Die Medienkampagne um den SPD-Kanzlerkandidaten und designierten SPD-Vorsitzenden Martin Schulz hat etwas Bizarres. Seit der bisherige Präsident des Europäischen Parlaments Ende Januar überraschend zum Kanzlerkandidaten der SPD im diesjährigen Bundestagswahlkampf ernannt wurde, wird er in den Medien wie ein Superstar gefeiert.
Der Spiegel widmete ihm kurz hintereinander zwei Titelblätter, erst mit Heiligenschein und der Schlagzeile „Sankt Martin“, dann als Merkel-Bezwinger und „Hoffnungsträger für die liberale Demokratie“. In Sondersendungen, unzähligen Interviews und Talkshows kündigte Schulz einen „Wahlkampf für Gerechtigkeit“ an.
Bereits drei Tage nach seiner Wahl erschienen Schlagzeilen, die über wachsende Zustimmung für die SPD bei so genannten „Blitzumfragen“ berichteten. In der SPD-Zentrale herrscht Hochstimmung. In den vergangenen Monaten waren die Sozialdemokraten in Wählerumfragen kontinuierlich abgesunken. Zuletzt hatten sie noch nicht einmal mehr 20 Prozent erreicht.
Vor einer Woche teilte das Institut für neue soziale Antworten (INSA) in Erfurt mit, die SPD habe in den Wahlumfragen die Union überrundet. Obwohl andere Meinungsinstitute vor übereilten Einschätzungen warnten und der ehemalige Emnid-Chef Klaus-Peter Schöppner erklärte, er glaube nicht an das, was INSA da als Wechselstimmung präsentiere, dominierte die Nachricht die Medien.
„Merkeldämmerung“ liege in der Luft, die SPD steige „wie ein Phönix aus der Asche“, schreibt die Augsburger Allgemeine. Martin Schulz werde wie ein „Erlöser“ wahrgenommen und habe die Partei „quasi aus dem Nichts“ zum Wahlfavoriten gemacht. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung schreibt begeistert über den „Schulz-Effekt“, der der NRW-SPD bereits mehr als 1000 neue Parteimitglieder gebracht habe.
Die Süddeutsche Zeitung klatscht Beifall und gibt Ratschläge. Unter der Überschrift „Was die SPD jetzt tun muss“ heißt es, die Sozialdemokraten könnten vor Kraft kaum laufen. Schulz schenke den frustrierten Genossen Zuversicht und verbreite Aufbruchsstimmung. Schulz müsse nun einen „entschlossenen Kurswechsel“ durchsetzen und „überzeugend durchdeklinieren, worin heute soziale Gerechtigkeit“ bestehe. „Wie kann es sein“, fragt die Süddeutsche, „dass drei Viertel aller Akademikerkinder studieren, aber nur jedes vierte Arbeiterkind? Wie kann es sein, dass die meisten Deutschen in ihrem harten Berufsleben weniger ansparen als Bürger im großen Rest Europas?“ Darauf müsse Schulz eindeutige Antworten geben.
Die Behauptung, Schulz sei der Erneuerer der SPD, der die Partei zu ihren traditionellen Werten und dem Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit zurückführe, ist absurd. Der ehemalige Bürgermeister der Kleinstadt Würselen nahe der holländischen Grenze verkörpert wie kaum ein anderer die verhasste Politik der SPD. Als langjähriges Mitglied des konservativen Seeheimer Kreises und faktischer Führer einer Großen Koalition im Europaparlament gehört er zum rechten Flügel der Partei.
Schulz hat die Hartz-Gesetze immer verteidigt und als „notwendige Reformen“ bezeichnet, obwohl heute jeder weiß, dass die Agenda 2010 der Regierung Schröder/Fischer einen beispiellosen Sozialabbau einleitete und Millionen Arbeiter zwang, ihr Leben in prekären und niedrig bezahlten Jobs zu fristen. Auch heute spricht Schulz nur von ein paar „Korrekturen“, die an der Agenda 2010 gemacht werden müssten. Selbst auf eine Erhöhung des mickrigen Mindestlohns, von dem kein Mensch vernünftig leben kann, will er sich nicht festlegen.
Während seiner Zeit als Präsident des Europäischen Parlaments war Schulz aktiv daran beteiligt, das Diktat der Bundesregierung und der EU-Troika gegen Griechenland durchzusetzen. Immer wieder reiste Schulz in den vergangenen Jahren nach Athen, um die griechische Regierung gefügig zu machen und massive Sozialkürzungen durchzusetzen. Das Renten-, Bildungs- und Sozialsystem wurde in diesem EU-Staat vollständig zerstört und Millionen Arbeiter und ihre Familien in bittere Armut und Verzweiflung gestoßen.
Wenn Schulz heute verkündet, es gehe in Deutschland nicht gerecht zu und er wolle im Wahlkampf für mehr Gerechtigkeit kämpfen, ist das reine Heuchelei. Arbeiter wissen sehr gut, dass die SPD in den vergangenen zwei Jahrzehnten 15 Jahre in der Regierung saß und den Arbeits- und Sozialminister stellte. Die SPD ist als Hartz-IV-Partei verhasst. Niemand, und schon gar nicht Martin Schulz, wird das ändern.
Aber Schulz wendet sich auch nicht an die Arbeiter und Arbeitslosen. Sein seichtes Reformgeschwätz richtet sich an die vielen Tausend SPD-Funktionäre und an die gut bezahlten Gewerkschaftsfunktionäre, die Teil einer gehobenen Mittelschicht sind. Mit einem Gemisch aus moralischen Phrasen und EU-Demagogie will er diese Mittelschicht und die bürokratischen Apparate von SPD und Gewerkschaften mobilisieren, um die Großmachtinteressen des deutschen Imperialismus durchzusetzen. Dazu wäre er auch bereit, eine Koalition mit den Grünen und der Linkspartei zu bilden.
Am vergangenen Sonntag trat Schulz auf der SPD-Arbeitnehmerkonferenz in der Stadthalle von Bielefeld auf. Vor einem Bühnenbild voller Handwerkszeug und dem Banner „Arbeit in Deutschland“ sprach Schulz zu der versammelten SPD- und Gewerkschaftsprominenz. Sie empfingen ihn mit stehender Ovation und klatschten heftig bei jeder Kritik an der Regierungspolitik, obwohl SPD-Ministerin Andra Nahles deren Arbeits- und Sozialpolitik prägt.
Die Atmosphäre in Bielefeld hatte etwas von 70er-Jahre-Nostalgie. Aber schon damals hatte ein rechter Sozialdemokrat namens Helmut Schmidt die Führung der SPD übernommen. In sein erstes Kabinett waren 1974 fünfzehn Gewerkschaftsbürokraten als Minister und Staatssekretäre eingebunden. Gestützt auf die bürokratischen Apparate von SPD und Gewerkschaften erstickte Schmidt die Streiks von Arbeitern, rüstete den Staatsapparat auf und leitete eine Welle des Sozialabbaus ein, die bis heute anhält.
Angesichts der tiefgreifenden politischen Veränderungen, die mit dem Amtsantritt von Donald Trump in den USA begonnen haben, hält ein Teil der herrschenden Klasse in Deutschland diese Machtkonstellation aus SPD und Gewerkschaftsbürokratie für durchaus sinnvoll. Daher der Medienhype um Schulz und seine Inszenierung als „Messias der SPD“.
Der Noch-SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat deutlich gemacht, dass die Übergabe des Parteivorsitzes und der Kanzlerkandidatur an Schulz, sein eigener Wechsel vom Wirtschaftsministerium ins Außenamt und die Ernennung von Frank-Walter Steinmeier zum Bundespräsidenten Teil einer sozialdemokratischen Offensive in der Außen- und Innenpolitik nach der Wahl Trumps ist.
In einem ausführlichen Interview mit dem Handelsblatt erklärte Gabriel, Trump meine es „bitterlich ernst“, aber das sei kein Anlass zu Kleinmut. „Wenn Trump einen Handelskrieg mit Asien und Südamerika beginnt, eröffnen sich damit auch Chancen für uns. … Europa sollte jetzt schnell an einer neuen Asienstrategie arbeiten. Die Räume, die Amerika frei macht, müssen wir jetzt nutzen.“ Wenn „der US-Protektionismus dazu führt, dass sich neue Chancen für Europa in ganz Asien auftun, sollten wir zugreifen“.
Um diesem deutschen Griff nach der Weltmacht Nachdruck zu verschaffen, strebt Gabriel ein Kerneuropa unter deutscher Führung an. „Europa stärken, eine gemeinsame Außen und Sicherheitspolitik entwickeln … und vor allem eine eigene Asien-, Indien- und Chinastrategie aufbauen“, forderte er.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am vergangenen Wochenende wurden diese Fragen erneut diskutiert. Der Konferenzleiter Wolfgang Ischinger betonte, nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten sei „eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik nötiger als je zuvor“. Deutschland müsse dabei eine stärkere und politisch bewusstere Rolle spielen. Gleichzeitig wurde eine massive Steigerung der Rüstungsausgaben vereinbart.
Bundeskanzlerin Merkel stimmt dem zwar zu, auch sie hat sich von Trump distanziert, aber die Union ist in der Frage der Außenpolitik gespalten. Die bayrische Schwesterpartei CSU arbeitet mit ultranationalistischen Parteien wie der ungarischen Fidesz zusammen und hat Trump mehrmals in Schutz genommen.
Nachdem die rot-grüne Bundesregierung vor zwei Jahrzehnten die Schlüsselrolle dabei spielte, die Agenda 2010 mit Brachialgewalt zu verwirklichen, und gleichzeitig in der Außenpolitik die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr und eine starke militärische Aufrüstung auf den Weg brachte, soll nun erneut die SPD die Führungsrolle übernehmen, um die Interessen des deutschen Imperialismus durchzusetzen.