Am Freitag, dem 14. Juli, jährte sich zum 234. Mal der Sturm auf die Bastille, die Festung in Paris, die zum Symbol für die Ungerechtigkeit und unterdrückerische Macht des Ancien Régime geworden war – des alten Regimes der feudalen Eigentumsverhältnisse, auf dem die Herrschaft der Monarchie und der Aristokratie beruhte.
In den Monaten und Wochen vor dem Aufstand der Pariser Massen hatte sich die seit langem schwelende politische Krise immer weiter zugespitzt. Der Staatsbankrott und Skandale hatten das Ansehen und die Autorität der Machthaber untergraben. Die tiefen Spaltungen der in Stände unterteilten sozialen Struktur Frankreichs traten an die Oberfläche des politischen Lebens. Der Dritte Stand, dem die große Mehrheit der Bevölkerung angehörte und der von der aufstrebenden Bourgeoisie angeführt wurde, hatte begonnen, sich unabhängig von den beiden Ständen der Aristokratie und in Opposition zu ihr zu organisieren.
Die Massendemonstrationen vor den Mauern der Bastille wurden mit Kanonenschüssen aus dem Inneren der Festung beantwortet. Doch die Massen bewaffneten sich und gewannen einen Teil der Militärgarde der Stadt auf ihre Seite. Sie durchbrachen die Mauern der Festung und übten blutige Rache an deren Verteidigern. In seiner 1901 bis 1904 verfassten Sozialistischen Geschichte der Französischen Revolution schrieb Jean Jaurès:
Die Einnahme der Bastille hatte eine ungeheure Wirkung. Allen Völkern der Welt erschien es, als sei der Kerker der Menschheit gefallen. Es war mehr als die Erklärung der Menschenrechte; es war die Erklärung der Macht des Volkes im Dienste des Menschenrechts. Es war mehr als Licht, das von Paris aus die Unterdrückten des Universums erreichte. Und in den Millionen und Abermillionen von Herzen, die in der dunklen Nacht der Knechtschaft gefangen waren, brach in eben diesem Moment die erste Dämmerung der Freiheit an.
König Ludwig XVI., der sich in seinem Schloss in Versailles südlich von Paris verschanzt hatte, erfuhr erst spät in der Nacht von dem Aufstand, als er vom Duc de la Rochefoucauld-Liancourt geweckt wurde. „Ist das denn eine Revolte?“, fragte der verstörte Monarch. „Nein, Sire“, antwortete der Herzog. „Es ist eine Revolution!“
Die Revolution in Frankreich – die nur sechs Jahre auf den Frieden von Paris folgte, der den Sieg der amerikanischen Kolonisten über Großbritannien bestätigte – eröffnete eine neue Epoche der Weltgeschichte. In ihren Ausmaßen und ihrer politischen Dynamik war sie der Inbegriff dessen, was Trotzki später als „gewaltsamer Einbruch der Massen in das Gebiet der Bestimmung über ihre eigenen Geschicke“ bezeichnen sollte.
Die Revolution war der politische Höhepunkt einer Zeit ungeheurer sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Gärung. Vorweggenommen wurde sie durch die Aufklärung, eine Revolution im Geistesleben, die auf die Macht der Vernunft vertraute, um die Probleme der Menschheit zu lösen. Die großen materialistischen Philosophen dieser Zeit gaben einen starken Impuls zur wissenschaftlichen Erforschung der menschlichen Gesellschaft und damit zur Kritik an der archaischen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ordnung, die ihre Ungerechtigkeiten und das göttliche Recht der Könige mit religiösen Mythen rechtfertigte.
Die radikalste Kritik der Aufklärer richtete sich gegen die soziale Ungleichheit und die Privilegien der Reichen.
„Sind nicht alle Vorteile der Gesellschaft für die Mächtigen und Reichen?“ Diese Frage, die Jean-Jacques Rousseau 1755 stellte, ist heute nicht weniger aktuell. „Werden nicht alle einträglichen Posten allein von ihnen besetzt? Sind ihnen nicht alle Vorrechte und Vergünstigungen vorbehalten? Und verhält sich die Staatsgewalt nicht ausschließlich zu ihren Gunsten? Wenn ein hochgestellter Mann seine Gläubiger bestiehlt oder auf andere Weise betrügt, kann er sich dann nicht stets der Straffreiheit gewiss sein?“
Rousseaus berühmtestes Werk, Der Gesellschaftsvertrag, verfasst 1762, beginnt mit den Worten: „Der Mensch ist frei geboren, und überall ist er in Banden.“
Die Gesellschaftskritik der großen Denker jener Zeit mündete nicht unmittelbar in eine Revolution. Es dauerte Jahrzehnte, bis sich die Auswirkungen ihrer geistigen Arbeit im Handeln der Massen niederschlugen. Doch als die Französische Revolution in Gang kam, wurden immer breitere Bevölkerungsschichten in politische Aktivitäten hineingezogen, und die Revolution nahm immer radikalere Ausmaße an. Was 1785 kaum vorstellbar erschien – das Ende der Monarchie, die Abschaffung der feudalen Privilegien und Eigentumsverhältnisse, die Errichtung einer Republik und die Hinrichtung des Königs –, wurde am Ende des folgenden Jahrzehnts Realität.
„Es schien, als sei das Fundament selbst, getreten von den Füßen der aufgeklärten Bourgeoisie, lebendig geworden und in Bewegung geraten“, schreibt Trotzki in seiner Geschichte der Russischen Revolution über die Ereignisse in Frankreich, „aus der formlosen Masse erhoben sich menschliche Häupter, streckten sich schwielige Hände in die Höhe, heisere, aber mutige Stimmen wurden vernehmbar! Die Pariser Distrikte, die Bastarde der Revolution, begannen ihr eigenes Leben zu leben. Sie wurden anerkannt – sie nicht anzuerkennen war unmöglich! – und in Sektionen umgewandelt. Aber unentwegt rissen sie die Schranken der Legalität nieder, erhielten Zustrom frischen Bluts von unten und öffneten, dem Gesetz zuwider, den Entrechteten, Armen, den Sansculotten Zutritt in ihre Reihen.“ (Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Februarrevolution, Essen 2023, erscheint in Kürze).
Die Revolution stieß auf den wütenden Hass der Reaktionäre. Konservative und Gemäßigte ereiferten sich über die „Exzesse“. Aber die fortschrittlichsten Denker stellten sich hinter die Revolution. Als Antwort auf diejenigen, die die Hinrichtung Ludwigs XVI. und den zur Verteidigung der Revolution entfesselten Terror verurteilten, erklärte Thomas Jefferson, er würde lieber „die halbe Welt verwüstet“ sehen, als die Niederlage der Revolution. „Wenn in jedem Land nur ein Adam und eine Eva verblieben, die aber frei wären“ schrieb er, „dann wäre es besser, als es jetzt ist.“
Worin liegt die Bedeutung der Französischen Revolution für heute? Wir befinden uns natürlich nicht im Zeitalter der bürgerlich-demokratischen, sondern der sozialistischen Revolution. Der Kern der revolutionären Kritik an Ungleichheit, am Eigentum und an der bestehenden Ordnung gewinnt jedoch unter den Bedingungen des Verfalls und der Krise des Kapitalismus immense Kraft.
Dies zeigt sich vor allem daran, dass es in Paris in diesem Jahr zu Massenprotesten und Streiks auf denselben Straßen und Alleen wie damals gekommen ist. Zwar haben die Arbeiter Frankreichs den Kapitalismus noch nicht der Guillotine übereignet, doch aus dem Inhalt ihrer Kämpfe ergibt sich unmittelbar die Notwendigkeit des politischen Kampfs gegen den „Präsidenten der Reichen“, Emmanuel Macron, und des Umsturzes der bestehenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung. Nach der brutalen Niederschlagung der Proteste gegen Rentenkürzungen und Polizeigewalt empfing Macron gestern mit allen Ehren den indischen Premierminister Narendra Modi, den faschistischen Schlächter von Gujarat, der über ein Land voller Armut und Elend herrscht.
Aufgrund unerträglicher Lebensbedingungen nehmen soziale Kämpfe weltweit zu. In diesem Jahr gab es Streiks und andere Kämpfe von Postlern, Beschäftigten des Gesundheitswesens, Lehrern, Bahnarbeitern und anderen Teilen der Arbeiterklasse im Vereinigten Königreich; Massenproteste in Israel gegen den Angriff auf demokratische Rechte; den Streik von 1.400 Beschäftigten von National Steel Car und von 7.400 Hafenarbeitern in Kanada (wobei Letzterer vor einigen Tagen durch die Intervention der Regierung beendet wurde) sowie fortgesetzte Streiks und Proteste von Hunderttausenden in Sri Lanka gegen brutale Kürzungsmaßnahmen, um nur einige Beispiele zu nennen.
In den Vereinigten Staaten hat mit dem Ausstand von Zehntausenden Schauspielern inmitten des bereits laufenden Streiks von 11.000 Drehbuchautoren der größte Streik in der Geschichte der US-amerikanischen Film- und Fernsehproduktion begonnen, nachdem bereits Beschäftigte an den Hochschulen und Industriearbeiter bei Clarios und CNH die Arbeit niedergelegt hatten. Der Streik in der Filmbranche wird den Kämpfen der UPS-Beschäftigten, der Automobilarbeiter und der Hafenarbeiter, die sich für die zweiten Hälfte dieses Jahres anbahnen und das Potenzial haben, die Kontrolle des Gewerkschaftsapparats zu durchbrechen, enormen Auftrieb geben.
Es ist unvermeidlich, dass das Bewusstsein der Arbeiterklasse zunächst von ihren unmittelbaren Bedingungen und Problemen dominiert wird. Die Logik all dieser Kämpfe wirft jedoch nicht nur dringende organisatorische Fragen auf – die Notwendigkeit, unabhängige Aktionskomitees aufzubauen, um sich aus dem Würgegriff des Gewerkschaftsapparats zu befreien –, sondern stößt die Beteiligten auch auf die Irrationalität der sozialen Beziehungen und deren Unvereinbarkeit mit den Bedürfnissen der Gesellschaft.
Der Kapitalismus hat seine Existenzberechtigung verloren, und damit die herrschende Elite ihr „Recht“ zu herrschen. Wenn der CEO von Disney Bob Iger, der in den letzten fünf Jahren mehr als 200 Millionen Dollar kassiert hat, streikenden Schauspielern und Autoren „eine Erwartungshaltung' vorwirft, „die einfach nicht realistisch ist“, drängen sich Vergleiche mit Ludwig XVI. und der französischen Aristokratie geradezu auf. Im Vergleich zu den heutigen Konzern- und Finanzherren wirkt Marie Antoinette geradezu wie eine Wohltäterin. Bekanntlich empfahl die französische Königin den hungernden Armen: „Wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie doch Kuchen essen!“ Die heutigen Konzernchefs würden, wenn sie damit durchkämen, einen erheblichen Teil der Bevölkerung ohne Weiteres verhungern lassen.
In den letzten dreieinhalb Jahren sind mehr als 20 Millionen Menschen an der Coronapandemie gestorben, weil sich die kapitalistischen Regierungen bewusst und in krimineller Weise weigern, die notwendigen Maßnahmen zur Rettung von Menschenleben zu treffen – da sich solche Maßnahmen negativ auf den Aktienmarkt auswirken würden. Die kapitalistischen Regierungen sehen dem Klimawandel tatenlos zu, obwohl er bereits katastrophale Auswirkungen hat, von Hitzewellen und Überschwemmungen in den Vereinigten Staaten bis hin zu Monsunregen, die in den letzten zwei Wochen in Indien Hunderte von Menschenleben gefordert haben.
Die absolute Priorität der Biden-Administration und ihrer Verbündeten in der Nato besteht darin, den Krieg gegen Russland zu eskalieren, und zwar „so lange wie nötig“, wie die WSWS kommentierte. Es ist ihnen gleichgültig, wie viele Menschen dabei sterben – in der Ukraine, in Russland, in ganz Europa und darüber hinaus. Die Nato-Mächte haben sich zu einer massiven Erhöhung der Militärausgaben verpflichtet, die unweigerlich mit der Zerstörung der noch verbliebenen Sozialprogramme einhergehen wird.
Dem Ganzen liegt ein Maß an sozialer Ungleichheit zugrunde, das der französischen Aristokratie die Schamröte ins Gesicht treiben würde. Die 2.460 reichsten Personen haben ihr Vermögen in der ersten Jahreshälfte 2023 um 852 Milliarden Dollar erhöht, während fast die Hälfte der Weltbevölkerung mit weniger als 6,25 Dollar pro Tag auskommen muss und im vergangenen Jahr von den steigenden Kosten für Grundgüter erdrückt wurde.
Revolutionen, so erklärte Marx unter Berufung auf die Erfahrungen in Frankreich, treten ein, wenn die Weiterentwicklung der Gesellschaft durch die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse blockiert wird. „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“
Die Menschheit nähert sich dem Endstadium der Ära der sozialistischen Revolution, die mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 und dem Umsturz des russischen Kapitalismus in der Oktoberrevolution 1917 begann. Das Wachstum der Massenopposition wird durch die tief verwurzelten und unlösbaren Widersprüche des überholten kapitalistischen Weltsystems angetrieben.
Die trotzkistische Weltbewegung, vertreten durch das Internationale Komitee der Vierten Internationale, steht vor der Aufgabe, in der wachsenden Massenbewegung der Arbeiterklasse politisches Verständnis zu schaffen und eine politische Führung aufzubauen, um sie in eine bewusste Bewegung für den Sozialismus zu verwandeln, die die kapitalistische Ordnung hinwegfegt und die Grundlage für echte soziale Gleichheit schafft.