Warnstreiks im öffentlichen Dienst: „Im System selbst ist was falsch“

Viele Zehntausend Beschäftigte im öffentlichen Dienst haben in der vergangenen Woche an Warnstreiks teilgenommen. Ihnen allen gemeinsam ist die Wut über ein provokatives Angebot von Bund und Kommunen, das eine massive Reallohnsenkung bedeuten würde. Gleichzeitig wächst auch die Unzufriedenheit mit der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die einen gemeinsamen, effektiven Arbeitskampf um jeden Preis vermeiden möchte.

Auf den bundesweiten Verkehrsarbeiterstreik vom vergangenen Freitag folgten weitere Warnstreiks in den städtischen Reinigungsbetrieben, den Wasserwerken und den kommunalen Krankenhäusern. Am Mittwoch legte ein Streik im Sozial- und Erziehungsdienst die Kitas fast aller Bundesländer lahm, und am Donnerstag und Freitag streikten erneut Berliner Müllarbeiter, wie auch Münchner Bademeister, Hamburger Hafen- und Bühnenarbeiter und viele weitere mehr. In der kommenden Woche sollen am Dienstag und Mittwoch die Krankenhäuser, Psychiatrien, Pflegeeinrichtungen und der Rettungsdienst bestreikt werden.

Warnstreik-Kundgebung in Stuttgart, 8. März 2023

Das Angebot von Bund und Kommunen vom 23. Februar ist eine Provokation. Ihm zufolge soll es erst zum Jahresende ein Plus von 3 Prozent geben, und im Ganzen sollen die Löhne innerhalb von 27 Monaten nur um 5 Prozent steigen. Auch zwei Einmalzahlungen von zusammen 2.500 Euro können nichts daran ändern, dass ein solcher Vertrag angesichts der Inflation bei Lebensmitteln, Benzin, Heizung, Wohnung, etc. zu einer krassen Reallohnsenkung führen würde.

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ist indessen nicht bereit, die 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst gemeinsam zu mobilisieren. Sie tut im Gegenteil alles in ihrer Macht Stehende, um genau dies zu unterbinden. Die jüngste Einigung bei der Hamburger Hochbahn gibt einen Vorgeschmack dessen, was für einen Ausverkauf die Verdi-Chefs Frank Werneke und Christine Behle mit ihren SPD-Kolleginnen von Bund und Kommunen, Nancy Faeser und Karin Welge, vorbereiten. Auch der Konflikt bei der Post zeigt, dass Verdi trotz einem hohen Votum der Beschäftigten für Streik an den Verhandlungen festhält, um einen Post-Streik zu vermeiden.

Bei der Post schließen sich deshalb immer mehr Beschäftigte dem unabhängigen Post-Aktionskomitee an, das sich gegen einen Ausverkauf durch Verdi zur Wehr setzt und damit beginnt, den Streik selbst in die Hand zu nehmen. Dieses Komitee begreift den Konflikt als Teil einer europaweiten Bewegung von Arbeiterinnen und Arbeitern gegen die Folgen von Krieg, Inflation, Sozial- und Arbeitsplatzabbau.

Verdi steht in dem Konflikt auf der Seite der deutschen Wirtschaft und Regierung, nicht der Beschäftigten. Die Gewerkschaft fürchtet vor allem, dass ein Streik bei der Post die öffentlich Beschäftigten ermutigen könnte, ebenfalls in den Vollstreik zu gehen, und dass sich daraus eine mächtige Bewegung wie in Frankreich und anderswo gegen Lohnraub, soziale Kürzungen und Kriegspolitik entwickeln könnte. Diese Furcht ist begründet.

Viele Beschäftigte im öffentlichen Dienst beobachten die Entwicklung bei der Post, wie auch in Frankreich, mit großem Interesse. Gleichzeitig wächst die Skepsis bezüglich der Hinhalte- und Spaltungstaktik der Gewerkschaft. Dies stellten die WSWS-Reporter fest, die am Mittwoch mit den Streikenden im Sozial- und Erziehungsdienst sprechen konnten. Allein an diesem Tag beteiligten sich in Bayern, Baden-Württemberg, Saarland, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Hessen, Niedersachsen, Bremen, Sachsen und Sachsen-Anhalt etwa 70.000 Kita-Erzieherinnen und Sozialarbeiter an Streiks.

Monika, eine Erzieherin in Stuttgart, sagte, sie sei in keiner Weise davon überzeugt, dass Verdi die akuelle Forderung – 10,5 Prozent und mindestens 500 Euro monatlich bei einer 12-monatigen Laufzeit – ernsthaft durchsetzen wolle: „Ich sehe bei Verdi keine Entschlossenheit, wirklich dafür zu kämpfen.“ Wann immer sie beim Betriebsrat nachgefragt habe, sei sie vertröstet worden: „Wir sollen immer Geduld haben, und angeblich können wir nur Schritt für Schritt etwas gewinnen. Das hilft uns aber nicht aus der rasant steigenden Inflation heraus.“

Monika berichtete über die Personalnot in ihrer Kita, wo schon so oft versprochen worden war, nun werde endlich mehr Personal eingestellt. „In Wirklichkeit ist das Personal von Jahr zu Jahr reduziert worden. Und selbst wenn wir die 10,5 Prozent tatsächlich bekommen sollten, würde das angesichts der ständig steigenden Preise keinen großen Unterschied machen.“

Belegschaft des Schulkinderhauses der Goetheschule in Mühlheim

„Wir müssten einfach jetzt alle auf der Straße sein“, sagten streikende Erzieherinnen, die im Schulkinderhaus der Goetheschule in Mühlheim arbeiten und gemeinsam nach Frankfurt gekommen waren. „Wir betreuen 160 Schulkinder, und bei uns ist heute die ganze Einrichtung dicht. Alle oder keiner, sonst erreicht man nichts.“

Sie machten auch deutlich, dass viele Streikenden einen Zusammenhang zwischen dem provokativen Angebot und dem neuen Kriegskurs der Regierung sehen, bei dem die Ampel-Koalition in Berlin weit über 100 Milliarden Euro in die Bundeswehr steckt. „Davon halten wir überhaupt nichts“, sagte eine Erzieherin aus der Gruppe aus Mühlheim. „Wir sind alle hier gegen Krieg.“

Ählich argumentierte in Stuttgart Bernd, der als Landarbeiter am Warnstreik teilnahm. Er erklärte, er selbst habe den Kriegsdienst verweigert. „Jetzt sieht man an den Profiten der Schwerindustrie, wem das Ganze nützt“, sagte Bernd. Auch er würde einen gemeinsamen Kampf von Arbeitern aus allen Branchen unterstützen, wie er sagte: „Die steigenden Preise und der Arbeitskräftemangel, das betrifft doch praktisch alle Berufe. Das zeigt, dass eigentlich im System selbst etwas falsch ist.“ Er kritisierte die große soziale Ungleichheit: „Es kann nicht sein, dass Viele wenig verdienen und Wenige so viel. Das ist eine große Ungerechtigkeit.“

Zu der aktuellen Streikbewegung in Frankreich sagte Bernd, dass man daran sehen könne, „dass sich die Streikbewegung gerade in den Ländern entwickelt, wo der Kapitalismus am tiefsten verankert ist. Das trifft nicht nur auf Frankreich, sondern auch auf England zu, das Ursprungsland des Kapitalismus. Schon Marx hat gesagt, dass sich die Arbeiter aller Länder vereinigen müssen. Der Sozialismus ist eine internationale Frage.“

Elke, Martin, Tanja und Felix von der Lebenshilfe Maintaunus an der Frankfurter Kundgebung, 8. März 2023

Die Urabstimmung bei der Deutschen Post wurde im öffentlichen Dienst mit großer Anteilnahme mitverfolgt. Was Pflegekräfte, Erzieherinnen, Verkehrsarbeiter etc. mit den Postlern verbindet, ist die wachsende Wut darüber, dass man ihnen in der Pandemie applaudierte, sie jetzt aber zwingen will, unter unmöglichen Bedingungen den Karren am Laufen zu halten. Trotz Arbeitsstress und akutem Personalmangel will man sie mit Almosen abspeisen.

„Eine Zeitlang waren wir kurz im Mittelpunkt, da haben alle geklatscht. Aber das war schnell vorbei“, berichteten Elke, Martin, Tanja undFelix von der Lebenshilfe Maintaunus in Frankfurt. Bei dem gemeinnützigen Verein, der Behinderte unterstützt, werden die Löhne dem Tarifvertrag TVöD angeglichen. „Wir brauchen die 10,5 Prozent unbedingt als Minimum, und zwar für 12 Monate, nicht auf zweieinhalb Jahre verteilt.“

Der Personalmangel habe sich seit der Corona-Pandemie, als viele aus dem Personal selbst erkrankten, nicht wieder erholt. Dafür sei die Bezahlung bei dem harten Schichtdienst einfach zu schlecht. „Wir finden so wenig neue Leute, dass wir jetzt über einen Personaldienstleister Leute buchen müssen“, berichtet Tanja. Sie kämpften dafür, dass ihre Arbeit „gesellschaftlich anerkannt wird, sonst bleibt das so schwierig: Wenn die Finanzierung nicht stimmt, wo soll es dann herkommen?“

Team der Praunheimer Werkstätten an der Frankfurter Kundgebung, 8. März 2023

Dass die Situation in der Behindertenhilfe am Limit sei, machte auch das Team der Praunheimer Werkstätten in Frankfurt deutlich.„Bei uns müssen immer weniger Leute immer mehr Klienten betreuen, so dass der tägliche Aufwand für das Personal ständig steigt“, sagten Jan, der seit rund 30 Jahren dabei ist, und seine Kollegin Mai. Der Krankenstand in ihren Wohnheimen, Werkstätten und der Schulbetreuung sei derzeit auf 20 Prozent angestiegen. „Viele von uns sind krank, weil sie einfach nicht mehr können.“

Die Corona-Zeit sei schon sehr anstrengend gewesen. „Wir haben in Schutzanzügen gearbeitet. Auch als die Werkstätten in Kurzarbeit gingen, liefen die Wohnheime ja weiter. Sehr viele von uns hatten Corona. Ich kenne keinen, der es nicht bekommen hat, und das trotz Impfung“, sagte Jan. „Dann hat das mit dem Krieg begonnen, und alles ist teurer geworden, aber die Löhne sind nicht gestiegen.“

Praktisch alle Beschäftigten verdienten am untern bis höchstens mittleren Rand der Tabelle. „Die gehen auch nach 15 oder 18 Jahren noch mit nur 3.500 brutto nach Hause, und das in einer Stadt wie Frankfurt, wo die Mieten so teuer sind.“ Die Streikenden machten klar, dass sie jetzt eine wirkliche Aufwertung in jeder Hinsicht brauchen. „Unsere Arbeit ist ein Dienst an der Gemeinschaft. Wir unterstützen die Kinder und Eltern jeden Tag.“

In Stuttgart sagten zwei Pflegerinnen: „Drei Jahre lang haben wir die Corona-Pandemie gestemmt, aber keine Lohnerhöhung bekommen.“ In ihrem Bereich arbeiteten dauerhaft nur 10 statt 14 Leute, berichteten sie. „Und fast alle nur in Teilzeit, weil die Belastung sonst nicht zu stemmen ist.“ Dabei verdiene man natürlich noch weniger, und ein noch viel größeres Problem sei dann die Rente. „Unter den derzeitigen Arbeitsbedingungen kann ich nicht bis 67 durchhalten, und bei Teilzeit ist Altersarmut vorprogrammiert.“

Beide stimmten zu, dass alle gemeinsam streiken müssten, „wie in Frankreich. Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen! Sie legen das ganze Land lahm. Über das, was hier bei uns abläuft, machen sich die da oben doch nur lustig.“

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