Tempi-Proteste verschärfen politische Krise in Griechenland

Griechenlands Premierminister Kyriakos Mitsotakis bei einer Kabinettssitzung in Athen, Griechenland, 15. März 2025 [AP Photo/Yorgos Karahalis]

Die Massenbewegung der Jugendlichen und Arbeiter, die zwei Jahre nach dem Tempi-Zugunglück ausgebrochen ist, erschüttert die herrschende Klasse in Griechenland. Angesichts der größten Proteste in der Geschichte des Landes hängt die Regierung am seidenen Faden. Während die Gewerkschaften versuchen, die Bewegung unter Kontrolle zu halten, reagieren die Oppositionsparteien mit verschiedenen Manövern im Parlament.

Am 7. März überstand die Regierung unter der rechten Nea Dimokratia (ND) mit knapper Mehrheit ein Misstrauensvotum der Opposition. Von 300 Abgeordneten votierten 157 für die Regierung, 136 dagegen. Sieben waren abwesend, darunter die rechtsextreme Partei Spartiates und der Ex-Ministerpräsident der ND, Antonis Samaras.

Nach dem Generalstreik und den größten Protesten in der Geschichte Griechenlands Ende Februar protestierten in den vergangenen Wochen erneut Zehntausende Demonstranten und forderten „Wahrheit und Gerechtigkeit“ für die 57 Opfer der Zugkatastrophe im Jahr 2023. Bahnarbeiter hielten Kundgebungen ab. In Athen setzte die Polizei Tränengas und Schlagstöcke gegen protestierende Jugendliche auf dem Syntagma-Platz ein.

Am Mittwoch fand eine Veranstaltung in der Athener Pantion-Universität statt, auf der auch Maria Karystianou sprach, die Mutter eines Tempi-Opfers, die der Vereinigung der Tempi-Angehörigen angehört und die Protestbewegung initiiert hat.

Am Donnerstag protestierten vormittags Studierende in Athen und Thessaloniki. Abends versammelten sich Tausende mit Plakaten und Bannern bei einem Open-Air-Konzert in Gedenken an Tempi auf dem Syntagma-Platz. Die Studierenden hatten mit folgenden Worten dazu aufgerufen: „Ein Lied für die Menschen, die in den Zügen ihr Leben verloren haben... Wir gehen bis zum Ende! Entweder ihre Profite oder unser Leben!“

Wie groß der Unmut in der Bevölkerung ist, zeigt auch eine aktuelle Umfrage des griechischen Meinungsforschungsinstituts MRB. Die Mehrheit der Befragten (72,2 Prozent) betrachtet das Zugunglück als Verbrechen, nicht als Unfall. 78,5 Prozent bezweifeln, dass die Regierung für die Aufklärung des Tempi-Unglücks eintritt, und 57,5 Prozent sind für eine vorgezogene Neuwahl. 70,3 Prozent befürworteten sogar die Aussage, dass alle Züge so viele Jahre lang stillgelegt werden sollten, bis die notwendige Sicherheit der Bahn wiederhergestellt ist.

Die ND-Regierung reagierte auf den Druck mit einer Kabinettsumbildung. Am Freitag wurden die neuen Minister bekannt gegeben, am Samstag wurden sie vereidigt. Regierungskreise sprechen laut Kathimerini von einem „bedeutenden Neuanfang“, weil einige jüngere Politiker wichtige Posten erhalten. Aber in Wirklichkeit ist es ein verzweifelter Versuch der Regierung, mit kosmetischen Veränderungen ein stabileres Kabinett zu schaffen, um den Widerstand der Arbeiterklasse zu unterdrücken. Dass die zentralen Posten des Außen- und Verteidigungsministers unverändert bleiben, zeigt zudem die Kontinuität der militärischen Unterstützung für den Ukrainekrieg und Israels Genozid in Gaza.

In einigen Personalien signalisiert die Kabinettsumbildung einen weiteren Rechtsruck. Der bisherige Wirtschafts- und Finanzminister Kostis Hatzidakis, der die Profitinteressen der Konzerne und Banken gegen die griechischen Arbeiter durchgesetzt hat, avanciert jetzt zum stellvertretenden Premierminister. Der Verkehrsminister Christos Staikouras tritt zurück und wird durch Christos Dimas (bisher stellvertretender Finanzminister) ersetzt; sein neuer Stellvertreter Konstantinos Kyranakis soll für die Reform des Schienennetzes verantwortlich sein. Dimas und Kyranakis sind beide junge ND-Aufsteiger.

Makis Voridis, ein berüchtigter rechtsextremer Hardliner, wird als neuer Migrationsminister die flüchtlingsfeindliche Politik der Regierung anführen. Der ultrarechte Gesundheitsminister Adonis Georgiadis, der in seiner Laufbahn den Gesundheitshaushalt drastisch gekürzt hat, behält seinen Posten. Ebenso die rechte Arbeitsministerin Niki Kerameos, die früher als Bildungsministerin während der ersten Phase der Pandemie Massenproteste unter Lehrern und Schülern gegen die mörderische Durchseuchunspolitik der Regierung ausgelöst hat.

Eine weitere Veränderung an der politischen Spitze erfolgte am Donnerstag. Konstantinos Tasoulas wurde als neuer Präsident vereidigt, der in Griechenland – ähnlich wie in Deutschland – vor allem repräsentative Funktion hat. Angehörige der Tempi-Opfer reichten zeitgleich zu seiner Vereidigung Klage gegen Tasoulas ein. Sie werfen ihm vor, in seiner vorherigen Rolle als Parlamentssprecher aktiv an der Vertuschung der Tempi-Katastrophe beteiligt gewesen zu sein, indem er beispielsweise Klagen gegen einzelne Politiker nicht weiterreichte und verschwieg.

Das Misstrauensvotum in der letzten Woche hatte die größte Oppositionspartei Pasok in Kollaboration mit Syriza, den Syriza-Abspaltungen Nea Aristera und Plefsi Eleftherias sowie neun unabhängigen Parlamentariern eingebracht. In der dreitägigen Parlamentsdebatte posierten diese Parteien als Stimme der Protestbewegung und „linke“ Opposition zur rechten ND.

Der Pasok-Vorsitzende Nikos Androulakis warf Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis eine kriminelle Verantwortung für das Zugunglück vor. Der Chef der pseudolinken Syriza, Sokratis Famellos, prangerte die Vertuschung an und erklärte: „Das eigentliche Dilemma besteht darin, ob wir zulassen sollen, dass Herr Mitsotakis Griechenland ins Chaos führt.“

Mit dieser Aussage machte Famellos deutlich, was die eigentliche Sorge Syrizas ist. Es geht ihr nicht um die Aufklärung des Tempi-Verbrechens, für das Syriza mit der Privatisierung des Bahnbetreibers während ihrer Amtszeit mitverantwortlich ist. Vielmehr soll Mitsotakis das Land nicht ins „Chaos führen“, womit Famellos die Gefahr einer revolutionären Entwicklung in der Arbeiterklasse meint, die nicht nur die Regierung, sondern die gesamte herrschende Klasse ins Wanken bringen könnte. Die Rolle von Pasok, Syriza und ihren diversen Ablegern ist es, die kapitalistische Ordnung zu retten und eine Ausweitung der Massenbewegung zu verhindern.

Eine weitere Sorge von Famellos ist es, dass Griechenland innenpolitische Ruhe braucht, um angesichts der Weltlage eine einflussreichere Rolle in der Außenpolitik zu spielen. Bei einer Sitzung des Politischen Sekretariats von Syriza in der vergangenen Woche erklärte der Parteichef: „Die geopolitische Instabilität verstärkt die Forderung nach einem Regierungswechsel. Unser Land ist bei wichtigen internationalen Entscheidungen und Entwicklungen abwesend. Eine starke Sicherheitspolitik erfordert eine starke Außenpolitik und eine starke Gesellschaft. All dem dient die Regierung nicht.“

In dieser Woche wurde auch ein parlamentarischer Sonderausschuss aus 27 Abgeordneten (14 von ND, drei Pasok, zwei Syriza, je einer der anderen Parteien) einberufen, der angeblich die Vorwürfe der Vertuschung des Zugunglücks durch den ehemaligen Minister im Büro des Premierministers, Christos Triantopoulos, prüfen soll.

Niemand sollte auch nur einen Funken Vertrauen in einen Untersuchungsausschuss setzen, in dem eben jene Parteien sitzen, die selbst mitverantwortlich für das Verbrechen waren und auf die Anklagebank gehören. Ein solches Manöver dient dazu, die wirkliche Aufdeckung des Tempi-Unglücks zu verschleppen und weiter zu vertuschen. Es ist eine Farce mit einem klaren politischen Ziel: die Wut der Straße unter Kontrolle zu bringen und die Bewegung in eine Sackgasse zu führen.

Die Kritik der „linken“ Oppositionsparteien an der ND und ihr geheucheltes Mitgefühl für die Tempi-Opfer ist Augenwischerei. Ihre leeren Worte können nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieselben Parteien die Bedingungen geschaffen haben, die zum Zugunglück führten.

Die sozialdemokratische Pasok, die bereits am Boden lag und nur dank der rechten Politik von Syriza und ND wieder einige Wählerstimmen dazugewinnen konnte, hat die ersten Runden der Sparpolitik ab 2009 angeführt. In der Wahl im Mai 2012 wurde Pasok in historischer Weise abgestraft: Sie fiel auf 13 Prozent – von knapp 44 Prozent im Jahr 2009. Trotzdem wurde Pasok erneut in die Regierung eingebunden und setzte gemeinsam mit der ND die Spardiktate der „Troika“ aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds um.

Nachdem Pasok und ND so verhasst waren, dass sie den Widerstand der Bevölkerung kaum mehr eindämmen konnten, kam Syriza an die Reihe. Auf der Welle des Protests im Januar 2015 holte sie einen historischen Wahlsieg und setzte ein Referendum über die Frage an, ob sie ein weiteres, von den Kreditgebern gefordertes Sparprogramm durchführen soll. Die eindeutige Antwort „Ochi“ (Nein) trat Syriza umgehend mit Füßen. In den folgenden Jahren führte sie eine rigorose Sparagenda an und privatisierte 2017 den staatlichen Bahnbetreiber Trainose. Nachdem sie ebenfalls völlig diskreditiert war, verlor sie 2019 haushoch die Wahlen und fristet seitdem ein Schattendasein bei Umfragewerten von etwa sechs Prozent.

Noch vor Syriza liegt aktuell die Partei Plefsi Eleftherias (Kurs der Freiheit) von Zoi Konstantopoulou. Sie versucht aus den Tempi-Protesten Profit zu schlagen, indem sie sich als Verteidigerin der Angehörigen und Demonstranten darstellt. Die Juristin war jahrelang führendes Syriza-Mitglied und ist die Tochter des früheren Vorsitzenden der Syriza-Vorgängerpartei Synaspismos.

Im Januar 2015 wurde Konstantopoulou für Syriza ins Parlament und im Februar desselben Jahres zur Parlamentsvorsitzenden gewählt. Nach dem Referendum im Sommer schloss sie sich den abtrünnigen Syriza-Abgeordneten in der neuen Partei Volkseinheit (Laiki Enotita) an. Ein Jahr später gründete sie ihre eigene Partei Plefsi Eleftherias, die nationalistische Standpunkte vertritt.

Alle diese Parteien bieten keine Perspektive für die Arbeiterklasse, sondern sind ein Hindernis für ihren Kampf um Gerechtigkeit und bessere Lebensbedingungen. Sie geben zwar vor, auf der Seite der Proteste zu stehen, aber verteidigen das kapitalistische System, das die Ursache für die Tempi-Katastrophe und den gesellschaftlichen Niedergang ist.

Wie die WSWS in einem aktuellen Kommentar betont, müssen Arbeiter und Jugendliche mit diesen bankrotten Organisationen und den mit ihnen verbundenen Gewerkschaften politisch abrechnen und sich einer internationalen sozialistischen Perspektive und Strategie zuwenden. Das erfordert die Bildung von Aktionskomitees als Bestandteil der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) und den Aufbau einer griechischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale.