin. Eine langwierige historische Periode ist zu Ende, in der das Ausmaß der Verbrechen des Stalinismus es extrem schwierig und in einigen Fällen unmöglich machte, die Geschichte der revolutionären Tendenz faktisch und politisch aufzuarbeiten, die den Marxismus und die Oktoberrevolution gegen die nationalistische Reaktion des Stalinismus verteidigte. Wir sind zuversichtlich, dass diese Dokumente bei Arbeitern, Intellektuellen und Jugendlichen auf der ganzen Welt auf großes Interesse stoßen und dass sie dazu beitragen werden, eine ernsthafte Untersuchung der Geschichte der revolutionären trotzkistischen Bewegung wieder in Gang zu bringen.
Das Bulletin der Opposition warnte seit seiner ersten Ausgabe im Juli 1929 vor der „physischen Vernichtung der Bolschewiki-Leninisten“. URL: https://iskra-research.org/FI/BO/BO-01.shtml.
Ante Ciliga, „From Inside Stalin’s Prisons: The Political Life of the Left Opposition“ , Paris 1938 (aus dem Englischen). URL: https://www.marxists.org/archive/ciliga/1938/xx/lo1.htm.
In einem Brief aus der UdSSR stellte ein anonymer Oppositioneller fest, dass zwischen 1.000 und 2.000 proletarische Jugendliche, die sich in den letzten anderthalb bis zwei Jahren der Opposition angeschlossen hatten, ins Gefängnis und in die Verbannung geschickt worden waren (Biulleten’ oppozitsii, Nr. 24, September 1931). URL: https://iskra-research.org/FI/BO/BO-24.shtml.
In jüngerer Zeit wies der russische Historiker Dmitri Barinow nach, dass die Opposition vor allem in ihrer Tätigkeit in der Arbeiterklasse in den Jahren 1928-1930 äußerst aktiv blieb (Trotskii, Zinoviev, Universitet. Levoe dvizhenie v vyshchei shkole Petrograda/Leningrada 1918–1932 gg., St. Petersburg: Nauka 2024, S. 200–229).
Leo Trotzki, „Die Dritte Internationale nach Lenin“, Essen 1993, S. 24–25 (Hervorhebungen im Original).
Lev Trotskii, „Bor’ba bol’shevikov-lenintsev (oppozitsii) v SSSR. Protiv kapitulianstva. Zhalkii dokument“, Biulleten’ oppozitsii, Nr. 3–4, September 1929. URL: https://iskra-research.org/FI/BO/BO-03.shtml (aus dem Russischen).
David North, „Zum Stellenwert Leo Trotzkis in der Geschichte des 20. Jahrhunderts“, in: ders., Verteidigung Leo Trotzkis, Essen 2012, S. 43, 48.
Trotzki nannte Solnzew neben Michail Glassman, Butow und Jakow Bliumkin und merkte an, dass die Nachricht von seinem Tod ihn „zutiefst betroffen“ mache. (Brief Leo Trotzkis an Victor Serge vom 24. April 1936, in: The Serge-Trotsky Papers. Herausgegeben und eingeleitet von D. J. Cotterill, London 1994, S. 41, aus dem Englischen).
Trotzki machte diese Bemerkung, als er 1937 vor der Dewey-Kommission über Jakowin, Solnzew und Dingelstedt als drei seiner engsten Mitarbeiter in der Sowjetunion sprach (The Case of Leon Trotsky, aus dem Englischen). URL: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1937/dewey/session04.htm.
Lev Trotskii, „Pamiati druga. Nad svezhei mogiloi Kote Tsintsadze“, Biulleten’ oppozitsii, Nr. 19, März 1931. URL: https://iskra-research.org/FI/BO/BO-19.shtml (aus dem Russischen).
Kote Zinzadse, Brief an Leo Trotzki, 28. Juni 1928, Biulleten’ oppozitsii, Nr. 19, März 1931. URL: https://iskra-research.org/FI/BO/BO-19.shtml (aus dem Russischen).
Leon Trotsky, „Foreword to the American edition“, in: ders., The Stalin School of Falsification, 1937 (aus dem Englischen).
URL: https://www.marxists.org/archive/trotsky/1937/ssf/sf02.htm.
David North, „Der Kampf für den Marxismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“, in: Internationales Komitee der Vierten Internationale, Die Vierte Internationale und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, Essen 2022, S. 514–15.