Am Montag fand der zweite Warnstreik bei den Berliner Verkehrsbetrieben BVG statt, zu dem die Gewerkschaft Verdi im Rahmen der Tarifauseinandersetzung aufgerufen hatte. Mit dem 24-Stunden-Streik stand der Bus-, Tram- und U-Bahnverkehr der Hauptstadt weitgehend still, bis auf die S-Bahn, die nicht zum Warnstreik aufgerufen war.
Der Konflikt bei der BVG fällt mit dem größten Sozialkahlschlag in der Geschichte der Bundesrepublik zusammen. Während sich im Bundestagswahlkampf 2025 alle Parteien mit Aufrüstungsforderungen gegenseitig überbieten und die Militarisierung der gesamten Gesellschaft vorantreiben, werden Kürzungshaushalte verabschiedet und Reallohnsenkungen vereinbart. In der Autoindustrie werden, wie bei Volkswagen, zehntausende Arbeitsplätze vernichtet, und auch der ganze öffentliche Dienst steht unter Beschuss.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Friedrich Merz (CDU/CSU), die beiden Spitzenkandidaten, sind sich einig, weitere riesige Summen für den kommenden Kriegshaushalt locker zu machen. Merz hat es beim TV-Duell am letzten Wochenende klar ausgesprochen: „Wir werden Prioritäten im Haushalt setzen müssen“, sagte Merz dort. „Und Prioritäten setzen heißt, dass wir uns nicht mehr alles wünschen können. Dass wir vielleicht auch mal ganz gezielt an den Subventionierungsabbau herangehen müssen, dass wir auch ganz gezielt auf den öffentlichen Dienst schauen müssen.“ Dem hat auch Scholz nicht widersprochen.
In dieser Situation ist der Aufbau einer Massenbewegung gegen die Kürzungs- und Kriegspolitik nicht nur notwendig, sondern auch möglich. Zeitgleich mit den Tarifauseinandersetzungen bei der BVG befinden sich auch 2,6 Millionen Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, 192.000 Eisenbahner, 170.000 DHL- und Post-Beschäftigte sowie Bodenarbeiter der Lufthansa in Tarifauseinandersetzungen.
Auch in Frankreich sind Beschäftigte der öffentlichen Nahverkehrsbetriebe im Streik. Gerade in dieser Woche befinden sich Fahrer der RER-Züge in Paris und des Astuce-Netzwerks in Rouen im Arbeitskampf.
Doch Verdi und die übrigen Gewerkschaften setzen alles daran, eine wirkliche Massenbewegung zu verhindern. Das wird gerade in dieser Woche klar: Anstatt alle Beschäftigten für einen gemeinsamen Streik und Kampf zu mobilisieren, versucht Verdi, mit isolierten und möglichst zerstückelten Warnstreiks „Dampf abzulassen“. So streikt am Montag die BVG in Berlin, am Dienstag die Stadtbahn in Hannover und am Mittwoch, Donnerstag und Freitag der öffentliche Dienst in noch anderen Städten. Die Post hatte in der Vorwoche mehrere Warnstreiks. Und dabei sind all diese Streiks von derselben Gewerkschaft – von Verdi – organisiert.
Zusätzlich hat die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) erklärt, auf Streiks vollständig verzichten und die Tarifverhandlungen noch vor der Bundestagswahl abschließen zu wollen. Auch Verdi ließ wissen, dass der Warnstreik vom Montag mit einem 40-Tage-Ultimatum verbunden sei, was bedeutet, dass bis zu dessen Ablauf am 21. März keine weiteren Streiks mehr stattfinden sollen.
Das Kalkül dahinter ist klar: Eine massive Streikbewegung im Wahlkampf muss verhindert werden, denn sie könnte die Bemühungen der herrschenden Klasse gefährden, mit den vorgezogenen Neuwahlen eine stabile Regierung an die Macht zu bringen und die Aufrüstung massiv zu beschleunigen. Deshalb tun die Gewerkschaften alles in ihrer Macht Stehende, um eine breite Streikbewegung zu verhindern: Sie unterstützen die Aufrüstung und Kriegspolitik der Bundesregierung und sind bemüht, jede Opposition dagegen zu unterdrücken.
Kein Zweifel, Verdi will bei der BVG und in den anderen Bertrieben die Reallohnsenkungen, die für die Kriegspolitik notwendig sind, zuverlässig durchsetzen. Offiziell fordert die Gewerkschaft eine Erhöhung von 750 Euro des Grundlohns bei 12-monatiger Laufzeit des Vertrags, eine Wechselschichtzulage von 300 Euro für das Fahrpersonal, die Verdopplung der Schichtzulage von 100 auf 200 Euro und ein 13. Monatsgehalt. Diese Forderungen, die sich aus einer Mitgliederbefragung ergeben haben, sind nach all den Ausverkaufsverträgen der letzten Jahre das absolute Minimum.
Der aktuelle Tarifvertrag wurde vor fünf Jahren abgeschlossen – er berücksichtigt in keiner Weise die Inflation der letzten Jahre. BVG-Arbeiter kämpfen seit Jahren mit viel zu niedrigen Löhnen und miserablen Arbeitsbedingungen: Die Wendezeiten von wenigen Minuten reichen oftmals nicht dazu aus, auf Toilette zu gehen; man muss ständig wechselnde Buslinien fahren, und es herrscht chronischer Personalmangel.
Die Berliner Verkehrssenatorin Ute Bonde (CDU) hat die Forderungen abgelehnt. Sie geht von einer vierjährigen Laufzeit des neuen Tarifvertrags aus. Und Verdi denkt gar nicht daran, die aufgestellten Forderungen auch wirklich durchzusetzen.
Am Warnstreik wurde ein Statement des Aktionskomitees Verkehrsarbeiter verteilt, das die BVG-Beschäftigten auffordert, mit dem Verdi-Apparat zu brechen und sich unabhängig zu organisieren. Zu dem Verdi-Gewerkschaftssekretär für Berlin Brandenburg, Jeremy Arndt, heißt es darin:
Arndt selbst erklärte, die geforderte Lohnerhöhung würde 25 Prozent ausmachen und die zusätzlichen Kosten für die BVG würden sich auf etwa 250 Millionen Euro belaufen. Da schwingt die Kapitulation bereits mit. Verdi hat noch nie auch nur eine zweistellige Lohnerhöhung vereinbart. Das letzte Mal erstreikten 200.000 Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes, aufgerufen von der Gewerkschaft ÖTV (Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr) im Jahre 1974 eine Erhöhung von 11 Prozent – bei einer Laufzeit von 12 Monaten.
Das wissen die älteren Beschäftigten natürlich. So hat Verdi bei der Personalratswahl im letzten November ihre Mehrheit unter den BVG-Busfahrern verloren. Auch auf der Streikkundgebung war dies deutlich zu spüren: Als Verdi von der Bühne rief „Wer ist die Gewerkschaft“ und ein „Wir sind die Gewerkschaft“ zurück erwartete, empfing sie trotz mehrerer Versuche nur ein breites Schweigen.
Reporter der WSWS und Mitglieder des Aktionskomitees Verkehrsarbeiter sprachen auf der Kundgebung mit streikenden Arbeitern.
„Wenn Verdi nichts Ordentliches bei dieser Runde herausbringt, dann bin ich bei Verdi raus“, sagte Mehmet, der selbst, wie er sagt, mit seinem Lohn kaum über den Sozialsatz hinauskommt. Verdi habe schon in der Vergangenheit enttäuscht, zum Beispiel beim Corona-Ausgleich, der auf mehrere Jahre verteilt wurde. „Wir hätten das Geld doch sofort haben müssen, nicht erst zwei Jahre später.“
Zur Tarifrunde fand Mehmet vor allem wichtig, dass man als „starke Gemeinschaft“ handelt, und er wollte sich deshalb auch mit dem Aktionskomitee vertraut machen. Er sagte: „Bisher werden wir ja kaum wahrgenommen. Es muss wirklich eine starke Solidarität geben, wo wir alle für einander da sind. Denn die BVG ist ja kein Einzelfall. Auch die Deutsche Post, die Deutsche Bahn, der öffentliche Dienst... Wenn wir alle zusammen streiken, dann erreichen wir einfach viel mehr.“
Seine Eltern, die ein Leben lang gearbeitet haben, müssten jetzt mit einer Rente auskommen, mit der sie „gerademal die Miete bezahlen – das kann es doch nicht sein!“ sagte Mehmet. Er berichtete von Arbeitskollegen, die es nach 40 Jahren kaum noch bis zum Rentenalter schaffen. „Und das ist kein Einzelfall, es sind immer mehr.“
Viele Teilnehmer klagten über die hohen Mieten in Berlin. Ein Busfahrer sagte: „Das Ziel muss sein, dass es mindestens 1.000 Euro brutto mehr gibt. Das würde uns um einige Probleme erleichtern.“ Er setzte gleich hinzu: „Aber das gilt auch für die Putzfrau, die die Toiletten säubert, oder die im Klinikum im OP-Saal arbeitet.“
Andere berichteten, dass ihr Betrieb bereits teilprivatisiert worden sei. Immer größere Bereiche würden an Schroeder-Reisen ausgegliedert, wo noch schlechtere Arbeitsbedingungen herrschten und Fahrer oft weit über 200 Stunden im Monat arbeiteten (normal wären 156 Stunden).
Viele stimmten der Forderung des Aktionskomitees zu, dass alle Verhandlungen öffentlich und live übertragen werden müssen. Das Aktionskomitee Verkehrsarbeiter fordert in seinem Statement:
Um die gegenwärtigen Forderungen in vollem Umfang durchzusetzen, darf der Tarifkampf nicht der Verdi-Führung überlassen werden. Keine Verhandlungen hinter verschlossenen Türen! Online-Live-Schaltung zwecks Kontrolle durch Beschäftigte der Basis! Offenlegung aller Verhandlungsprotokolle! Aufbau von Aktionskomitees zur Vorbereitung eines Vollstreiks!
Immer wieder betonten Kolleginnen und Kollegen die Notwendigkeit, den Kampf mit allen Beschäftigten gemeinsam zu führen.
„Es ist sehr traurig, dass es [der Streik] auf diese Art gemacht wird“, sagte eine Fahrerin namens Christiane. „Notwendig wäre ein Generalstreik. Wir halten doch die ganze Stadt am Laufen. Und wir sind ja keine kleinen Kinder: das hat doch einen Grund, dass wir hier auf die Straße gehen! Wir müssten alle zusammen einen Generalstreik machen, sonst werden wir gar nicht wahrgenommen.“
„Ich bin dafür, dass wir wenigstens eine Woche streiken“, sagte Velimir, ein Mitglied des Aktionskomitees Verkehrsarbeiter. Ein Tag bringe gar nichts, darin sehe er keinen Sinn, betonte er. „Wir gehören doch alle zusammen.“
„Überhaupt nicht gut“ finde er, dass die Politik immer mehr Geld in die Rüstung statt in die sozialen Dienste steckt und diese außerdem in wachsendem Maße privatisiert. Er berichtete, dass gerade ein erst 50 Jahre alter Kollege gestorben sei, „ein guter Kollege! Er hat mehr als 20 Jahre als Fahrer gearbeitet“.
Mehrere streikende Fahrer betonten, dass sie gar nicht wüssten, wen sie bei den Bundestagswahlen wählen sollten. Oft konnte man hören: „Man weiß diesmal gar nicht, wen man überhaupt noch wählen kann.“ Aber Velimir wies im Gespräch mit Andy Niklaus auf die Sozialistische Gleichheitspartei: „Ich unterstütze sie auf jeden Fall“, sagte er. „Sie ist die einzige Antikriegspartei, die einzige Partei, die ich verstehen kann und deren Programm ich gut finde.“