In ihrer Neujahrserklärung 2025 schrieb die Redaktion der World Socialist Web Site:
Die letzten fünf Jahre standen ganz im Zeichen der Reaktion der herrschenden Klasse auf die kapitalistische Krise. Die nächsten fünf Jahre werden von einem explosiven Ausbruch des Klassenkampfs beherrscht werden, der sich bereits anbahnt. ...
Während die Menschheit in die zweite Hälfte des laufenden Jahrzehnts eintritt, reifen die objektiven Bedingungen für eine sozialistische Revolution mit außerordentlicher Geschwindigkeit heran. Die vom globalen Kapitalismus geschaffenen Bedingungen – imperialistischer Krieg, extreme Ungleichheit, Klimakatastrophe und drohende Diktatur – treiben Millionen von Arbeitern und jungen Menschen in den Kampf.
Diese Analyse wird durch die riesige Bewegung in Griechenland in dramatischer Weise bestätigt. Das Zugunglück von Tempi und die anschließende Vertuschung durch die Regierung hat eine Welle des Widerstands ausgelöst.
Am 28. Februar gingen Hunderttausende bei den bisher größten Demonstrationen in Griechenland auf die Straße, um den zweiten Jahrestag des Zugunglücks von 2023 zu begehen. Damals waren 57, vor allem junge Menschen, ums Leben gekommen. Die Demonstrationen wurden von einem Generalstreik begleitet, der alle Teile der griechischen Arbeiterklasse erfasste.
Einer Schätzung zufolge protestierten mindestens 430.000 Menschen in der Hauptstadt Athen. Überall in Griechenland, auch auf den Inseln, kam es zu hohen Teilnehmerzahlen, ein beträchtlicher Teil der 10 Millionen Einwohner wurde mobilisiert.
Von großer objektiver Bedeutung ist außerdem, dass der Ausbruch des Klassenkampfs in Griechenland ein weltweites Echo hervorrief. In über 100 Städten weltweit versammelten sich Demonstranten vor griechischen Botschaften und anderen Orten. Eine Online-Karte zur Koordinierung der Proteste wurde mehr als 1,9 Millionen Mal aufgerufen.
Die Demonstrationen gegen Tempi fanden vor allem in Serbien großen Anklang. Nach dem Einsturz eines Bahnhofsdachs in der Stadt Novi Sad im vergangenen November, bei dem 15 Menschen ums Leben kamen, kam es dort zu breiten Protesten gegen die Regierung.
Der unmittelbare Auslöser der griechischen Protestwelle sind das schreckliche Tempi-Verbrechen – ein sozialer Mord – und die Versuche der rechten Regierung der Nea Dimokratia (ND), die Schuldigen zu schützen.
Der Personenzug, der im Februar 2023 mit einem Güterzug zusammenstieß, befand sich auf dem Weg von Athen nach Thessaloniki. Die Mehrheit der Opfer waren Studierende, auch elf Arbeitern starben. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Güterzug eine illegale Ladung mit Treibstoff transportierte, die in Flammen aufging und den Tod der meisten Passagiere verursachte.
Doch die Explosion der Wut auf den griechischen Straßen hat sich über viele Jahre hinweg entwickelt. Sie ist das Ergebnis der brutalen Sparmaßnahmen, die alle Regierungen seit 2008 durchgesetzt haben. In der Tempi-Bewegung verbindet sich der Widerstand gegen sämtliche Angriffe auf die Arbeiterklasse in den letzten 15 Jahren und die Opposition junger Menschen gegen ein Gesellschaftssystem, das keine Zukunft bietet.
Die konservative Tageszeitung Kathimerini zitierte den Politik- und Sozialforscher Angelos Seriatos mit den Worten: „Murren, Unzufriedenheit, Beschwerden – all das brodelte im Hintergrund bereits. Drei Viertel der Gesellschaft sind mit der Politik der Regierung unzufrieden. Manchmal braucht es nur einen Auslöser, um eine Krise ausbrechen zu lassen.“
In den letzten 15 Jahren hat die Arbeiterklasse auf verschiedenen Wegen versucht, gegen die Offensive der griechischen und internationalen Oligarchie anzukämpfen, insbesondere mit der Wahl der pseudolinken Partei Syriza (Koalition der radikalen Linken) im Jahr 2015, die damals von Alexis Tsipras und seinem Finanzminister Yanis Varoufakis geführt wurde.
Syriza versprach, sich dem Spardiktat der „Troika“ aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds zu widersetzen. Doch die Syriza-Regierung hat dieses Versprechen gebrochen und noch schärfere Kürzungen als ihre Vorgängerin ND durchgesetzt, einschließlich der Privatisierung des unterfinanzierten und unsicheren Eisenbahnnetzes im Jahr 2017.
Damals und unter den folgenden Regierungen haben die Gewerkschaften mit aller Macht versucht, den sozialen Widerstand zu unterdrücken, um die Durchsetzung der Sparmaßnahmen zu gewährleisten.
Die Massenbewegung um Tempi entwickelte sich in direkter Opposition zu allen großen Parteien und weitgehend außerhalb der Strukturen der Gewerkschaften. Auf den Demonstrationen waren Transparente mit der Aufschrift „Syriza, PASOK, ND [Nea Dimokratia] – Tempi hat eine Geschichte“ zu sehen.
Die wichtigsten Gewerkschaftsverbände Griechenlands, die zusammen über zwei Millionen Arbeiter vertreten, haben kaum einen Finger gerührt, um die Massenbewegung zu mobilisieren, die unmittelbar nach dem Zugunglück landesweit ausbrach. Erst am 16. März 2023 – mehr als zwei Wochen nach der Katastrophe – riefen der Gewerkschaftsverband des öffentlichen Sektors ADEDY und der Verband des privaten Sektors GSEE zu einem symbolischen eintägigen Generalstreik gegen die taumelnde ND-Regierung auf.
Die Massenproteste im Januar und Februar dieses Jahres wurden stattdessen von der Vereinigung der Angehörigen der Tempi-Opfer aufgerufen. Am 23. Januar rief sie zu den Protesten am 26. Januar auf, wobei ADEDY seine Mitglieder lediglich zur „Unterstützung“ aufforderte, während der GSEE schwieg.
Erst am 5. Februar kündigte ADEDY anlässlich des zweiten Jahrestags des Tempi-Unglücks einen 24-stündigen Streik an, dem sich der GSEE acht Tage später anschloss.
Die Wut über Tempi zeigt, dass die Arbeiterklasse wieder einmal versucht, sich aus dem Würgegriff der prokapitalistischen Parteien und Gewerkschaften zu befreien. Aber wie die WSWS betont hat, sind solche Bewegungen, die von der Bourgeoisie oft als „führerlos“ bezeichnet werden, „nur eine Vorstufe in der Entwicklung des Massenbewusstseins. Mit den Erfahrungen, die sie im Laufe des Kampfs sammeln, verändert sich die soziale und politische Orientierung der Massen von Grund auf. Der Kampf für sozialistisches Bewusstsein findet im Kontext dieses revolutionären Prozesses statt.“
Die Arbeiterklasse in Griechenland hat verheerende soziale Angriffe erlitten. Das Land wurde als Testlabor für eine Wirtschaftsagenda der „verbrannten Erde“ ausgewählt, die die herrschende Klasse in ganz Europa verfolgte. Dabei wurden die griechischen Arbeiter sowohl von der sozialdemokratischen PASOK verraten, die ihr früheres reformistisches Programm längst aufgegeben hat, als auch von Syriza, die von allen Pseudolinken weltweit als Alternative gepriesen wurde.
Aber die griechische Erfahrung ist kein Einzelfall. Die Arbeiter in allen Ländern sind ständigen Angriffen ausgesetzt. Die Finanzoligarchie und ihre Parteien fordern eine immer brutalere Ausbeutung und ein Ende aller Sozialleistungen und öffentlichen Dienstleistungen, um die militärische Aufrüstung und den neuen imperialistischen Wettlauf um Ressourcen und Märkte zu finanzieren.
Die Arbeiter sind in Griechenland und weltweit mit den alten reformistischen und stalinistischen Parteien konfrontiert, die als Werkzeug des Klassenfeinds agieren und von selbsternannten „Linken“ wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn sowie pseudolinken Gruppen, die sich um sie scharen, gedeckt werden.
Tempi ist ein Vorbote kommender Massenkämpfe. Um sich darauf vorzubereiten, hat die WSWS-Redaktion in ihrer Neujahrserklärung die notwendige politische Antwort der Arbeiter in Griechenland, Europa und auf der ganzen Welt formuliert:
Die einzig erfolgversprechende Antwort auf die Krise, vor der die Menschheit steht, ist die revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse. Der oligarchische Charakter der Gesellschaft beweist die Dringlichkeit der Forderung nach der Enteignung bestimmter Gruppen von Kapitalisten, die Trotzki im Gründungsprogramm der Vierten Internationale aufgestellt hat. Dies muss durch die Mobilisierung der Arbeiterklasse im Weltmaßstab gegen die kapitalistische Oligarchie erkämpft werden.
In der Erklärung wird betont, dass die Revolution, die die politische Grundlage für den Sozialismus schaffen wird, in zahllosen Kämpfen der Arbeiterklasse vorbereitet wird. Das erfordert die Bildung neuer Organisationen des Klassenkampfs, der Aktionskomitees, die sich in der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees – dem „Koodinationszentrum für den weltweiten Widerstand gegen die Diktate der kapitalistischen Oligarchie“ – zusammenschließen.
In der Erklärung heißt es:
Wenn es aus der modernen Geschichte eine wichtige Lehre gibt, dann die, dass das Ausmaß an Wohlstandsgefälle, das heute in den USA und weltweit besteht, unweigerlich zu sozialen Explosionen führt. Die Geschichte zeigt aber auch, dass diese Kämpfe ohne ein klares Programm, ohne Organisation und Führung nicht erfolgreich sein können.
Das Statement endet mit dem Aufruf:
Wir befinden uns an einem entscheidenden Wendepunkt, an dem jeder Arbeiter und junge Mensch, der sich gegen Krieg, Ungleichheit und Diktatur wehren will, aktiv werden muss. Werdet Mitglied der Sozialistischen Gleichheitspartei, unterstützt die WSWS und baut das Internationale Komitee der Vierten Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution auf!
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