Zwei Jahre Tempi-Zugunglück: Generalstreik und größte Proteste in der Geschichte Griechenlands

Am Freitag zeigten die Arbeiterklasse und Jugend in Griechenland ihre enorme Macht. Hunderttausende nahmen an den größten Protesten in der Geschichte des Landes teil. Sie gingen in der Hauptstadt Athen und in allen anderen Städten auf die Straße und forderten Gerechtigkeit für die 57 Todesopfer des Zugunglücks von Tempi 2023 sowie ein Ende der Vertuschung durch die Regierung.

Tausende Demonstranten versammeln sich zwei Jahre nach dem tödlichen Zugunglück auf der Stadiou-Straße im Zentrum von Athen, 28. Februar 2025 [AP Photo/Thanassis Stavrakis]

Weltweit fanden Solidaritätsdemonstrationen vor mehr als 100 griechischen Botschaften und Konsulaten statt.

Zu den Protesten anlässlich des zweiten Jahrestags der Zugkatastrophe vom 28. Februar 2023 hatte der Verband der Angehörigen der Tempi-Opfer aufgerufen. Sie übertrafen sogar noch das Ausmaß der Demonstrationen Ende Januar. Der Gewerkschaftsverband des öffentlichen Sektors ADEDY und der Verband des privaten Sektors GSEE sahen sich gezwungen, auf die Massenopposition zu reagieren, und riefen wie bei den Protesten im Januar zu einem Generalstreik auf.

In Griechenland fanden 265 Proteste statt, international 112 – insgesamt fast 400. Zu den wichtigsten internationalen Kundgebungen gehörten die in Berlin, London, Edinburgh, Manchester, Rio de Janeiro, New York, Boston und Sydney. Eine Online-Karte zur Koordinierung der Proteste wurde mehr als 1,8 Millionen Mal aufgerufen.

Rund 3000 Demonstranten vor der griechischen Botschaft in London, Großbritannien, 28. Februar 2025
Hunderte protestierten trotz strömenden Regens in Berlin, Deutschland. In Anspielung auf die politischen Parteien Griechenlands, die alle für das tödliche Unglück verantwortlich sind, stand auf einem Plakat: „Syriza, PASOK, ND – Tempi hat eine Geschichte“, 28. Februar 2025

An den Tempi-Demonstrationen haben sich viel mehr Menschen beteiligt, als die Gewerkschaften mobilisieren können oder wollen. Die Massenproteste könnten die rechtskonservative Regierung der Nea Dimokratia (ND) unter Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis zu Fall bringen.

Einer Schätzung zufolge haben fast 430.000 Menschen in Athen protestiert. Der Syntagma-Platz war bis auf den letzten Meter gefüllt, ebenso die angrenzenden Straßen. Die Kundgebung war für 11 Uhr angesetzt, aber der Platz war bereits um kurz nach 8 Uhr morgens voll. Wie die Tageszeitung Efimerida ton Syntakton (Efsyn) berichtete, konnten die Menschenmassen nicht in die Nähe des Syntagma-Platzes gelangen, da sich der Protest bis zu einem Kilometer entfernt auf dem Omonoia-Platz sowie in Richtung der Propyläen ausbreitete.

Viele brachten selbstgebastelte Plakate und Transparente mit, auf denen die Regierung als „Mörder“ verurteilt wurde, weil sie während des vermeidbaren Unglücks im Amt war. Zu den Slogans auf den Demonstrationen gehörten „Ich habe keinen Sauerstoff“ und „Privatisierungen töten“.

„Ich habe keinen Sauerstoff“ waren die letzten Worte einer jungen Passagierin, die dem Notruf 112 den Unfall meldete, nachdem der Personenzug, in dem sie saß, mit einem Güterzug zusammengestoßen war. Dies verursachte einen gewaltigen Feuerball. Die Angehörigen der Opfer sind überzeugt, dass der Güterzug mit illegalen brennbaren Materialien geladen war, die das Feuer auslösten – eine Tatsache, die von der Regierung vertuscht wird.

Selbst die Polizei, die dafür berüchtigt ist, die Größe der Demonstrationen in Griechenland herunterzuspielen, gab an, dass allein in Athen über 170.000 Menschen und landesweit 325.000 Menschen auf der Straße waren.

In Griechenland hat es seit der beispiellosen Sparpolitik durch alle Regierungen seit 2008 viele große Generalstreiks gegeben. Aber das Ausmaß der Tempi-Proteste und des jüngsten Generalstreiks ist um ein Vielfaches größer. Das ganze Land wurde zum Stillstand gebracht.

Loading Tweet ...
Tweet not loading? See it directly on Twitter

Ein ähnlich großer Protest fand in der zweitgrößten Stadt Thessaloniki statt.

Loading Tweet ...
Tweet not loading? See it directly on Twitter

Die Streiks begannen bereits am Vorabend, als Arbeiter einer Coca-Cola-Fabrik nahe Athen die Arbeit niederlegten. Der Verkehr kam zum Erliegen, weil die Fluglotsen internationale und nationale Flüge am Boden hielten und Züge, Straßenbahnen und Busse nicht mehr fuhren. Seeleute, Lokführer, Ärzte, Pflegekräfte, Lehrer und Anwälte – alle streikten. Behörden, Geschäfte und Unternehmen blieben geschlossen, und Krankenhäuser liefen nur im Notbetrieb. Selbst einige der vornehmsten Cafés, Restaurants und Bars blieben wegen der Massenmobilisierung geschlossen.

In Athen waren nur Verkehrsmittel im Einsatz, die die Demonstranten zu den zentralen Plätzen brachten. Selbst das war kaum möglich. Efsyn berichtete unter der Überschrift „Das hat es noch nie gegeben!“, dass die U-Bahn-Stationen mit Tausenden Menschen überfüllt waren. Die Autobahn sei erstickend voll und die Bahn habe „ihren Fahrplan erweitert, um die Menschen aufzunehmen, die im Zentrum aussteigen wollen, aber sie passen nicht in die Waggons“.

Die Zeitung schreibt: „Es hat sich ein gewaltiger gesellschaftlicher ‚Tsunami‘ gebildet, der sich nicht auf die Trauer beschränkt, der sich nicht damit begnügt, das Andenken an die 57 Opfer des Verbrechens in Tempi, an die Passagiere und Arbeiter in den verunglückten Zügen zu ehren. Sie wollen Wahrheit, Gerechtigkeit und die Bestrafung der wahren Schuldigen.“

Die Behörden taten alles, um die Proteste zu sabotieren und die Menschen daran zu hindern, die Plätze zu erreichen. Sie schlossen sogar die U-Bahn-Stationen Syntagma und Panepistimiou. Ein massives Aufgebot von über 5000 Polizeibeamten, darunter auch Bereitschaftspolizisten, wurde mobilisiert – ein erheblicher Teil der landesweit 65.000 griechischen Polizisten. Nach mehreren Stunden und angesichts der immer größer werdenden Menschenmenge setzte die Bereitschaftspolizei auf dem Syntagma-Platz Tränengas und Blendgranaten ein und zwang die Demonstranten auseinanderzugehen. Orestis Panayiotou, ein Fotojournalist für die griechische Nachrichtenagentur APE-MPE, wurde durch eine Blendgranate der Polizei am Kopf verletzt.

Dutzende Menschen wurden festgenommen, darunter auch 25 Demonstranten, die auf das Dach der Zentrale von Hellenic Trains geklettert waren und ein Transparent mit der Aufschrift „Mörder“ entrollt hatten.

Viele Tausende ließen sich nicht einschüchtern und kehrten zum Syntagma-Platz zurück, um weiter zu protestieren. Am späten Freitagabend kamen weitere Tausende auf den Platz zurück. Gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters sagte die Demonstrantin Evi, sie sei gekommen, weil sie um die Toten trauern will, „aber auch, weil die Regierung versucht hat, die Dinge zu vertuschen“. Christos, ein Musiker, sagte: „Die Regierung hat nichts getan, um für Gerechtigkeit zu sorgen... Das war kein Unfall, es war Mord.“

Maria Karystianou, die bei der Zugkatastrophe ihre 21-jährige Tochter Marthi verloren hat und jetzt die Vereinigung der Angehörigen von Tempi-Opfern leitet, erklärte in ihrer Rede auf dem Syntagma-Platz: „Ich wende mich an die Mörder unserer Kinder. Ihr habt unsere Toten mit Respektlosigkeit und Verachtung behandelt. Menschliche Teile und Knochen unserer Kinder bleiben unbegraben an versteckten Orten liegen. Ihr habt das höchste Sakrileg begangen, und ihr werdet erhalten, was die Rache der Toten für euch bereithält.“

Kundgebung in Athen am 28. Februar 2025: „Ich habe keinen Sauerstoff“ steht auf dem Plakat, das Maria Karystianou, die Mutter eines Tempi-Opfers, in die Höhe hält [AP Photo/Petros Giannakouris)]

Die Wut von Millionen Menschen wurde durch die Veröffentlichung eines lang erwarteten Berichts über die Zugkatastrophe durch die Hellenic Air and Rail Accident Investigation Authority (HARSIA) am Donnerstag verstärkt. Viele Details in dem Bericht erschüttern die Darstellung der Regierung und ihre Vertuschung.

In dem Bericht heißt es: „Es ist unmöglich, die genaue Ursache [des Feuerballs] zu bestimmen, aber Simulationen und Expertenberichte weisen auf das mögliche Vorhandensein eines bisher unbekannten Kraftstoffs hin.“ Die Regierung hat lange geleugnet, dass sich Kraftstoff an Bord des Güterzuges befand, und behauptet, dass der gigantische Feuerball von 80 bis 100 Metern Länge, der die Waggons des Personenzuges nach der Kollision verschlang, durch Silikonöl in den Transformatoren des Zuges verursacht worden sei.

„Da die Unfallstelle nicht abgesichert wurde, gingen wichtige Informationen verloren“, heißt es weiter in dem Bericht.

Angesichts der massiven Proteste am Freitag gab Premierminister Mitsotakis eine provokante und selbstgefällige Erklärung ab, in der er „menschliches Versagen“ und „chronische Versäumnisse des Staates“ als Ursache des Zugunglücks nannte, sich aber weigerte, die Verantwortung für die Katastrophe unter seiner Führung zu übernehmen.

Einige der Demonstranten versammeln sich zur Demonstration in Athen, 28. Februar 2025

Der riesige Ausbruch der Wut über Tempi hat den Widerstand gegen die jahrzehntelangen Angriffe aller kapitalistischen Parteien gegen die Arbeiterklasse an die Oberfläche gebracht. Dieser Widerstand könnte nun nicht nur den Sturz von Mitsotakis, sondern auch den seiner Regierung zur Folge haben. Nächste Woche wird Syriza nach monatelangen Ausflüchten gemeinsam mit der sozialdemokratischen PASOK einen Misstrauensantrag gegen die Regierung einreichen.

Doch das gesamte verrottete politische System in Griechenland ist verantwortlich für das Zugunglück. Die pseudolinke Syriza (Koalition der radikalen Linken), die von 2015 bis 2019 an der Macht war, trieb die beispiellose Sparpolitik gegen die Arbeiterklasse voran. Im Rahmen einer Privatisierungsoffensive verkaufte Syriza 2017 das staatliche Eisenbahnnetz TrainOSE für gerade einmal 45 Millionen Euro und überließ den ohnehin schon unterfinanzierten Bahnbetrieb den Profiteuren. Die Arbeiter wurden gezwungen, sich auf veraltete Technik wie manuelle Signalsysteme zu verlassen.

Die WSWS stellte fest: „Seit der Privatisierung ist das griechische Eisenbahnnetz eines der gefährlichsten in Europa. Von 2018 bis 2020 war die Quote der Todesfälle pro Million Eisenbahnkilometer in Griechenland laut der Eisenbahnbehörde der Europäischen Union die höchste unter 28 europäischen Staaten.“