Vergangenen Montag ereignete sich ein erschütternder Unfall in Berlin, der erneut ein grelles Licht auf die menschenunwürdigen Lebensumstände von Obdachlosen und Wohnungslosen (ohne festen Wohnsitz) wirft.
Ein 33-Jähriger hatte offenbar Schutz vor der Nacht mit bis zu minus 4 Grad Celsius zwischen den Papier- und Pappschichten eines Müllcontainers gesucht und geschlafen, als dieser in den frühen Morgenstunden geleert wurde.
Arbeiter des Müllladers bemerkten den Mann erst, als er in der Öffnung des Müllwagens eingeklemmt wurde und verzweifelt um Hilfe rief. Um nicht die Müllpresse auszulösen, durfte der Container nicht abgesenkt werden. Trotz sofortiger Alarmierung der Feuerwehr, die Löcher in das Fahrzeug und die Presse schnitt, konnte er nicht gerettet werden. Die beiden Müllarbeiter, die einen Schock erlitten, wurden im Krankenhaus versorgt.
Der tödliche Unfall ist Folge des kapitalistischen Systems, das die Bedürfnisse der Mehrheit der Bevölkerung unter die Profitinteressen einer kleinen, obszön reichen Elite stellt.
Während die Superreichen ihren Reichtum vermehren und die Bundesregierung Milliarden aus den öffentlichen und sozialen Budgets in Militarisierung und Aufrüstung steckt, schießen die Armutszahlen in die Rekordhöhe von rund 17,5 Millionen Menschen.
Bezahlbarer Wohnraum oder Sozialwohnungen sind Mangelware. Allein in Berlin stehen den mehr als einer Million Menschen mit Anspruch auf eine Sozialwohnung rund 90.000 Sozialwohnungen zur Verfügung, mit abnehmender Tendenz.
„Wohnen entwickelt sich mehr und mehr zum Armutstreiber“, warnte Joachim Rock, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands mit Blick auf die bundesweite Studie „Wohnen macht arm“. Arbeitsplatzverlust, Krankheit oder Trennung verschärfen die Folgen der Armut.
Wer Miete oder Mietschulden nicht bezahlen kann, dem droht der Verlust der Wohnung. Bundesweit gab es mehr als 30.000 Zwangsräumungen in 2023. In Berlin werden seit 2021 jährlich mehr als 2.000 Zwangsräumungen durchgeführt, 21 Prozent davon wegen Miet- und Energieschulden.
Statt für bezahlbaren Wohnraum zu sorgen, die Unterbringungsmöglichkeiten sowie das Netz der Essenausgaben, den Einsatz von Streetworkern und das Angebot kostenloser Gesundheitsversorgung für die Bedürftigen auszubauen, werden Angebote gekürzt und Verbotszonen für Obdachlose eingerichtet.
Für die bis zu 10.000 Obdachlosen in Berlin gibt es viel zu wenig Unterkünfte. Gerade einmal rund 1.170 Notübernachtungsplätze der Kältehilfe stehen laut Senatssozialverwaltung unter Cansel Kiziltepe (SPD) von Oktober bis April täglich zur Verfügung.
Obdachlose werden von den Notunterkünften nur bis in den frühen Abend aufgenommen. Wer nicht rechtzeitig da ist, muss die Nacht auf der Straße verbringen. Lediglich eine Unterkunft nimmt Hilfesuchende bis vier Uhr morgens auf.
Die Betroffenen suchen in Zelten oder Schichten von Schlafsäcken, Schlafdecken und Zeitungspapier unter S-Bahn-Bögen, Hausdurchgängen und Nischen Schutz vor Nässe und Kälte – ständig auf der Hut vor Polizei und Security-Kräften.
Die Folgen des täglichen Kampfs ums nackte Überleben und der sozialen Ausgrenzung schlagen sich in schweren physischen und psychischen Erkrankungen und erhöhter Sterblichkeitsrate nieder.
Ein Anwohner berichtete Reportern von berlin-live.de: „Vor dem Edeka in Moabit gibt es einen jungen Obdachlosen. Ich habe mit ihm gesprochen, ihm Essen gekauft und ihm Kleidung gegeben, die ich nicht mehr brauchte. Er weinte, er war so erschöpft. Er erzählte mir, dass es eine Qual ist, obdachlos zu sein.“
Die Ärmsten der Armen – Wohnungslose und Flüchtlinge – werden von den wechselnden Regierungskoalitionen über schwarz bis rot systematisch ausgegrenzt und wie Ungeziefer aus dem öffentlichen Stadtbild vertrieben.
Fast täglich kann man die Vertreibung Obdachloser aus wettergeschützten Nischen und aus wärmenden U-Bahnhöfen beobachten. Das gleiche gilt für die Fern- und S-Bahnhöfe der Deutschen Bahn.
Seit Jahren werden alle nachts nicht genutzten U-Bahnhöfe geschlossen. Die Begründung der BVG, „Bahnhöfe sind kein geeigneter Ort für eine menschenwürdige Unterbringung“ (BVG-Sprecher Markus Falkner) und stellen aufgrund durchfahrender Züge und der Starkstrom-Schienen eine „konkrete Lebensgefahr“ dar, wirkt höhnisch angesichts der Gefahr, in der sich Obdachlose permanent befinden.
Die vier Berliner Kältebusse, ein ausschließlich über Spenden finanziertes Projekt der Obdachlosenhilfe, fahren jährlich rund 30.000 (2013 waren es noch 15.000) Kilometer durch die Stadt und versuchen, für die Hilfebedürftigen Schlafplätze zu finden. Oft gelingt das nicht, dann können sie nur Tee, Schlafsäcke und Decken verteilen.
Am 8. November, so berichtete die MOZ, mussten die Kältebus-Helfer drei Menschen im Rollstuhl zurücklassen, weil es keine barrierefreien Notunterkünfte gab. Laut Stadtmissions-Sprecherin Barbara Breuer gebe es immer mehr Obdachlose, die „mit Krücken gehen, sich auf Rollatoren stützen oder auf einen Rollstuhl angewiesen sind“. Diese Menschen bleiben „zu lange auf der Straße und verelenden“.
Zur Vertreibung Obdachloser hatte bereits im Mai 2023 das Neuköllner Bezirksamt einen zynisch als „Leitfaden Obdachlosigkeit“ genanntes Papier erstellt, das in erster Linie die Räumung von Obdachlosencamps und die Einführung von Verbotszonen für Obdachlose verfolgt.
Letztes Jahr gingen einige Stadtbezirke verstärkt gegen Obdachlosen-Camps vor, darunter in Berlin-Pankow, wo laut Stadtrat schon im Sommer 30 „Schwerpunkteinsätzen zur Beräumung“ von Camps auf öffentlichem Straßenland und weitere 10 in Parks und Grünanlagen stattfanden.
Charlottenburg-Wilmersdorf beseitigte die Camps auf der Unterführung am S-Bahnhof Charlottenburg mit unangekündigten Räumungen. Der zuständige Bezirksstadtrat Oliver Schruoffeneger (Grüne) erklärte gegenüber dem rbb bereits letzten September: „Wir haben seit Jahren feste Regeln, die heißen, dass man im Winter eine Matratze haben darf und kleinere Dinge, im Sommer aber nicht.“
Die Obdachlosen verlieren die letzten Reste ihrer Habe, aber das interessiert den Stadtrat nicht. Dieser „Strategiewechsel“, der auch in anderen Bezirken feststellbar sei, stelle eine „enorme Belastung“ für die Betroffenen dar, „weil es keine Alternative für sie gibt“, prangerte Timo Großmann (Berliner Stadtmission) dieses Vorgehen im rbb an.
Zwar wurde die geplante Umzäunung des weithin bekannten Görlitzer Parks („Görli“) bisher nicht umgesetzt. Aber die neue ganzjährige Notübernachtung (Projekt Ohlauer 365) mit über 80 Plätzen in Sieben-Bett-Zimmern deckt den Bedarf nicht.
„Berlin platzt aus allen Nähten“, erklärte Ina Zimmermann, Referentin für Armutsbekämpfung, Wohnungslosenhilfe und Soziale Dienste des Diakonischen Werks Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz gegenüber der Zeitung nd.
Mit Blick auf die bis zu 50.000 wohnungslosen Menschen in Berlin, wozu auch die Flüchtlinge mit positivem Asylbescheid zählen, warnte sie, dass Berlin mit 47.000 in Notunterkünften untergebrachten Wohnungslosen, knapp über 6.000 Menschen ohne Unterkunft (offizielle Schätzung) und circa 2.400 Menschen in verdeckter Wohnungslosigkeit „einen dramatischen Höhepunkt erreicht“ habe.
Mit dem Einsatz „defensiver Architektur“ – einer besonders perfiden Weise, Obdachlose zu vertreiben, sollen die Betroffenen aus dem öffentlichen Bild, besonders von touristisch beliebten oder Prestige-Flächen getilgt werden.
Bänke wie auf dem U-Bahnhof Rotes Rathaus oder Armlehnen bzw. Metallbügel, die die Sitzfläche unterteilen, machen ein Liegen unmöglich. Dazu gehören auch angeschrägte oder vertiefte Sitzflächen auf Verweilelementen im öffentlichen Raum. Spike-Pads unter Brücken oder die Querverstrebungen über dem Lüftungsschacht am Fernsehturm sollen ein längeres Ausruhen oder Aufwärmen verhindern.
Kostenpflichtige Toiletten, die nur bargeldlos nutzbar sind, oder bunt-wechselnde Lichtinstallationen wie in der Unterführung am Savignyplatz in Berlin-Charlottenburg dienen dem Vertreiben von Obdachlosen. „Für Passant*innen ist das Lichtspektakel bestimmt schick, aber obdachlose Menschen, die hier nachts regensicher unterkommen wollen, werden dadurch vertrieben“, so Straßensozialarbeiter Andreas Abel gegenüber der taz.
Das Übernachten auf der Straße ist nicht nur witterungsbedingt gefährlich. Immer wieder gibt es Angriffe auf Obdachlose. Betti, die Leiterin des „Unterschlupf“, einer Tagesstelle für Frauen, berichtete gegenüber der taz, dass gerade für Frauen „die Nächte gefährlich“ seien. Deshalb würden viele gar nicht schlafen und „kommen morgens hierher“.
Letztes Jahr registrierte der Senat für Inneres insgesamt 506 Gewaltdelikte gegen Obdachlose (455 in 2023), davon 166 Fälle gefährlicher oder schwerer Körperverletzung, drei mit tödlicher Folge.
Die Unterbringung in Notunterkünften ist keine Lösung. In den meisten Fällen dürfen sie nur über Nacht bleiben, nur in ganz wenigen Einrichtungen (vor allem für Frauen) ist dies mehrere Monate möglich.
Auch für die Wohnungslosen und die Flüchtlinge sind Notunterkünfte keine echte Alternative. Als „kurze, temporäre Lösung“ angepriesen, müssen viele monate- bis jahrelang in sogenannten ASOG’s bleiben, ohne Schutz- und Privatsphäre. Die Sanitärbereiche sind teilweise in unzumutbarem Zustand. Gleichzeitig leben sie in permanenter Angst, diesen Platz zu verlieren und ganz auf der Straße zu landen.
Ein Forschungsprojekt der Alice-Salomon-Hochschule (ASH) Berlin fand heraus, dass Betroffene in solchen Unterkünften zwischen zwei Monaten bis zu 53 Jahre lang leben.
Bundesweit sind laut Statistischem Bundesamt (Januar 2025) rund 440.000 Menschen „untergebracht wohnungslos“, also in öffentlichen Einrichtungen für Wohnungslose oder in Sammelunterkünften. Die meisten leben in Nordrhein-Westfalen mit über 105.000, gefolgt von Baden-Württemberg mit 92.700 und Berlin mit 47.300 Menschen (offizielle Zählungen).
Betroffen sind besonders junge Menschen (40 Prozent unter 25 Jahre), denn 150.100 von den staatlich untergebrachten Wohnungslosen sind Familien mit Kindern (34 Prozent) sowie Alleinerziehende (17 Prozent). Weitere 139.000 (32 Prozent) sind alleinstehend, rund fünf Prozent älter als 65 Jahre.
Ein Blick auf ihre Herkunft offenbart die brutale Migrationspolitik von Bund und Ländern, die nicht der Integration, sondern der knallharten Abschreckung dient.
377.900 der untergebracht Wohnungslosen haben eine nicht-deutsche Staatsbürgerschaft (61.500 besitzen den deutschen Pass). Knapp ein Drittel stammen aus der Ukraine (rund 136.900), wo sie vor Krieg und Zwangskriegsdienst geflüchtet waren. Allerdings werden in den Flüchtlingsunterkünften nur jene mit positivem Asylbescheid in der Statistik erfasst.
„Berlin hat an dieser Stelle ein echtes Menschenwürde-Problem“, fasste Dr. Ursula Schoen, Diakonie-Direktorin, die Situation letzten September zusammen. Und Caritas-Direktorin Ulrike Kostka erklärte: „Es ist ganz offensichtlich: Der Schlüssel ist der fehlende Wohnraum.“ „Die Bekämpfung von Wohnungslosigkeit findet längst nur noch auf der Ebene der Symbolpolitik statt“, kritisierte Stefan Schneider, Sprecher der Wohnungslosen-Stiftung.
Die Einsparungen, die die schwarz-rote Landesregierung unter Kai Wegner (CDU), den Sozialetats verpasst, werden die unhaltbaren Zustände für Wohnungslose weiter verschärfen. Das Sozialressort muss nächstes Jahr 66 Millionen Euro einsparen und verfügt dann nur noch über 1,8 Milliarden Euro.