Am Donnerstag, 13. Februar, zehn Tage vor der Bundestagswahl, raste in München ein Kleinwagen in das Ende einer Verdi-Demonstration. 38 Menschen wurden verletzt, zwei davon schwer, darunter ein zweijähriges Mädchen, das noch auf der Intensivstation liegt.
Sobald durchsickerte, dass der Fahrer ein Geflüchteter aus Afghanistan sei, reagierten die Spitzenpolitiker reflexartig und scheuten nicht davor zurück, das schlimme Ereignis für politische Stimmungsmache auszubeuten. Seither reißen die Politikerstimmen nicht ab, die gegen Geflüchtete hetzen, den starken Staat beschwören und noch mehr Abschiebungen fordern.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) verlangen eine harte Bestrafung und anschließende Abschiebung des Täters. In AfD-Manier drohte Scholz: „Wer Straftaten in Deutschland begeht, wird nicht nur hart bestraft und muss ins Gefängnis, sondern er muss auch damit rechnen, dass er seinen Aufenthalt in Deutschland nicht fortsetzen kann.“
Auch Faeser drohte mit „maximaler Härte“ des Rechtsstaats und kündigte weitere Abschiebeflüge nach Afghanistan an. Sie brüstete sich, Deutschland sei Europas einziger Staat, der „trotz der Taliban-Herrschaft wieder nach Afghanistan abschiebt“. Außerdem habe ihre Regierung „die Gesetze für die Ausweisung von Gewalttätern und für mehr Abschiebungen massiv verschärft. Jetzt müssen sie mit aller Konsequenz durchgesetzt werden.“
Der CDU/CSU-Spitzenkandidat Friedrich Merz nutzte seinerseits den Anschlag für seine anhaltende Drohung, er werde dafür sorgen, dass sich „etwas ändert in Deutschland“, dass „Recht und Ordnung konsequent durchgesetzt werden“, und dass „die Sicherheit an erster Stelle steht“. Sein Parteikollege Markus Söder (CSU), Bayerns Ministerpräsident, der zusammen mit dem Innenminister Joachim Herrmann (CSU) und dem Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) den Tatort besuchte, forderte ebenfalls, es müsse sich in Deutschland etwas ändern, „und zwar rasch“. Er lobte die Polizei und versicherte den Opfern, er werde für sie beten.
Innenminister Herrmann trat dabei mit Behauptungen auf, die sich innerhalb von nur 24 Stunden als Lügen erwiesen. Er sprach von einem „polizeibekannten Täter“ und sagte: „Nach gegenwärtigem Stand wissen wir, dass der Täter schon mit Betäubungsmitteln und mit Ladendiebstählen aufgefallen ist.“ Einen Tag später musste er zurückrudern und einräumen, dass der 24-Jährige, der als Ladendetektiv gearbeitet hatte, bei Gericht bloß als Zeuge ausgesagt hatte und dass er in keiner Weise vorbestraft war.
Sämtliche Parteipolitiker reagieren auf die gleiche Weise. So auch der Grüne Noch-Vizekanzler Robert Habeck, der einmal mehr seine „umfassende Sicherheitsoffensive“ propagierte.
AfD-Chefin Alice Weidel und BSW-Chefin Sahra Wagenknecht äußerten sich fast wortgleich gegen die „unkontrollierte Migration“. Sahra Wagenknecht forderte im Redaktionsnetzwerk Deutschland konsequentere Abschiebungen nach Afghanistan und sagte, die Bekämpfung solcher Verbrechen sei „nur möglich, wenn wir die unkontrollierte Migration beenden und diejenigen konsequent abschieben, die eine Gefahr für unser Land und die Menschen in Deutschland sind“. Und Weidel geiferte auf X: „Wir brauchen eine Migrationswende – und wir brauchen sie sofort!“
Von diesen Spitzenpolitikern hat nicht einer auch nur ansatzweise die gesellschaftlichen Zustände hinterfragt, die den Hintergrund solcher Gewalttaten bilden. Tatsächlich ist weit weniger die Nationalität einer Person ausschlaggebend, als vielmehr ihre soziale Situation, die frustrierenden Arbeitsbedingungen und Lebensumstände oder auch Erfahrungen mit Krieg und Gewalt. Der schlimme Vorfall bezeugt in erster Linie die Unfähigkeit der Politiker aller Couleurs, jungen Menschen eine sinnvolle Perspektive zu bieten.
Über den 24-jährigen Farhad N., der am Donnerstag auf der Münchner Seidlstraße seinen Wagen in die demonstrierenden Gewerkschafter lenkte, ist bisher wenig bekannt. Es handelt sich offenbar um einen Geflüchteten aus Afghanistan, dessen Asylantrag vor einigen Jahren abgelehnt worden war, der aber dennoch über Aufenthaltspapiere und eine Arbeitserlaubnis verfügte, weil Abschiebungen in seine Heimat nach der Rückkehr der Taliban an die Macht unterbrochen worden waren. Geboren um die Jahrtausendwende, hatte er in Afghanistan niemals etwas anderes als Krieg kennengelernt.
In Bayern arbeitete Farhad N. als Security-Mann und Ladendetektiv für mehrere Sicherheitsunternehmen. Ein Instagram-Post soll ihn in der Uniform einer dieser Firmen zeigen, und auf anderen Bildern ist er als Türsteher vor einer Luxus-Boutique in der Münchner Innenstadt zu sehen (wo er zweifellos die schreiende soziale Polarisierung hautnah mitbekam).
Noch ist nicht bekannt, ob seine Amokfahrt die Kurzschlusshandlung eines durchgedrehten psychisch Kranken war, oder ob es eine gezielte Tat aufgrund antikommunistischen Hasses war, geschürt durch Islamismus. Laut Polizeiangaben soll der junge Mann zuerst auf den Polizeiwagen aufgeschlossen sein, der hinter der Demonstration herfuhr, dann seinen Wagen beschleunigt, die Polizei überholt und gezielt in den Demonstrationszug hineingerast sein.
Die Staatsanwältin erklärte, Farhad N. habe eingeräumt, bewusst in die Menschen hineingefahren zu sein, und sie schließe einen „islamistischen Hintergrund der Tat“ nicht aus. Daraufhin zog die Generalstaatsanwaltschaft am Freitagabend das Verfahren an sich. Wie die Süddeutsche schreibt, wurde dieser Schritt mit der „besonderen Bedeutung des Falls“ und einem „möglichen Angriff auf die freiheitliche demokratische Grundordnung“ erklärt. Diese Begründungen hören sich bisher jedoch ziemlich schwammig an, als gäbe es nichts Konkretes.
Es kann alles so sein – oder auch ganz anders. Laut Innenminister Herrmanns Aussage am Freitag liegen keine Hinweise darauf vor, „die jetzt schon belegen würden, dass er eine besonders extremistische islamistische Gesinnung“ habe. Herrmann sagte auch, der Amokfahrer habe sich „rechtmäßig“ in München aufgehalten, er sei nicht ausreisepflichtig gewesen.
Aber anstatt nach den tieferen, politischen und gesellschaftlichen Ursachen solcher Ereignisse zu fragen und den tragischen Vorfall aufzuklären, wird der Anschlag missbraucht, um gezielt im Wahlkampf Stimmung zu machen, die Politik noch weiter nach rechts zu verschieben und Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu schüren.
Auch die Dienstleistungsgewerkschaft spielt dabei ihre Rolle. Nie hat sie sich darum bemüht, der Flüchtlingshetze offen entgegenzutreten und die Geflüchteten in einen Arbeitskampf mit einzubeziehen, im Gegenteil. Der Verdi-Vorstand teilt die Kriegspolitik der Scholz-Regierung und fürchtet sich deshalb am meisten davor, dass sich in der Arbeiterklasse eine unabhängige breite Mobilisierung gegen Krieg, Rassismus und Sozialkahlschlag entwickelt.
Der Amoklauf richtete sich gegen einen Verdi-Marsch zum 24-stündigen Warnstreik des öffentlichen Dienstes an diesem Tag, bei dem die Streikenden mit Fahnen und Trillerpfeifen durch die Straßen zogen. Auch mehrere Müllmänner der Stadtreinigung sollen laut Aussage des OBs unter den Opfern sein.
In München herrscht eine gespannte Situation. Vor wenigen Tagen haben 300.000 Münchner auf der Theresienwiese gegen Rassismus und jede Zusammenarbeit mit der AfD demonstriert. Inzwischen hat im Zentrum die Münchner Sicherheitskonferenz, diese ausgewachsene Kriegskonferenz, begonnen.
In dieser Lage ist es notwendig und möglich, Arbeiterinnen und Arbeiter jetzt erst recht gemeinsam gegen imperialistischen Krieg, rassistische Hetze und das Herunterwirtschaften des öffentlichen Dienstes zu mobilisieren und sie zur Verteidigung aller ausländischen Kolleginnen und Kollegen aufzurufen.
Aber was tut Verdi? Die Dienstleistungsgewerkschaft nutzt im Gegenteil den traurigen Vorfall als Vorwand, um alle Aktionen abzublasen. „Aus Respekt vor dem Geschehen und den betroffenen Personen“ hat Verdi sämtliche Kundgebungen und Aktionen in Bayern sofort abgebrochen. Am Freitag wurden weitere Verdi-Kundgebungen auch in Berlin, Brandenburg und anderen Bundesländern abgesagt.