Am 3. Dezember hat der südkoreanische Präsident Yoon Suk-yeol Maßnahmen in Gang gesetzt, die einem Militärputsch gleichkamen. Im nationalen Fernsehen verkündete er gegen 22.25 Uhr das Kriegsrecht, verbot Streiks, Proteste sowie jede politische Aktivität und verhängte eine generelle Zensur. Nachdem diese Entscheidung sofort Proteste und Widerstand in der Nationalversammlung auslöste, erklärte Yoon am Morgen des 4. Dezember um 4:30 Uhr Ortszeit, er werde das Kriegsrecht aufheben und die Soldaten abziehen, die bereits zur Durchsetzung des Dekrets entsandt wurden.
Yoon rechtfertigte seine weitreichenden undemokratischen Maßnahmen mit der Notwendigkeit, „pro-nordkoreanische Kräfte“ auszuschalten und „die verfassungsmäßige Ordnung der Freiheit“ zu schützen. Er erklärte weiter: „Wir werden eine liberale Republik Korea, die in den Abgrund des nationalen Ruins stürzt, schützen und wieder aufbauen.“ Er warf der oppositionellen Demokratischen Partei (DP) vor, sie würden „staatsfeindliche Kräfte“ einbeziehen, die die „Hauptschuldigen für den nationalen Ruin sind und bis jetzt abscheuliche Taten begangen haben“.
Unmittelbarer Anlass für Yoons Versuch, eine Militärdiktatur zu errichten, ist das politische Patt zwischen Präsident Yoon und der Nationalversammlung. Diese wird seit den Wahlen im April von der DP und ihren Verbündeten mit einer Mehrheit von 170 der 300 Sitze kontrolliert. Yoons Partei Macht der Staatsbürger (PPP) verfügt nur über 108 Sitze, hat aber dennoch den Status einer Regierungspartei.
Die politischen Auseinandersetzungen spitzten sich zu, weil die Demokraten versuchten, Yoons Haushaltsvorschlag zu verzögern und zu kürzen. Yoon warf der Opposition außerdem vor, ein Amtsenthebungsverfahren gegen zahlreiche Mitglieder seiner Regierung zu betreiben, u. a. gegen den Leiter der staatlichen Rechnungsprüfungsstelle und den Generalstaatsanwalt in Seoul.
Berichten zufolge hat Kim Yong-hyun, der am 2. September zum Verteidigungsminister ernannt wurde, die Ausrufung des Kriegsrechts vorgeschlagen. Zuvor hatte Kim hohe Positionen im Militär inne und stieg bis zum Dreisternegeneral auf, bevor er im Jahr 2017 in den Ruhestand trat. Er steht Yoon nahe und hat ihn in der Vergangenheit in militärischen Fragen beraten.
Unter dem Kriegsrecht wären sämtliche politische Aktivitäten illegal, einschließlich der Tätigkeit der Nationalversammlung, der Arbeit von Parteien und Demonstrationen. Auch Streiks und andere Formen von Arbeiterprotesten wären illegal. Die Medien stünden während des Ausnahmezustands unter der Kontrolle der Regierung.
Nach Yoons Erklärung in der letzten Nacht versammelten sich rasch Tausende von Demonstranten vor der Nationalversammlung, von denen viele Yoons Verhaftung forderten. Der Vorsitzende des koreanischen Gewerkschaftsbunds KCTU, Yang Gyeong-su, erklärte: „Beginnend mit der Pressekonferenz des zentralen Exekutivkomitees der KCTU am 4. Dezember um 8 Uhr morgens werden wir in einen unbefristeten Generalstreik treten, bis die Regierung von Yoon Seok-yol zurücktritt.“
Der Vorsitzende der Demokratischen Partei, Lee Jae-myung, forderte die Abgeordneten auf, zusammenzukommen und für die Beendigung des Kriegsrechts zu stimmen. Der Vorsitzende von Yoons eigener Partei, Han Dong-hoon, bezeichnete die Verhängung des Kriegsrechts öffentlich als „falsch“. Nach der südkoreanischen Verfassung ist der Präsident im Falle einer Mehrheitsentscheidung in der Nationalversammlung verpflichtet, das Kriegsrecht aufzuheben.
Parlamentsmitarbeiter blockierten die Türen, während Soldaten Fenster einschlugen, um sich Zugang zur Nationalversammlung zu verschaffen und Lee, Han und den Sprecher der Nationalversammlung U Won-sik zu verhaften. Wenn ihnen das gelungen wäre, dann sähe die Situation heute ganz anders aus.
Um 1 Uhr nachts waren 190 Abgeordnete anwesend und entschieden einstimmig für die Aufhebung von Yoons Kriegsrecht, darunter 172 Abgeordnete der Opposition und 18 Mitglieder der PPP. Der Sprecher U Won-sik erklärte das Kriegsrecht für „null und nichtig“ und forderte die Soldaten und Polizisten auf, das Gebäude zu verlassen. Kurze Zeit später erklärte er, es befände sich kein Militärpersonal mehr im Gebäude.
Yoon und das Militär schwiegen mehr als drei Stunden, bevor sie die Aufhebung des Kriegsrechts und den Abzug der Soldaten bekanntgaben. Die Demokraten haben jetzt angekündigt, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Yoon einzuleiten, wenn er nicht freiwillig zurücktritt.
Doch die politische Krise, die Yoon dazu brachte, das Kriegsrecht zu verhängen, ist noch lange nicht vorbei. Die Gefahr einer Diktatur, die in Südkorea eine lange Vorgeschichte hat, ist weiterhin präsent. Die lange Verzögerung bei der Reaktion auf die Abstimmung im Parlament geschah nicht aus Rücksichtnahme auf verfassungsrechtliche Details, sondern wegen Befürchtungen in den herrschenden Kreisen, dass Yoons überstürztes Vorgehen zu einem Sturm der Opposition in der Bevölkerung, vor allem in der Arbeiterklasse, führen könnte.
Arbeiter und Jugendliche dürfen sich nicht darauf verlassen, dass die Demokraten und ihre Verbündeten in den Gewerkschaften einen weiteren Putschversuch verhindern werden. Die Oppositionspartei und die KCTU haben immer wieder gezeigt, dass es ihnen in erster Linie nicht um die sozialen und demokratischen Rechte der arbeitenden Bevölkerung geht, sondern um die Verteidigung des südkoreanischen Kapitalismus. Als die Demokraten an der Macht waren, haben sie die soziale Stellung der Arbeiterklasse ebenso heftig angegriffen wie ihre rechten Rivalen. Dabei wurden sie von der KCTU unterstützt, die die Streiks und Proteste eingeschränkt und sabotiert hat.
Dass der Präsident auf das Kriegsrecht zurückgriff, liegt nicht einfach in seiner Psyche begründet, sondern in der Krise des südkoreanischen und des globalen Kapitalismus. Der rapide sinkende Lebensstandard, das schwindelerregende Anwachsen sozialer Ungleichheit und das Abgleiten in einen Weltkrieg radikalisieren überall auf der Welt Arbeiter und Jugendliche, die an Streiks und Massenprotesten teilnehmen. In einem Land nach dem anderen lässt die herrschende Klasse die Masken der Demokratie fallen und setzt auf extrem undemokratische Maßnahmen. Wie weit diese Krise fortgeschritten ist, zeigt sich am deutlichsten in den USA, dem Zentrum des Weltkapitalismus, wo der Faschist Donald Trump bald wieder an der Macht sein wird.
Südkorea, das auf Platz 13 der größten Volkswirtschaften der Welt liegt, ist keine Ausnahme. Die antikommunistische Hetztirade, mit der Yoon die Verhängung des Kriegsrechts rechtfertigen wollte, erinnerte eindeutig an Trumps Hetze gegen den „Feind im Inneren“. Angesichts sinkender Reallöhne und steigender Preise wird es für Arbeiter immer schwieriger, über die Runden zu kommen, was zu akuten sozialen Spannungen führt. Yoon hat den US/Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine durch Militärlieferungen unterstützt und bindet Südkorea in die forcierten US-Kriegsvorbereitungen der USA gegen China ein.
Daher ist Yoon allgemein verhasst. Seine Zustimmungswerte sind auf bis zu 17 Prozent gesunken. Laut einer Umfrage von letztem Monat befürworteten 58,3 Prozent der Befragten Yoons Absetzung. Am 30. November fand in Seoul eine Demonstration mit etwa 100.000 Teilnehmern für seinen Rücktritt statt. Die Demokraten, die KCTU und verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen aus dem Umfeld der DP haben sich daran beteiligt.
Seit Yoons Amtsantritt im Mai 2022 hat er seine politischen Gegner immer wieder mit scharfer antikommunistischer Rhetorik angegriffen und sie als Sympathisanten oder sogar als Befehlsempfänger Nordkoreas verunglimpft. Während eines großen Streiks der Lastwagenfahrer für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen Ende 2022 verurteilte Yoon den langen Ausstand als „vergleichbar mit der Bedrohung durch nordkoreanische Atomwaffen“.
Diese Woche planten mehrere der KCTU angeschlossene Gewerkschaften Streiks und Proteste, u. a. der Eisenbahner und der U-Bahn-Beschäftigten. Die beteiligten Gewerkschaften repräsentieren etwa 70.000 Arbeiter. Die Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft, die auch der KCTU angehört, sollen am 5. Dezember in den Streik treten, die U-Bahn-Beschäftigten einen Tag später. Auch Beschäftigte an Schulen, die nicht zum Lehrpersonal gehören, wollten am 6. Dezember die Arbeit niederlegen. Die Lastwagenfahrer der Cargo Truckers Solidarity haben vom 2. bis zum 3. Dezember gestreikt. Die Beschäftigten der nationalen Rentenversicherung und der Korea Gas Corporation haben ebenfalls Streiks für diese Woche geplant.
Daneben haben die Arbeiter des Autozulieferers Hyundai Transys, die in der Metallarbeitergewerkschaft KMWU organisiert sind, ab Oktober einen Monat lang gestreikt. Die KMWU, eine der einflussreichsten Gewerkschaften innerhalb des Verbands KCTU, war vom Großkapital und Yoons Regierung unter großen Druck gesetzt worden, nachdem bei Hyundai Motors die Bänder zum Stillstand gekommen waren.
Es ist nicht das erste Mal, dass die herrschende Klasse Südkoreas die demokratischen Rechte der Arbeiterklasse mit Füßen tritt. Das letzte Mal wurde das Kriegsrecht 1979 nach der Ermordung des Militärdiktators Park Chung-hee verhängt. Ein Jahr später wurde es verlängert, nachdem Chun Doo-hwan einen eigenen Putsch inszeniert hatte. In der Folgezeit ging das Militär mit massiven Unterdrückungsmaßnahmen gegen Demonstranten vor. Besonders berüchtigt war das Vorgehen in der Stadt Gwangju, wo mehr als 2000 Menschen massakriert wurden.
Die Ausrufung des Kriegsrechts zeigt, dass der südkoreanische Staat trotz der so genannten Demokratisierung, die nach den Massenprotesten in den 1980ern und frühen 1990ern stattfand, noch immer auf dem antikommunistischen diktatorischen Fundament ruht, das vom US-Imperialismus nach dem Zweiten Weltkrieg durch ihr Marionettenregime von Syngman Rhee geschaffen und später unter Park ausgebaut wurde.
Die Arbeiter in Südkorea und international müssen Yoons Putschversuch als deutliche Warnung begreifen: Angesichts der sich verschärfenden Krisen setzen die herrschenden Klassen auf der ganzen Welt wieder auf Diktatur. Die Verteidigung demokratischer Rechte ist untrennbar mit der unabhängigen Mobilisierung der Arbeiterklasse auf einer sozialistischen Grundlage verbunden, um die Ursache von Krieg, Sparmaßnahmen und Diktatur zu beseitigen: das überkommene kapitalistische System.