Die Warnstreiks von Donnerstag und Freitag im öffentlichen Dienst lassen die große Wut erahnen, die sich in den Betrieben der öffentlichen Daseinsversorgung aufstaut. Sie machen gleichzeitig deutlich, dass es im Kampf um vernünftige Löhne und Bedingungen nötig ist, der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi die Streikführung aus der Hand zu nehmen.
Zum Warnstreik aufgerufen waren hauptsächlich Beschäftigte der Nahverkehrsbetriebe, der Städtereinigung und mehrerer Verwaltungsbetriebe in folgenden acht Bundesländern: Baden-Württemberg, Bremen, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. In der Vorwoche hatte es in mehreren anderen Bundesländern schon Warnstreiks in Kliniken, Kitas und anderswo gegeben.
In dieser Woche war Berlin ein Schwerpunkt. Hier streikten erstmals seit vielen Jahren Busfahrer und städtische Arbeiter gemeinsam. Rund 16.000 Beschäftigte der Berliner Verkehrsbetriebe BVG beteiligten sich an einem Streik, der von Donnerstagfrüh 03:00 Uhr 48 Stunden lang bis am Samstagmorgen dauerte. Ebenfalls bestreikt wurden die Betriebe Stromnetz Berlin GmbH (SNB), Berliner Energie und Wärme GmbH (BEW), die Stadtreinigung (BSR) und die Wasserbetriebe (BWB).
In den letzten Tagen sind alle Verhandlungsrunden ergebnislos abgebrochen worden. Seitdem hat sich die große Wut in den Betrieben gezeigt, als sich nahezu 100 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder in Abstimmungen und Umfragen für Streiks aussprachen. Ihre Löhne und Arbeitsbedingungen werden zunehmend unhaltbar.
„Wir können uns die schlechten Löhne einfach nicht mehr leisten“, erklärte Andy Niklaus vom Aktionskomitee Verkehrsarbeiter. „Wir müssen uns aus der Zwangsjacke der Gewerkschaften befreien.“ Er rief die über zweieinhalb Millionen Kollegen im öffentlichen Dienst dazu auf, Kontakt zu den Aktionskomitees der Internationalen Arbeiterallianz aufzunehmen, um den Kampf gegen den Sozialkahlschlag und die Kriegspolitik gemeinsam und unabhängig von Verdi zu führen.
Seit der Corona-Pandemie haben sich die Bedingungen im öffentlichen Dienst massiv verschlimmert. Schlechte Tarifabschlüsse der vergangenen Jahre haben angesichts der Inflation zu erheblichen Reallohnsenkungen geführt, und infolgedessen fehlt überall Personal. Unbezahlte Überstunden sind an der Tagesordnung, und die Belegschaften sind erschöpft.
„Im Schichtdienst ist die Arbeit eine Katastrophe“, sagte uns ein Pfleger aus dem Klinikum Nürnberg. „Immer wieder muss man länger bleiben, und oft kriegt man die Überstunden nicht vergütet.“ Seiner Meinung nach müsste das Personal um mindestens 20 Prozent aufgestockt werden, und: „Die Mitarbeiterkündigungen müssen endlich aufhören!“
Verdi fordert acht Prozent mehr Lohn, mindestens aber 350 Euro mehr im Monat, sowie höhere Zuschläge für besonders belastende Tätigkeiten. Diese Forderungen, so der Nürnberger Pfleger, sei höchstens ein erster Schritt, ein Minimum. „Aber das reicht jedenfalls nicht, da muss mehr kommen.“
Aber auch die zweite Verhandlungsrunde um den Tarifvertrag im öffentlichen Dienst (TVöD), die am 17. und 18. Februar in Potsdam stattfand, endete ohne ein irgendwie geartetes Angebot der Regierung und der Kommunen. Auch die Verhandlungen bei den Berliner Verkehrsbetrieben BVG brachten vor einer Woche kein annähernd akzeptables Ergebnis.
Der Grund dafür ist, dass jetzt schon klar ist, dass jede Regierung, die aus der Bundestagswahl am Wochenende hervorgehen wird, keine Zugeständnisse machen, sondern beispiellose Angriffe auf Arbeitsplätze, Löhne und Sozialleistungen führen wird.
Wie die WSWS in ihrer Erklärung zu den Warnstreiks warnt, folgt „auf die Zeitenwende in der Kriegspolitik die Zeitenwende in der Arbeits- und Sozialpolitik“. Denn jetzt schon werden hunderte Milliarden Euro für Aufrüstung und Krieg ausgegeben oder fließen infolge von Steuersenkungen in die Taschen der Aktionäre und Reichen, und diese Summen sollen, wenn es nach den Regierungspolitikern aller Couleurs geht, aus der Arbeiterklasse wieder herausgepresst werden.
Auf die Kriegspolitik der Regierung angesprochen, sagte in Berlin ein BVG-Kollege: „Ich schäme mich dafür, dass unsere Regierung Krieg im Ausland unterstützt.“
Er berichtete, er sei schon seit 35 Jahren Verdi-Mitglied, „aber Verdi hat für mich absolut nix gemacht. Auch wenn ich in der Werkstatt Probleme habe, dann bekomme ich keine Hilfe.“ Besonders erbittert ist er bis heute, dass die Gewerkschaft vor Jahren einem Lohnverzicht über 13 Prozent zugestimmt hatte. „Wir haben 13 Prozent Lohnverzicht erlebt. Das sollten wir doch alles wieder zurückbekommen. Aber seither ist viel Wasser die Spree hinab geflossen. Darauf warte ich bis heute.“
Die WSWS-Reporter und Teams der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) erklärten den Streikenden, dass es nötig ist, aus diesen Erfahrungen die Lehren zu ziehen und von Verdi unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, um sich international zu vernetzten und den Kampf gegen den sozialen Kahlschlag mit dem Kampf gegen Krieg und Kapitalismus zu verbinden. Nur so ist es möglich, vernünftige und auskömmliche Löhne und Gehälter zu erreichen, den öffentlichen Dienst aufrechtzuerhalten und überhaupt in Zukunft leben zu können.
„Wir sind mit der Realität konfrontiert, dass die etablierten Gewerkschaften, allen voran Verdi, nicht unsere Interessen vertreten“, erklärt Max, ein Pfleger aus Nürnberg, im Video. „Die Funktionäre sitzen in den Aufsichtsräten und Gewerkschaftshäusern, sie verdienen Spitzengehälter und sorgen dafür, dass der soziale Frieden gewahrt wird.“ Derweil stagnieren die Löhne, die Überstunden mehren sich und die Inflation schreitet voran. Um sich „nicht der Profitlogik zu beugen“, so Max, sei der Aufbau von unabhängigen Aktionskomitees notwendig.
Dass dies möglich ist, das zeigen nicht erst die jüngsten Warnstreiks. Seit Monaten und Jahren kommt es zu immer wütenderen Arbeitskämpfen, wie bei den Streiks der Postler, der Eisenbahner und Lokführer, sowie in Kitas und Kliniken. Die Gewerkschaften haben immer größere Mühe, diese Streiks voneinander zu isolieren, unter Kontrolle zu halten und abzuwürgen. Gleichzeitig breitet sich unter den Kolleginnen und Kollegen eine Stimmung aus, die immer klarer eine gemeinsame, große Streikbewegung fordert.
„Es darf nicht immer nur so ein Warnstreik sein, und dann ein Klein-beigeben“, sagte ein Azubi im Gespräch mit der WSWS. Ein BVG–Kollege namens Ralf sagte dazu: „Das zweite Angebot der BVG war ein Witz. Da hätte man schon länger streiken können. Aber man darf ja nur maximal drei Tage warnstreiken …“
Bei der BVG fordert Verdi für die 16.000 Beschäftigten monatlich 750 Euro mehr Lohn, ein 13. Monatsgehalt, eine Fahrdienst- beziehungsweise Wechselschichtzulage in Höhe von 300 Euro sowie eine Schichtzulage von 200 Euro. Dies würde zusammengerechnet wohl ein Plus von etwa 30 Prozent ausmachen, aber BVG hat bisher maximal 17 Prozent angeboten, allerdings für vier Jahre, bis Ende 2028!
Ralf fuhr fort: „Es wird alles nicht mehr besser, egal welche Regierung jetzt dran kommt. Viele Kollegen sagen: Wenn sich jetzt hier nichts ändert, bin ich weg. Dann haben sie am Ende neue Bahnen, aber keinen, der sie fährt.“ Nachdenklich konstatierte Ralf: „Wir erleben hier einen Niedergang, das ist Kapitalismus. Man muss einmal an die Oberen gehen.“
Verdi hat die Warnstreiks dieser Woche erneut auf eine Art und Weise organisiert, die deutlich macht, dass die Dienstleistungsgewerkschaft um keinen Preis einen effektiven, unbefristeten Arbeitskampf riskieren will. Sie bereitet sich darauf vor, in der dritten Tarifrunde (oder spätestens in einer Schlichtung) das übelste Angebot aller Zeiten zu akzeptieren und in den Betrieben durchzusetzen. Deshalb trennt sie die einzelnen Branchen voneinander, organisiert wirkungslose Trillerpfeifenproteste, die die kampfbereiten Kollegen frustrieren, und führt die Streikenden im Kreis, um sie am Ende vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Ein kleines Beispiel der Vexiertaktik erfuhren am Freitag die Beschäftigten der Berliner Stadtreinigung BSR, die zur Streikgelderfassung an die BSR–Kantine dirigiert wurden, weit weg von allen anderen Streikenden und BVG-Kollegen, die zur zentralen Kundgebung vor das Rote Rathaus marschierten, um sich dort einzutragen.
Vor dem Roten Rathaus hatte die Gewerkschaft eine Art Rundum-sorglos-Paket mit Musikbühne und zahlreichen Catering-Wagen organisiert. Aber es versammelten sich dort nur rund 4.000 Streikende, während Verdi von 10.000 sprach. Die Verdi-Landesbezirksleiterin Andrea Kühnemann und andere Funktionäre drohten in ihren Reden lauthals mit einem unbefristeten Streik, was sie zu nichts verpflichtet, und riefen den Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) dazu auf, „die Kassen aufzumachen“.
Laut den zentralen Angaben der Dienstleistungsgewerkschaft waren bundesweit am Freitag insgesamt nicht mehr als 53.000 Beschäftigte in 69 Unternehmen zum Streik aufgerufen – ein kleiner Teil der vielen Millionen Beschäftigten, die vom TVöD direkt und indirekt betroffen sind. Vom TVöD sind direkt 2,6 Millionen kommunale Beschäftigte und 370.000 Bundesbedienstete abhängig. Indirekt orientieren sich zahlreiche weitere Branchentarifverträge am TVöD. Dazu gehören die Verwaltung der Städte und Gemeinden, die Kitas und Schulen, die Versorgung der Kommunen mit Strom, Wasser, Gas, der öffentliche Nahverkehr, die Flughäfen, die kommunalen Kliniken, die Sparkassen und vieles mehr.
Im öffentlichen Dienst fordert Verdi 8 Prozent mehr Lohn, mindestens aber 350 Euro, sowie mehr freie Tage, doch es ist schon klar geworden, dass die Gewerkschaft keine Absicht hat, dafür wirklich zu kämpfen.
In einem Schreiben, das nach der gescheiterten zweiten Verhandlungsrunde im Klinikum Nürnberg zirkulierte, heißt es: „Die Arbeitgebervertreter schwanken zwischen Nullrunde und maximal einem Inflationsausgleich, beziffert bei 2 %. (…) Eine Sozialkomponente (mind. 350€) wird abgelehnt (…) Die Arbeitgeber wünschen sich weiterhin eine möglichst lange Laufzeit von bis zu 3 Jahren.“ Dann heißt es bezeichnenderweise: „Positiv: Es gibt keine Sonderforderungen zu Teilbereichen (…) Es wurden von der VKA keine Verschlechterungen gefordert wie weniger Gehalt oder Urlaubstage.“
Wenn Verdi es schon als „positiv“ ansieht, dass die Gegenseite „keine Verschlechterungen“ fordert – was ist dann vom Abschluss zu erwarten? Tatsächlich agieren die Verdi-Funktionäre als verlängerter Arm der Regierung und der Kommunalverwaltungen mit dem Ziel, letztlich jeden Widerstand ins Leere laufen zu lassen.
In Potsdam trifft Verdi-Chef Frank Werneke seit Jahren im immer gleichen Congress Hotel mit der Bundesinnenministerin Nancy Faeser und der Gelsenkirchner OB Karin Welge (Verband Kommunaler Arbeitgeber) zusammen. Alle drei kennen sich seit Jahren, alle drei sind jahrzehntelange führende SPD-Mitglieder, alle drei unterstützen deren rechte Kriegs- und Sozialkahlschlagspolitik.
In Nürnberg erklärte ein weiterer Pfleger, der sich für den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees interessierte, im Gespräch mit der WSWS: „Das einzige was steigt, sind die Rüstungsausgaben. Wir leben jedenfalls nicht mehr in einer solidarischen Welt, sondern in einer von Krieg geprägten Welt. Die Rüstungskonzerne müssen immer mehr Profit machen. Der Dax muss von Woche zu Woche weiter steigen, die Rallye muss weitergehen. Die Armen und wir Beschäftigten, die ausgebeutet werden, müssen für die Kapitalisten bezahlen. Die Reichen tragen zum Wohl der Welt eigentlich gar nichts bei.“
Dass sich daran was ändere, darauf habe er wenig Hoffnung. „Es ist doch immer dasselbe Spiel.“ Auf die Frage, was er von Verdi halte, konstatierte der Pfleger: „Verdi, überhaupt die Gewerkschaften sind ja in erster Linie staatstragend. Die große Revolution wird von Verdi nicht ausgehen.“
In Berlin unterstützte Christoph Vandreier, der Spitzenkandidat der Sozialistischen Gleichheitspartei, am Freitag den Warnstreik, und sagte:
Der heutige Streik im öffentlichen Dienst muss zum Ausgangspunkt einer breiten Mobilisierung gegen die Kürzungs- und Aufrüstungspläne sämtlicher Bundestagsparteien gemacht werden. Denn egal welche Koalition nach den Wahlen gebildet wird, sie alle planen massive Angriffe auf Löhne, auf Arbeitsplätze und auf Sozialleistungen. Um eine wahnsinnige Aufrüstung zu finanzieren und Krieg auf eigene Rechnung fortzusetzen, sollen die Beschäftigten im öffentlichen Dienst regelrecht ausgequetscht werden. (…) Arbeiter dürfen diesen Wahnsinn nicht akzeptieren.
Vandreier rief alle auf, der Kriegslogik und dem Nationalismus die internationale Einheit der Arbeiterklasse entgegenzusetzen und dazu die Sozialistische Gleichheitspartei aufzubauen. Die SGP steht am Sonntag in Berlin zur Wahl, und Mitglieder der Partei als unabhängige Direktkandidaten stehen in Berlin, Leipzig und Duisburg auf dem Stimmzettel. Und wie Christoph Vandreier deutlich machte, ist eine Stimme für die SGP „eine Stimme gegen Krieg und gegen Lohnkürzungen und für eine sozialistische Zukunft“!