Vor einer Woche verabschiedete der alte Bundestag das größte Aufrüstungsprogramm seit dem Nazi-Regime. Das am 23. Februar abgewählte Parlament trat unter krasser Missachtung des Wahlergebnisses noch einmal zusammen und beschloss mit Zweidrittelmehrheit eine Verfassungsänderung, die der zukünftigen Regierung eine Billion Euro für den Ausbau einer kriegstüchtigen Infrastruktur, Aufrüstung und Krieg zur Verfügung stellt.
Gestern trat dann erstmals der neue Bundestag zusammen. Der Gründer und langjährige Führer der Linkspartei, Gregor Gysi, hielt als Alterspräsident die Eröffnungsrede. Die Linke hatte in der Wahl überraschend zugelegt, weil sie sich kritisch über die Aufrüstung, die soziale Krise und die rechtsextreme AfD geäußert hatte. Unter jungen Wählern und in einigen Großstädten, wie Berlin, war sie sogar stärkste Partei geworden.
Doch wer erwartet hatte, dass Gysi das Kriegsprogramm der zukünftigen Regierung kritisieren, zum Widerstand dagegen aufrufen oder zumindest eine systematische parlamentarische Oppositionsarbeit dagegen ankündigen würde, wurde eines Besseren belehrt. Der bekannteste Führer der Linkspartei stimmt nicht nur mit allen Prämissen und Zielen der Kriegspolitik überein, er rief den Bundestag auch nachdrücklich dazu auf, die Reihen gegen jede Opposition dagegen zu schließen. Während seiner Rede erhielt er wiederholt Beifall von Vertretern aller Fraktionen - bis hin zu Abgeordneten der faschistischen AfD.
Gysis Rede war durchgehend von der Sorge geprägt, die Bevölkerung werde, wie er wörtlich sagte, „das Vertrauen in die etablierte Politik verlieren“ – also das Vertrauen in die Parteien, die Deutschland wieder in den Krieg treiben und für Sozialabbau und wachsende Armut verantwortlich sind.
Auch wenn das schon immer ihre Rolle war, so deutlich hat selten ein Linken-Politiker erklärt, dass die Partei ihre Aufgabe nicht als Opposition gegen die herrschende Klasse begreift, sondern als Sicherheitsventil, das den Druck im Kessel soweit unter Kontrolle hält, dass er den Herrschenden nicht gefährlich wird.
Gysi begann seine Rede damit, dass er sich mit den Zielen der Nato in der Ukraine einverstanden erklärte. „Wir sind uns hoffentlich alle einig, dass Russland gegen die Ukraine einen völkerrechtswidrigen Krieg führt,“ sagte er. „Das müssen wir verurteilen. Wir brauchen eine neue Sicherheitsstruktur, eine neue Friedensordnung für Europa.“
Laut Gysi wollen diejenigen, die für eine massive Aufrüstung eintreten, und diejenigen, „die das anders sehen“, alle dasselbe: nämlich „Frieden“. Deshalb dürfe man die Aufrüstungsbefürworter nicht als „Kriegstreiber“ bezeichnen, „denn sie wollen ja auf ihrem Weg Frieden sichern“. Umgekehrt sollten die Aufrüstungsbefürworter die Minderheit im Bundestag, die auf Deeskalation, mehr Diplomatie und gegenseitige Abrüstung setze, nicht als „Putin-Knechte“ bezeichnen. „Denn es geht ihnen auch um nichts anderes als um Frieden.“
Es geht also nicht darum, das gigantische Rüstungsprogramm, das Europa mit der nuklearen Vernichtung bedroht, zu stoppen, sondern es durch folgenloses Palaver zu legitimieren. „Es gibt also unterschiedliche Auffassungen, wie man zum Frieden gelangt. Wir müssen einfach lernen zu respektieren, dass es diese Unterschiede gibt,“ so Gysi.
Wenn daher Union, SPD und Grüne der Auffassung sind, dass man nur durch einen militärischen Sieg über Russland zum Frieden gelangen kann, muss man „einfach lernen“, diesen selbstmörderischen Wahnsinn zu respektieren!
Auch im Nahen Osten stellt sich Gysi hinter die Politik der etablierten Parteien, die den Genozid an den Palästinensern unterstützen und Opposition dagegen verfolgen und unterdrücken. Jüdinnen und Juden hätten „ein Recht auf einen jüdischen Staat“, betont er. Israel müsse „souverän, unabhängig und sicher sein und werden“. Nicht ein Wort der Kritik an der rechtsextremen israelischen Regierung und der systematischen Ermordung und Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern durch die israelische Armee und faschistische Siedler!
Als handle es sich um einen Streit zwischen zwei Grundstückbesitzern und nicht um einen Genozid, fügt Gysi hinzu: „Wir müssen auch an die Palästinenserinnen und Palästinenser denken. Sie haben auch ein Recht auf ein Zuhause. … Wir müssen deshalb verstärkt international für die Zweistaatenlösung werben.“
Gysi treibt vor allem die Sorge um, dass sich die Wut und Empörung über die Kriegs- und Kahlschlagpolitik der Regierung verstärken wird. Deshalb zieht sich der Ruf nach Schließung der Reihen und Versöhnung aller Parteien wie ein roter Faden durch seine Rede – wobei er die AfD, die fast ein Viertel der 630 Abgeordneten im Bundestag stellt, nicht ein einziges Mal namentlich erwähnte.
Das beginnt mit dem bizarren Vorschlag, Linke sollten künftig die Benennung von Straßen nach Otto von Bismarck (dem Urheber der Sozialistengesetze) und Konservative die Benennung von Straßen nach Clara Zetkin oder Karl Marx unterstützen.
In einer langen Passage seiner Rede schlägt Gysi die Schaffung mehrerer „überparteilicher Gremien für den Bundestag“ vor, die „offen, ehrlich und ohne Öffentlichkeit bestimmte Fragen erörtern und im Falle von Ergebnissen diese dann der Öffentlichkeit vorstellen“.
Das heißt, Sozialabbau und andere kontroverse Fragen – Gysi nennt die Zukunft der Renten, die Steuerpolitik, die Krankenversicherung und den Abbau von Bürokratie – sollen von Vertretern aller Parteien hinter den Kulissen ausgemauschelt anstatt offen debattiert, und anschließend der Öffentlichkeit als vollendete Tatsachen präsentiert werden.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
An den auf der Zuschauertribüne sitzenden Bundespräsidenten Steinmeier wandte sich Gysi mit der Bitte, „ein Gremium einzusetzen, das sich mit der Frage der Sicherung von Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit auseinandersetzt“. Darin sollen Abgeordnete verschiedener Parlamente, Vertreter der Gewerkschaften, der Unternehmerverbände, von Kirchen und Religionsgemeinschaften, aus der Justiz, den Medien, der Kultur und der Wissenschaft vertreten sein. „Es muss uns gelingen,“ so Gysi, „trotz des genannten gewaltigen Drucks im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die Grundfesten unseres Grundgesetzes für alle Zeiten zu sichern.“
Teilweise glitten Gysis Vorschläge ins Banale und Absurde ab, so wenn er als Beispiel für den zu überwindenden „Steuerwirrwarr“ fünf verschiedene Umsatzsteuern für Weihnachtsbäume anführte. Doch sein Bemühen, Kontroversen aus der Öffentlichkeit fernzuhalten, um keine gesellschaftliche Opposition zu ermutigen, war unmissverständlich.
Gegen Ende seiner Rede ging Gysi auf US-Präsident Donald Trump ein, der „seine wirtschaftlichen und militärischen Bündnispflichten“ aufkündige und nicht mehr bereit sei, „für die Sicherheit Deutschlands zu haften“. Er zog daraus dieselbe Schlussfolgerung, mit der Union, SPD und Grüne ihr gewaltiges Aufrüstungsprogramm begründen: Europa müsse unter deutscher Führung selbst zur Weltmacht werden.
„Wenn die Europäische Union wirklich funktionierte,“ so Gysi, könnte sie neben den USA, China und Russland „eine Art vierte Weltmacht werden. Ich habe aber meine Zweifel, dass sich alle Mitgliedsländer darauf einlassen werden. Trotzdem müssen wir daran arbeiten, vielleicht müssen einige Staaten voranschreiten.“
Wer, wie die WSWS und ihre Vorgängerpublikationen, Gysis politische Laufbahn seit Jahrzehnten verfolgt, ist von seiner Rede nicht überrascht. Seit der Sohn hochrangiger SED-Funktionäre Ende 1989 den Vorsitz der stalinistischen Staatspartei der DDR übernahm, um die Auflösung der DDR zu unterstützen, betätigten er und die von ihm geführten Parteien sich stets als entschiedene Verteidiger des Kapitalismus. Links war nur der Name, nicht aber die Politik.
In Landesregierungen kürzten und strichen die PDS und später Die Linke im öffentlichen Dienst und bei den Sozialausgaben ebenso radikal wie alle anderen Parteien. Gysis Auftritt macht auch klar, dass die Zustimmung der Linken zu den Kriegskrediten im Bundesrat, die innerhalb der Partei erhebliche Unruhe ausgelöst hat, kein Missverständnis war.
Der Kampf gegen Aufrüstung, Krieg, Sozialabbau und Faschismus erfordert die Entwicklung einer unabhängigen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse, die für die Vergesellschaftung der großen Konzerne und Banken und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft kämpft. Das versucht Die Linke systematisch zu verhindern.