Europa reagiert auf den wachsenden Konflikt mit den USA, indem es massiv aufrüstet. Die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, präsentierte gestern den versammelten Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einen Plan zur „Wiederaufrüstung Europas“ (ReArm Europe), der laut ihren Angaben innerhalb von vier Jahren zusätzliche 800 Milliarden Euro für Aufrüstung, die militärische Unterstützung der Ukraine sowie den Aufbau einer europäischen Rüstungsindustrie aufbringen soll.
650 Milliarden sollen von den Mitgliedsstaaten selbst kommen, denen dies durch eine Lockerung der EU-Schuldenregeln und andere Anreize erleichtert wird. Weitere 150 Milliarden Euro will die EU in einem Fonds bereitstellen.
„Wir befinden uns in einer Ära der Aufrüstung. Europa ist bereit, seine Verteidigungsausgaben massiv zu erhöhen,“ begründete von der Leyen ihren Vorstoß. Es gehe sowohl um „die kurzfristige Dringlichkeit zu handeln und die Ukraine zu unterstützen“, als auch um „die langfristige Notwendigkeit, viel mehr Verantwortung für unsere eigene europäische Sicherheit zu übernehmen“.
Der französische Präsident Emmanuel Macron wiederholte am Mittwochabend in einer Fernsehansprache an das französische Volk sein Angebot, den nuklearen Schutzschirm Frankreichs auch auf Deutschland und andere europäische Länder auszudehnen. Er werde „den historischen Appell“ des künftigen deutschen Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) erwidern und über eine erweiterte nukleare Abschreckung sprechen, sagte Macron. Die Entscheidung über den Einsatz der Atomwaffen werde aber immer in den Händen des französischen Präsidenten bleiben.
Im Gegensatz zu von der Leyen, die sich diplomatisch zurückhielt, griff Macron die USA direkt an. Anders als in der Vergangenheit sei auf „unseren Verbündeten in Amerika“ kein Verlass mehr, sagte er. „Wir müssen unsere Verteidigung stärken. In dieser Hinsicht bleiben wir der NATO verbunden, aber wir müssen unsere Unabhängigkeit stärken. Die Zukunft Europas darf nicht in Washington oder Moskau entschieden werden.“
Russland warf Macron vor, es sei „für die kommenden Jahre zu einer Bedrohung für Frankreich und Europa geworden“. Niemand könne glauben, „dass Russland nach der Ukraine Halt machen wird“.
Deutschland spielt die Vorreiterrolle bei der europäischen Aufrüstung. Am Dienstagabend traten die Vorsitzenden von CDU, CSU und SPD, die über eine gemeinsame Regierung verhandeln, vor die Presse und verkündeten ein Aufrüstungsprogramm, das sich noch vor wenigen Tagen kaum jemand hätte vorstellen können. Mit etwa einer Billion Euro ist es zehn Mal so hoch wie das Sondervermögen, das die Regierung von Olaf Scholz vor drei Jahren beschlossen und als „Zeitenwende“ bezeichnet hatte.
Alle Verteidigungsausgaben, die über einem Prozent der Wirtschaftsleistung (etwa 45 Milliarden Euro) liegen, sollen von der Schuldenbremse ausgenommen werden, die der staatlichen Neuverschuldung enge Grenzen setzt. Ursprünglich war ein weiteres Sondervermögen von 400 Milliarden Euro im Gespräch gewesen. Mit der jetzt gefundenen Regelung können die Militärausgaben weit darüber hinaus erhöht werden. Experten gehen von mindestens 500 Milliarden aus.
Sondervermögen für Infrastruktur
Zusätzlich haben Union und SPD ein Sondervermögen in Höhe von 500 Milliarden Euro vereinbart, das ebenfalls nicht unter die Schuldenbremse fällt. Damit soll der Ausbau der Infrastruktur finanziert werden. Es geht dabei aber nicht – wie die SPD weis machen will – um die Reparatur von Schulen und um Investitionen in Krankenhäuser, sondern um direkte und indirekte Kriegsvorbereitung.
Neben der Aufrüstung und der Vergrößerung der Bundeswehr, die aus dem Verteidigungshaushalt finanziert wird, erfordert die Erlangung der „Kriegstüchtigkeit“ nämlich auch den Aufbau einer riesigen, von US-Importen unabhängigen Rüstungsindustrie sowie den Ausbau der kriegswichtigen Infrastruktur. Diesem Zweck dient das Sondervermögen.
Das Projekt erinnert an Hitlers berüchtigten Autobahnbau, der ebenfalls als ziviles Unternehmen dargestellt wurde, in Wirklichkeit aber dem schnellen Truppentransport diente. Auch heute geht es um den Transport von Truppen. Ifo-Präsident Clemens Fuest, der den Fonds zusammen mit anderen Ökonomen vorgeschlagen hatte, sagte der F.A.Z., es müsse damit „in den Zivilschutz und in militärische Ertüchtigung der Infrastruktur investiert werden, stabile Brücken allen voran“.
Es geht aber auch um Digitalisierung, Aufklärungssatelliten, sichere Kommunikation, Drohnen und andere Waffentechnologien, die für die moderne Kriegsführung entscheidend sind und bei denen Europa weit hinter den USA zurückliegt, sowie um die Unabhängigkeit von Lieferketten und der Rohstoff- und Energieversorgung.
Aufschlussreich ist ein Hintergrundpapier, das der Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft, Moritz Schularick, verfasst hat, der wie Ifo-Chef Fuest zur Ökonomengruppe zählt, die das gewaltige Sondervermögen vorgeschlagen hat. Das Papier trägt auch die Unterschrift zweier führender Rüstungsmanager, von Thomas Enders, dem ehemaligen Chef von Airbus und heutigen Präsidenten des Thinktanks DGAP, und von Airbus-Aufsichtsratschef René Obermann. Airbus ist der zweitgrößte Rüstungskonzern Europas.
Das Papier macht deutlich, dass die gigantische Aufrüstung nicht, wie behauptet, der Verteidigung dient, sondern der Eskalation des Kriegs gegen Russland mit gigantischen Mengen moderner Waffen sowie der Vorbereitung weiterer Kriege.
Kern des Papiers ist „ein Appell, die Verteidigungsmilliarden gezielt darauf zu richten, im Kriegsfall eine ‚asymmetrische Überlegenheit‘ zu schaffen,“ schreibt die F.A.Z., der der Text vorliegt. In Summe zielten die Vorschläge auf „die Überlegenheit auf dem modernen Gefechtsfeld, und weniger auf Unterstützungs- oder Logistikaspekte der Verteidigung“.
Deutschland müsse ein „SPARTA“-Projekt (Strategic Protection and Advanced Resilience Technology Alliance) für die europäische Verteidigung initiieren, fordern die Ökonomen und Rüstungsmanager. Dies bedeute „das unverzügliche Aufsetzen großer Rüstungsprogramme mit Fokus auf neue Technologien und souveräner innereuropäischer Beschaffung“. Überlegenheit auf dem Schlachtfeld werde heute durch Masse in Verbindung mit technologischer Exzellenz erzielt, wie der Krieg in der Ukraine zeige.
Kurzfristig verlangt das Papier unter anderem einen „weiträumigen Drohnenwall über der NATO-Ostflanke“ mit mehreren zehntausend Kampfdrohnen. Mittelfristig sollen technische Verbesserungen wie etwa eine „Europäischen Multi-Domain-Combat-Cloud für die dezentrale, vernetzte Nutzung von Daten auf dem Gefechtsfeld“ entwickelt werden.
Verfassungsänderung im Eiltempo
Union und SPD legen eine enorme Eile an den Tag, um ihr gewaltiges Aufrüstungsprogramm zu verabschieden, und setzen sich dabei rücksichtslos über Wahlversprechen und demokratische Verfahren hinweg.
Sie haben sich auf die Finanzierung geeinigt, bevor die eigentlichen Koalitionsverhandlungen über das gemeinsame Programm der neuen Regierung überhaupt begonnen haben, die frühestens Mitte April gewählt wird.
Um die notwendige Zweidrittelmehrheit zu bekommen, wird der abgewählte Bundestag noch einmal einberufen, um die erforderlichen Verfassungsänderungen spätestens am 17. März in dritter Lesung zu verabschieden. Am 21. März sollen sie den Bundesrat passieren. Am 25. März tritt dann erstmals der neue Bundestag zusammen.
Dieses beispiellose Verfahren, das rücksichtslos über das Wahlergebnis hinwegtrampelt, wurde gewählt, weil SPD und Union im alten Bundestag gemeinsam mit den Grünen über die erforderliche Zweidrittelmehrheit verfügen. Im neuen Bundestag wären sie dafür auf Unterstützung aus den Reihen der Linkspartei oder der AfD angewiesen.
Die Grünen zieren sich zwar noch. Sie sind beleidigt, weil sie nicht rechtzeitig konsultiert wurden. Sie haben aber bereits deutlich gemacht, dass sie der Verfassungsänderung zustimmen werden, wenn irgendwo im Text die Vokabel „Klimaschutz“ eingefügt wird.
Der designierte Bundeskanzler Friedrich Merz hatte sich noch im Bundestagswahlkampf vehement gegen eine Lockerung der Schuldenbremse ausgesprochen. Nun hat er in weniger als zehn Tagen eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen und tritt für ein Rüstungsprogramm ein, das die Staatsverschuldung innerhalb kurzer Zeit von derzeit 63 auf 90 oder sogar 100 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung steigert.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Merz begründete seine neue Haltung mit den Worten, angesichts der neuen internationalen Herausforderungen müsse Europa erwachsen werden. Bei der Verteidigung müsse jetzt gelten: „Whatever it takes.“ Der Spruch stammt vom ehemaligen EZB-Chef Mario Draghi, der damit in der Finanzkrise die Unterstützung der Banken mit rund 500 Milliarden Euro angekündigt hatte.
Das Ausmaß des Aufrüstungsprogramms, das jetzt eingeleitet wird, erinnert an die ersten Jahre der Nazi-Diktatur. Der Anteil des Militärhaushaltes am deutschen Sozialprodukt stieg damals von 1,5 Prozent im Jahr 1932 auf 5,5 Prozent 1935, dem dritten Jahr von Hitlers Herrschaft. Da eine Finanzierung aus Steueraufkommen nicht mehr möglich war, wurde die Rüstung durch staatlich abgesicherte Kredite finanziert. Je höher die Schulden stiegen, desto unausweichlicher wurde auch der Krieg. Deutschland wäre pleite gewesen, wenn Hitler 1939 nicht Polen und später die Sowjetunion überfallen und den brutalsten Raubzug der Geschichte begonnen hätte.
Europa dominieren, um Weltmacht zu werden
Nun geht es um ähnlich hohe Summen. Und die herrschende Klasse Deutschland geht wieder denselben Weg. Sie versucht Europa zu dominieren, um Weltmacht zu werden.
Bereits 2014 hatten Ursula von der Leyen (damals deutsche Verteidigungsministerin) und der heutige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (damals Außenminister) verkündet, Deutschland müsse in der Weltpolitik wieder eine Rolle spielen, die seinem wirtschaftlichen Gewicht entspreche. Seitdem hat das Land massiv aufgerüstet und in der Ukraine im Krieg gegen Russland eine führende Rolle gespielt. Nun sehen die Herrschenden die Chance, sich von der amerikanischen Vorherrschaft zu befreien.
Ein Leitartikel, der am 6. März im Spiegel erschien, spricht das in bemerkenswerter Offenheit aus. Unter der Überschrift „Amerika ist jetzt unser Gegenspieler“ schreibt Mathieu von Rohr: „Die westliche Allianz ist zerbrochen. Europa muss jetzt selbst stark werden – oder es wird untergehen.“
Die Bedeutung dieses fundamentalen Umbruchs für Deutschland könne nicht überbetont werden, so der Spiegel. Die Bundesrepublik sei in vielerlei Hinsicht eine amerikanische Schöpfung, die USA ein großer Bruder gewesen. „Damit ist es nun vorbei.“
Nahezu triumphierend schreibt von Rohr: „Dramatische Ereignisse können Kräfte wecken. Niemand hat die Nato so gestärkt wie Putin, als er die Ukraine überfiel. … Es gibt keinen Grund, warum 500 Millionen Europäer sich gegen Russland nicht allein verteidigen könnten. Sie sind wirtschaftlich stark genug, um das leisten zu können – und das werden sie jetzt müssen.“
Besonders wichtig sei, dass „Deutschland, das in der Vergangenheit militärisch so zögerlich war, als wichtigste europäische Nation nun aber eine Führungsrolle einnehmen muss“. Die Aufhebung der Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben könne erst der Anfang sein. Europa brauche „strategische Autonomie“ und benötige auch eine nukleare Bewaffnung.
Ähnliche Kommentare finden sich zu Dutzenden. So fordert Ex-Außenminister Joschka Fischer (Grüne) im Zeit-Interview mit der Begründung, „der Westen ist beendet“ und „Europäer und Deutsche müssen jetzt an unsere eigene Sicherheit“ denken, die Widereinführung der Wehrpflicht und einen europäischen Atomschirm.
In ihrer Wahlerklärung schrieb die Sozialistische Gleichheitspartei, die Antwort der herrschenden Klasse Deutschlands auf Trumps „Make America Great Again“ laute „Deutschland über alles“. „Sie reagiert auf Trump, indem sie aufrüstet wie seit Hitler nicht mehr.“ Das bestätigt sich nun dramatisch.
Nur die Arbeiterklasse, die seine Kosten und Folgen zu tragen hat, kann diesem Kriegswahnsinn Einhalt gebieten, indem sie sich international vereint und den Kampf gegen Sozialabbau und Ausbeutung mit dem Kampf gegen Krieg und Kapitalismus verbindet.