Das Internationale Komitee analysiert die globale Wirtschaftskrise und entlarvt Mandels „Neokapitalismus“: 1967-1971

Den folgenden Vortrag hielt Max Boddy, stellvertretender nationaler Sekretär der Socialist Equality Party (Australien), im Rahmen der internationalen SEP-Schulungswoche, die vom 30. Juli bis 4. August 2023 stattfand.

Der Eröffnungsbericht des Vorsitzenden der internationalen WSWS-Redaktion, David North, mit dem Titel „Leo Trotzki und der Kampf für den Sozialismus in der Epoche des imperialistischen Kriegs und der sozialistischen Revolution“ ist am 12. August 2023 erschienen.

In deutscher Sprache gibt es bisher den zweiten Vortrag: „Die historischen und politischen Grundlagen der Vierten Internationale“,

den dritten Vortrag: „Der Ursprung des pablistischen Revisionismus, die Spaltung in der Vierten Internationale und die Gründung des Internationalen Komitees“,

den vierten Vortrag: „Die kubanische Revolution und die Opposition der SLL gegen die prinzipienlose Wiedervereinigung von 1963 mit den Pablisten,

den fünften Vortrag: „Der ‚große Verrat‘ in Ceylon, die Gründung des Amerikanischen Komitees für die Vierte Internationale und die Gründung der Workers League“,

sowie den sechsten Vortrag: Der anhaltende Kampf gegen den Pablismus, der Zentrismus der OCI und die Anzeichen einer Krise im IKVI

Auch alle weiteren Vorträge der Schulung wird die WSWS veröffentlichen.

Einleitung

Die Jahre 1967 bis 1971 waren geprägt von immensen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Weit entfernt von den rosigen Prognosen der liberalen Apologeten oder kleinbürgerlichen Revisionisten, es stünden Jahrzehnte des Friedens und der Stabilität bevor, in denen eine sozialistische Revolution ausgeschlossen sein würde, bewiesen die späten 1960er Jahre, dass die grundlegenden Widersprüche des Kapitalismus nicht überwunden worden waren. In rascher Folge stürzten alle wirtschaftlichen Stützpfeiler ein, die im Wirtschaftsaufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet worden waren, um das Weiterbestehen des Kapitalismus zu sichern.

Um die späten 1960er Jahre zu verstehen, muss man diese Periode historisch einordnen. 1914 war die Welt für mehr als 30 Jahre in Blutvergießen und Grausamkeit versunken: die Schrecken des Ersten Weltkriegs, eine weltweite Pandemie, die Große Depression, der Aufstieg des Faschismus, der die fortschrittlichsten Teile der Arbeiterschaft physisch vernichtete, die stalinistischen Säuberungen, der Zweite Weltkrieg und der Holocaust.

Europa lag 1945 in Schutt und Asche, die Produktionsanlagen waren in erheblichem Maß zerstört, und ein großer Teil der Bevölkerung durch das imperialistische Gemetzel und seine Auswirkungen ausgelöscht.

Die Vereinigten Staaten gingen als beherrschende imperialistische Macht aus dem Krieg hervor und versuchten, die kapitalistische Weltordnung zu stabilisieren. Das gelang ihnen, weil die sozialdemokratischen und vor allem die stalinistischen Parteien dem Kapitalismus die nötige Atempause verschafften. Diese Organisationen arbeiteten mit den bürgerlichen Regierungen zusammen, um die gewaltigen revolutionären Bewegungen der Arbeiter nach der Barbarei des Zweiten Weltkriegs zu unterdrücken und zu ersticken.

Dank der auf fortgeschrittenen Produktionsmethoden beruhenden Übermacht ihrer Industrie konnten die USA die stark geschädigten europäischen und asiatischen Volkswirtschaften wieder stabilisieren.

Doch diese äußerlich stabil erscheinende wirtschaftliche Wiederbelebung, die in einigen Ländern die soziale Lage der Arbeiter auch tatsächlich verbesserte, schuf gleichzeitig die Bedingungen für ihr eigenes Scheitern.

Die Nachkriegszeit übte einen enormen politischen Druck auf die Vierte Internationale aus. Die britischen Trotzkisten, die in der Socialist Labour League (SLL) organisiert waren, spielten in den späten 1950er und 1960er Jahren die entscheidende Rolle bei der Wahrung der Kontinuität des Trotzkismus. Ihr Widerstand gegen die opportunistische Degeneration in dieser Zeit schuf die Grundlage für die Entwicklung des Internationalen Komitees weltweit und die Gründung neuer Sektionen.

Bei der Analyse des Nachkriegsbooms, der späten 1960er Jahre und der Widersprüche, die unter der Oberfläche wirkten, werden wir uns mit politischer Ökonomie und dem Gang der kapitalistischen Entwicklung befassen; und wir werden untersuchen, wie die inneren Widersprüche des Kapitalismus seinen Zusammenbruch herbeiführen.

Ernest Mandel – ein Führer des pablistischen Vereinigten Sekretariats der Vierten Internationale

Ernest Mandel

Es ist notwendig, sich mit diesen wichtigen Fragen zu befassen, um die von Ernest Mandel vertretenen Positionen zu durchdringen.

Mandel versuchte, die Leugnung der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse durch die Pablisten mit ökonomischen Argumenten zu rechtfertigen. Der Kapitalismus, behauptete er, habe ein neues Stadium erreicht, in dem die imperialistischen Mächte die inneren Widersprüche, die in die Barbarei des frühen 20. Jahrhunderts gemündet waren, überwunden hätten. Er bezeichnete diese neue Periode zunächst als „Neokapitalismus“.

Das Wichtigste vorweg: Mandel bezog nicht deshalb Stellung aufseiten des Pablismus, weil er eine falsche Wirtschaftstheorie hatte, sondern umgekehrt: Seine ökonomische Analyse beruhte darauf, dass er die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse als Totengräber des Kapitalismus leugnete.

Mandel stand viele Jahre an der Spitze des revisionistischen Vereinigten Sekretariats. 1923 in Frankfurt am Main geboren, schloss er sich nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs der trotzkistischen Bewegung in Belgien an. Nach dem Krieg, in seinen frühen Zwanzigern, wandte er sich vehement gegen alle Tendenzen, die dem Stalinismus eine fortschrittliche Rolle zuschrieben. Das änderte sich mit dem Aufkommen des Pablismus in den späten 1940er Jahren.

Mandel passte sich an die Restabilisierung der bürgerlichen Herrschaft an, die auf die unmittelbare Krise der Nachkriegszeit folgte. Er vertrat die Ansicht, dass die Widersprüche, die 1914 zum Zusammenbruch des Weltkapitalismus geführt und die Arbeiterklasse in revolutionäre Kämpfe getrieben hatten, überwunden seien.

Als wichtigstes Argument zur Rechtfertigung dieser Position führte Mandel ins Feld, dass die imperialistischen Mächte nie wieder eine katastrophale Krise wie in den 1930er Jahren zulassen würden. Er lehnte die zentrale Auffassung des Marxismus ab, dass die inneren Widersprüche des Kapitalismus unweigerlich zu seinem Zusammenbruch führen. Aus Mandels Analyse folgte daher, dass es keine objektive Notwendigkeit für eine sozialistische Revolution mehr gab.

In einem Artikel, der 1964 im jährlich erscheinenden Socialist Register erschien, schrieb Mandel:

Die Notwendigkeit, eine erneute Depression wie 1929 um jeden Preis zu vermeiden, ist unter den Bedingungen des Kalten Krieges und des weltweiten Vormarsches der antikapitalistischen Kräfte zu einer Überlebensfrage für den Kapitalismus geworden. Formen antizyklischer Politik und die Umverteilung der Kaufkraft durch den nationalen Staat spielen eine immer größere Rolle. Der Staat garantiert nun direkt und indirekt den privaten Profit auf verschiedenste Weise, von versteckten Subventionen bis hin zur „Verstaatlichung von Verlusten“. Dieser Aspekt des modernen Kapitalismus wird heute zu einem seiner auffälligsten Merkmale.[1]

Mit anderen Worten: Der imperialistische Staat ist nun in der Lage, die Widersprüche des Kapitalismus durch eine Reihe von Kontrollmechanismen zu überwinden. Das war Keynesianismus im Gewand marxistischer Terminologie: Die herrschende Klasse könne durch das Eingreifen des Staates die kapitalistische Wirtschaft regulieren und einen Zusammenbruch des Ausmaßes der 1930er Jahre verhindern. Es war die ökonomische Rechtfertigung des Pablismus für sein Liquidatorentum.

Noch deutlicher vielleicht wurde Mandels Position 1965 dargelegt, in einer Broschüre des britischen Institute for Workers’ Control mit dem Titel A Socialist Strategy for Western Europe (Eine sozialistische Strategie für Westeuropa). Dieser Organisation gehörten verschiedene Ex-Stalinisten, Labour-„Linke' und „linke“ Teile des Gewerkschaftsapparates an.

Zu Beginn heißt es:

Die Debatte über die sozialistische Strategie in Westeuropa muss von der Grundannahme ausgehen, dass es im nächsten Jahrzehnt weder einen Weltkrieg noch eine Wirtschaftskrise vergleichbar der von 1929-1933 geben wird.[2]

Eindeutiger hätte man nicht formulieren können, für welche Perspektive Mandels Revisionismus stand und dass sie sich gegen die Grundlagen des Marxismus richtete.

Was ist die Strategie der revolutionären Partei? Sie basiert auf dem Verständnis, dass unsere Epoche vor allem eine Epoche von Kriegen und Revolutionen ist, in der die Hauptaufgabe der revolutionären Partei darin besteht, die Arbeiterklasse auf den Kampf um die politische Macht vorzubereiten.

Trotzki beschäftigte sich mit dieser wichtigen Frage in Die Dritte Internationale nach Lenin. Er schrieb:

Die Grundprinzipien der revolutionären Strategie sind selbstverständlich seit der Zeit formuliert, als der Marxismus die revolutionären Parteien des Proletariats zum ersten Mal vor die Aufgabe stellte, auf der Grundlage des Klassenkampfs die Macht zu erobern.[3]

Die Erste Internationale konnte diese Prinzipien nur theoretisch formulieren, weil der Kapitalismus noch im Aufstieg begriffen war.

„Die Epoche der Zweiten Internationale“, so Trotzki weiter,

führte zu Methoden und Anschauungen, wonach, gemäß dem berüchtigten Ausspruch Bernsteins, „die Bewegung alles, das Endziel nichts' bedeute. Mit anderen Worten: Die strategische Aufgabe verschwand und löste sich in der alltäglichen „Bewegung' mit ihren partiellen Taktiken auf, die den Tagesfragen gewidmet waren.

Erst die III. Internationale stellte die Rechte der revolutionären Strategie des Kommunismus wieder her und ordnete ihr die taktischen Methoden vollständig unter.[4]

Doch Mandel zufolge war die revolutionäre Epoche, die mit dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, beendet, und eine neue Periode der friedlichen organischen Entwicklung des Kapitalismus war angebrochen. Nie wieder würden sich die Widersprüche des Kapitalismus derart zuspitzen, dass die Eroberung der politischen Macht erneut auf die Tagesordnung käme.

In Wirklichkeit war das Jahrzehnt von 1965-1975 von der größten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression der 1930er Jahre und dem Ausbruch zahlreicher Klassenkämpfe geprägt.

Zu einem Atomkrieg, behauptete Mandel, könne es nicht kommen – und das nur zweieinhalb Jahre nach der Kubakrise im Oktober 1962, die die Welt an den Rand einer nuklearen Katastrophe gebracht hatte.

Es sei auch daran erinnert, dass am Beginn des pablistischen Liquidatorentums die These von der Kriegsrevolution stand. Danach würde ein Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion zum Ausgangspunkt der sozialistischen Umgestaltung werden, die Jahrhunderte lang existierende deformierte Arbeiterstaaten hervorbringen würde. Als Mandel sich nur noch mit den neuen Realitäten befasste, die er entdeckt hatte, wollte er natürlich von der Perspektive, die er gut zehn Jahre früher vertreten hatte, nichts mehr wissen.

Die Weltperspektive des Sozialismus und die Analyse des Nachkriegsbooms durch die SLL

Das marxistische Studium der politischen Ökonomie, das sich auf ein Verständnis des Wesens der imperialistischen Epoche stützt, besteht im Kern darin, die Widersprüche aufzudecken, die den vom Kapitalismus erzeugten Erscheinungsformen zugrunde liegen, um auf dieser Grundlage die Vorhut der Arbeiterklasse auf die Aufgaben vorzubereiten, die sich aus diesen Widersprüchen ergeben. Natürlich ist es wichtig, Taktiken zu erarbeiten, um der augenblicklichen Situation und der Entwicklung des Klassenkampfes gerecht zu werden, doch sie müssen auf dieser Grundlage basieren.

Auch ist jede Analyse der objektiven Situation, die die Entwicklung des Klassenkampfes außer Acht lässt, unvollständig und daher von Grund auf fehlerhaft. Das wichtigste Element im Klassenkampf ist der Kampf der revolutionären Partei, die Arbeiterklasse mit einem revolutionären Programm und einer revolutionären Perspektive zu bewaffnen und vorzubereiten.

Die Weltperspektive des Sozialismus [Photo: Socialist Labour League]

Während diese wesentliche Komponente des Marxismus in Mandels Schriften ganz fehlt, nimmt sie in der Analyse der SLL einen prominenten Platz ein. Ein wichtiges, 1961 veröffentlichtes Dokument, The World Prospect of Socialism (Die Weltperspektive des Sozialismus), ist ein eindrucksvolles Beispiel dafür.

Das Dokument entstand kurz nach der Gründung der SLL 1959, die ein Erfolg des Kampfs gegen den Pablismus war. Eine der größten Schwächen der amerikanischen Socialist Workers Party (SWP) in den späten 1950er Jahren bestand darin, dass sie es zusehends aufgab, die eigentliche Krise des Kapitalismus zu untersuchen. Dies hing eng damit zusammen, dass sie allmählich von ihrer Opposition gegen den Pablismus abrückte und schließlich Kurs auf die Wiedervereinigung nahm.

Grundsätzlich ist zu sagen, dass eine wissenschaftliche Einschätzung der objektiven wirtschaftlichen Lage nur möglich ist, wenn die theoretische Arbeit auf dem Kampf gegen den Revisionismus beruht. Inhaltlich waren die Dokumente, die die SLL damals verfasste, ein Ergebnis dieses Kampfs.

Das Dokument der SLL war einzigartig. Sie war bestrebt, hinter die Erscheinungsformen des Nachkriegsbooms vorzudringen und die Kräfte und Widersprüche bloßzulegen, die diesen Entwicklungen zugrunde lagen. Sie zeigte auf, wie diese Prozesse zu einer Wirtschaftskrise führen würden, und diese zu Massenkämpfen, die die Frage der Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiterklasse erneut auf die Tagesordnung setzen würden.

Mit ihrer Analyse wies die SLL die Bemühungen von Revisionisten wie Mandel und dessen Versuch, eine ökonomische Rechtfertigung für das Liquidatorentum des Pablismus zu konstruieren, zurück. Das Dokument entstand auch im Kampf gegen die Wiedervereinigungsbestrebungen der SWP.

Es beginnt mit einer konkreten Darlegung des Wesens der imperialistischen Epoche, wie Lenin und Trotzki sie analysierten:

Der Kapitalismus leistet schon lange keinen fortschrittlichen Beitrag mehr zur Geschichte der Menschheit. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war er in sein letztes, imperialistisches Stadium eingetreten – eine Epoche von Kriegen und Revolutionen.[5]

Das Dokument führt dann aus, wie die zwischen rivalisierenden kapitalistischen Staaten aufgeteilte Welt in „gewaltsame Zusammenstöße' geriet, in Form des Ausbruchs der beiden Weltkriege. Die herrschenden Klassen dieser Staaten sahen sich ständig mit der Gefahr konfrontiert, die Kontrolle zu verlieren, im Inland durch die Arbeiterklasse, in Übersee durch die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien.

Der Kapitalismus, weit davon entfernt, eine friedliche und stabile Entwicklung zu gewährleisten, „offenbarte selbst in relativ friedlichen Perioden eine permanente Tendenz zu Verfall und Gewalt.“[6]

Dann erklärte die SLL die wachsende Rolle des Staates und die Dominanz des Finanzkapitals, zwei Phänomene, die nach 1914 in Erscheinung traten.

Die neue Epoche in der Geschichte des Kapitalismus manifestierte sich selbst in den „demokratischsten“ Ländern in der wachsenden Macht des Finanzkapitals und der Monopole, in der Synchronisierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens durch das Medium des Staatsapparats als Instrument der herrschenden Klasse, und darin, dass Aufträge des Militärs immer größere Bedeutung für die Industrie erlangten.[7]

Das Dokument zeigte auf, dass Entwicklungen zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Ländern zwar die dem Kapitalismus innewohnenden Probleme zu überwinden schienen, jedoch immer nur vorübergehend. Mehr noch: Alle zeitweilig eingesetzten Mechanismen vertiefen die Widersprüche und verschlimmern die Krise: „Letztendlich verschärfen sich dadurch die sozialen und wirtschaftlichen Widersprüche und die Gefahr, die der Fortbestand des Kapitalismus für die Menschheit darstellt, wird noch größer.“[8]

Zu den neuen Erscheinungsformen nach dem Zweiten Weltkrieg traf die Resolution World Prospects diese wichtige Aussage:

Dem Anschein nach sind die Methoden des Kapitalismus heute, sowohl durch die Politik des „Wohlfahrtsstaats“ in den fortgeschrittenen Ländern als auch durch die Politik der „kolonialen Unabhängigkeit“, friedlicher als in der Vergangenheit. In Wirklichkeit verfolgt diese Politik des so genannten „Neokapitalismus“ genau dasselbe Ziel und entspringt denselben Bedürfnissen wie der Rückgriff auf Faschismus und autoritäre Methoden in der Vorkriegszeit. Die Option, faschistische Bewegungen zu schaffen und dabei verzweifelt auf die plebejischen Elemente in solchen Bewegungen zu setzen, ist eine gefährliche Option, die die Bourgeoisie lieber vermeidet. Wenn möglich, übt sie ihre Herrschaft bevorzugt vermittels des Parlaments, der Bürokratie, der politischen Parteien und der Arbeiterorganisationen aus.

Auch in den Kolonien versuchen die Imperialisten verzweifelt, Positionen zu behaupten, die nur mit Gewalt gehalten werden können. Doch das Kräfteverhältnis auf Weltebene macht die Aufrechterhaltung der politischen Kontrolle über die Kolonien durch Repression zu einem Weg, den seine intelligenteren Vertreter nach Möglichkeit vermeiden. Diese veränderten Methoden sind kein Zeichen für eine Veränderung des Kapitalismus selbst. [Hervorhebung hinzugefügt]. Auch darf man nicht davon ausgehen, dass der gegenwärtige Kurs von Dauer ist oder dass die Bourgeoisie in einzelnen Ländern nicht erneut zum Faschismus greifen oder auf internationaler Ebene Gewalt anwenden wird, um bedrohte Stellungen zu halten oder zurückzugewinnen.[9]

Dieser Absatz ist bemerkenswert weitsichtig. Im Gegensatz zu allen anderen politischen Strömungen der Zeit war die SLL in der Lage, die Erscheinungsformen der kapitalistischen Funktionsweise zu untersuchen und darüber hinaus zu ergründen, wie durch diese Erscheinungsformen innere Widersprüche zum Vorschein kommen.

Die SLL zog auch weitreichende Schlussfolgerungen aus dem belgischen Generalstreik vom Dezember 1960 und Januar 1961. Damals versuchte die belgische Regierung, als Reaktion auf den Verlust ihrer Kolonie Kongo eine Reihe von Sparmaßnahmen auf den Weg zu bringen, um das belgische Kapital wettbewerbsfähig zu machen und der Arbeiterklasse die Kosten für den Verlust der Kolonie aufzubürden. Etwa 700.000 Arbeiter traten daraufhin in den Streik, die belgische Regierung setzte Polizei und Gendarmerie ein und rief sogar bei der Nato stationierte Soldaten zurück.

Im Widerspruch zu allen bürgerlichen Ökonomen und revisionistischen Thesen wie denen Mandels schrieb die SLL: „Die 60er Jahre lassen keine stetige, fortgesetzte Expansion erwarten, sondern eher wachsende Schwierigkeiten: einen Kampf um Märkte zwischen den wichtigsten kapitalistischen Ländern, der von Rezessionen und Krisen geprägt sein wird. Unter solchen Bedingungen werden die am wenigsten vorbereiteten Branchen der kapitalistischen Weltwirtschaft mit Sicherheit unter starken Druck geraten. Die Ereignisse in Belgien im Dezember 1960 und Januar 1961 boten einen Vorgeschmack, welche Probleme wahrscheinlich auftreten werden, und auf die Methoden, die die herrschende Klasse dagegen einsetzen wird.'[10]

Diese Analyse war eng verbunden mit dem Kampf gegen den Revisionismus. Die wichtigste Vorbereitung der revolutionären Partei in der Zeit, in der die sozialistische Revolution nicht unmittelbar auf der Tagesordnung steht, ist die Abgrenzung der marxistischen, d. h. trotzkistischen Tendenz von allen Formen des Opportunismus. Diese Arbeit basiert auf dem Verständnis, dass die Partei der Schlüssel ist, um die kommenden Massenkämpfe in den bewussten Kampf um die politische Macht zu verwandeln.

Die Arbeit der SLL in dieser entscheidenden Periode legte den Grundstein für das Verständnis der komplexen ökonomischen Entwicklungen der ausgehenden 1960er Jahre. In diesen Jahren brachen sich revolutionäre Massenbewegungen der Arbeiterklasse Bahn, wie im französischen Generalstreik von 1968, und auch die Krise des amerikanischen Kapitalismus trat deutlich zutage.

Das Bretton-Woods-Abkommen und der Marshallplan

Um das genauer zu verstehen, müssen wir uns das System der Nachkriegszeit ansehen. Die beiden Hauptpfeiler der US-Wirtschaftspolitik nach dem Krieg waren das Währungssystem von Bretton Woods und der Marshallplan. Bretton Woods wurde 1944 vereinbart und bildete die Grundlage für den Wiederaufbau der Weltwirtschaft. Das System etablierte den US-Dollar als Weltwährung auf der Grundlage der Stärke der US-Wirtschaft. Es garantierte die Konvertierbarkeit des US-Dollars in Gold zu einem festen Wechselkurs von 35 Dollar pro Feinunze Gold. Der Internationale Währungsfonds (IWF) wurde gegründet, um das Funktionieren dieses neuen Finanzsystems zu sichern.

Ein neues Finanzsystem allein reichte jedoch nicht aus. Die in den Vereinigten Staaten produzierten Waren brauchten einen Markt, auf dem sie gekauft und verkauft werden konnten. Bei dieser Frage geht es um die Verwertung im Kreislauf des Kapitals.

Das Ziel der kapitalistischen Produktion ist nicht die Herstellung von Waren, diese ist ein Mittel zum Zweck. Der Zirkulationsmittel des Kapitals ist das Geld. Zur Erklärung: Geldkapital wird für den Kauf von Waren eingesetzt (die Ware Arbeitskraft eingeschlossen), von Rohstoffen und Produktionsmitteln. Diese werden ihrerseits zur Produktion von Waren verwendet, um Mehrwert aus der Arbeiterklasse zu pressen. Die Realisierung dieses Mehrwerts erfolgt durch den Verkauf der produzierten Waren, wodurch sie zu Geld werden und der Kreislauf des Kapitals von neuem beginnen kann.

Bei diesem Prozess entsteht das so genannte Verwertungsproblem, d. h. die Rückverwandlung von Waren in Geld. Das Verwertungsproblem stellt sich in der Sphäre der Zirkulation: Wenn Waren nicht oder nur zu einem niedrigeren Preis verkauft werden können, bedeutet dies, dass ein Teil des in ihnen enthaltenen Mehrwerts nicht realisiert wird.

Man muss aber noch einen Schritt weitergehen, denn die Produktion, d. h. die Gewinnung des Mehrwerts, ist die treibende Kraft des kapitalistischen Systems. Alle Probleme der Zirkulation wurzeln letztlich darin.

Marx erklärte, dass der an einer Stelle produzierte Mehrwert an einer anderen Stelle realisiert werden muss. Er stellte fest, dass die Realisierung des Mehrwerts davon abhängt, dass es andere Kapitalisten gibt, die die produzierten Waren kaufen können. Wenn also Kapitalisten in einer Branche Waren produzieren, ohne dass es eine entsprechende Nachfrage von anderen Kapitalisten oder Konsumenten gibt, kann der durch die Produktion entstandene Mehrwert nicht vollständig realisiert werden.

Von links nach rechts: Präsident Harry S. Truman, Außenminister George C. Marshall, Marshall-Plan-Administrator Paul Hoffman und Botschafter Averell Harriman im Oval Office bei der Besprechung des Marshallplans, 29. November 1948

Daraus erklärt sich auch, weshalb der amerikanische Kapitalismus dem europäischen Kapitalismus nach dem Krieg wieder auf die Beine helfen musste. Der US-Imperialismus hatte sich nicht neu erfunden, er trat jetzt nicht freundlicher auf, als wären die innerimperialistischen Rivalitäten der Vergangenheit nur noch Geschichte. Um den in den USA gewonnenen Mehrwert zu realisieren, musste er auch in Europa realisiert werden, um die wirtschaftliche Expansion und einen Markt für US-Waren sowie profitable Geschäftsfelder für US-Investitionen zu gewährleisten.

Dafür war die Wiederbelebung des europäischen Kapitalismus unabdingbar, und so wurde 1947-1948 der Marshallplan eingeführt. Man erkannte, dass Europa ohne einen solchen Plan in eine Rezession, wenn nicht gar in eine Depression schlittern würde. Arbeitskämpfe würden ausbrechen und die Mechanismen der politischen Stabilität versagen, auch die stabilisierende Rolle der stalinistischen Kommunistischen Parteien, insbesondere in Italien und Frankreich, die die diskreditierte Bourgeoisie wieder in den Sattel gehievt hatten.

Ein weiteres Merkmal des Marshall-Plans war sein gesamteuropäischer Charakter. Die Produktionskapazität des europäischen Kapitalismus wurde durch die Einführung amerikanischer Produktionsmethoden erhöht, was den Grad der Ausbeutung der Arbeiterklasse steigerte und die Masse des Mehrwerts erhöhte.

Doch im Lauf der Zeit untergrub dieser Prozess die industrielle Überlegenheit, die die USA in der ersten Zeit nach dem Krieg innegehabt hatten. Dies wurde von der SLL 1961 analysiert. Sie stellte fest, dass die Wiederbelebung der europäischen Wirtschaft zum einen der europäischen herrschenden Klasse größeren politischen Verhandlungsspielraum verschaffte und zum anderen eine Reihe neuartiger wirtschaftlicher Auswirkungen mit sich brachte.

Ein scharfer Ausdruck davon war die Schwächung des Dollars als Folge der hohen und anhaltenden Zahlungsbilanzdefizite der letzten zwei Jahre. Die Anfälligkeit des Dollars spiegelt zum Teil die größere Stärke anderer Währungen, insbesondere der D-Mark, sowie die aus der amerikanischen Strategie folgenden weltweiten Verpflichtungen wider, wozu höhere Militärausgaben und Hilfen für unterentwickelte Länder zählen. Die hohen Zinssätze in den europäischen Zentren haben ebenfalls zu Geldtransfers geführt, und diese spekulativen Bewegungen nahmen fieberhaften Charakter an, als eine Abwertung des Dollars wahrscheinlich schien – wie zwischen Juli und September 1960 –, und brachten den Dollar in noch größere Schwierigkeiten.[11]

Die SLL wies darauf hin, dass es zu diesem frühen Zeitpunkt falsch gewesen wäre zu behaupten, der Niedergang des amerikanischen Kapitalismus als Weltmacht stünde unmittelbar bevor. Sie machte aber darauf aufmerksam, dass „die Unfähigkeit der US-Wirtschaft, schnell zu wachsen oder auf massive Rüstungsausgaben zu verzichten, zeigt, dass selbst der stärkste Kapitalismus in der Krise ist.“[12]

Bedeutsam an der Analyse des Dokuments von 1961 war, dass es die Rolle der revolutionären Führung herausstellte. Frankreich war am Ende des Zweiten Weltkriegs „der kranke Mann Europas“.[13] Die Einsetzung von Charles de Gaulle, der in der Fünften Republik die Rolle eines bonapartistischen Führers spielte, war die Maßnahme eines Regimes in der Krise.

In den Vereinigten Staaten sah die SLL Anzeichen für Risse im „Eisblocks“ in wichtigen Schichten der Gesellschaft. Sie identifizierte die verschiedenen Trends, die der kleinbürgerlichen Bohème und der Radikalisierung der Jugend entsprangen, insbesondere an den Universitäten. Auch die aufkommende Bürgerrechtsbewegung wurde explizit erwähnt.

Vor allem wurde in der Analyse betont, dass der überragende Faktor in den USA die Rolle der marxistischen Partei ist. Sie wies auf die immense politische Verantwortung der SWP hin, der sie „ohne absolute Klarheit und eine feste politische Linie nicht gerecht werden kann.“[14]

Die Revolutionäre in der SWP müssen ihre eigene politische Arbeit regelmäßig überprüfen, um diesen Gefahren zu begegnen. Wenn man politisch relativ isoliert ist und ständig gegen den Strom schwimmen muss, kann es passieren, dass man eine falsche Richtung einschlägt. Die Suche nach einer Abkürzung, nach Bündnissen, die eine Anpassung an fremde Strömungen erzwingen, nach Umgruppierungen ohne solide theoretische Grundlagen, nach programmatischen Anpassungen an vermeintliche amerikanische Besonderheiten – all das hat amerikanische Sozialisten seit 1917 immer wieder aus dem Gleis geworfen. Die Aufmerksamkeit der Führer der SWP muss ständig auf solche Gefahren gerichtet sein, da sie ihre eigene Politik und ihr Denken beeinflussen können.[15]

Die politische Linie der SLL und die Aufmerksamkeit, die sie diesen wichtigen politischen und theoretischen Fragen schenkte, verhinderten, dass die trotzkistische Bewegung unter dem Druck des Pablismus zerstört wurde. Die Ausbildung in diesen wichtigen Lehren, ihr erneutes gründliches Studium sowie das Verständnis der Widersprüche des Nachkriegsbooms bildeten das Fundament für die Gründung der Workers League (WL) 1966 und der Revolutionary Communist League (RCL) 1968.

Die wachsenden Widersprüche des Kapitalismus und die marxistische Zusammenbruchstheorie

Doch damit war die Thematik des Drucks durch den Nachkriegsboom und der damit verbundenen Widersprüche keineswegs erledigt. Mandel, der zum Pablisten geworden war und zu einem seiner wichtigsten Ideologen im Bereich der politischen Ökonomie aufstieg, wurde einer der meistgelesenen und meistgenannten Revisionisten an den Universitäten.

In dieser Zeit sah sich die SLL ständig mit dem Vorwurf konfrontiert, sie übertreibe und rede Katastrophen herbei. Doch Ende der 1960er Jahre spitzten sich die von der SLL aufgezeigten Widersprüche zu.

Nach der vollständigen Inkraftsetzung des Bretton-Woods-Systems im Jahr 1958 (in diesem Jahr wurde die Konvertierbarkeit der wichtigsten europäischen Währungen gegen Dollar eingeführt) und der uneingeschränkten Konvertierbarkeit des englischen Pfunds mit den Dollar war die Londoner City der Hauptakteur bei der Schaffung des so genannten Euro-Dollar-Marktes, aus dem das heutige globale Finanzsystem hervorging.

Im November 1967 nahm die Regierung von Premierminister Harold Wilson aufgrund eines Zahlungsbilanzdefizits, bedingt durch höhere Importausgaben gegenüber geringeren Exporteinnahmen, eine Abwertung des Pfunds vor, um den Absatz britischer Produkte auf dem Weltmarkt zu steigern. Investoren versuchten daraufhin ihre Dollars in Gold zu tauschen, das sie als wertbeständiger ansahen. Ein Run auf den Dollar war die Folge, und die Goldreserven der USA gerieten massiv unter Druck.

Im März 1968 kam es zur Goldpool-Krise. Die Goldmärkte wurden für mehrere Wochen geschlossen, weil der vereinbarte Goldpreis, das Herzstück des neu geschaffenen Finanzsystems von Bretton Woods, bedroht war. In einer Art Vorwegnahme der Aufhebung der Golddeckung 1971 öffneten die Märkte wieder, mit einem neuen zweistufigen System, das eine größere Flexibilität bei der Goldpreisbildung ermöglichte.

1971 hob US-Präsident Richard Nixon die Goldbindung des Dollars auf. Er reagierte damit auf den Druck durch die weitere Verschlechterung der Handelsbilanz, die ins Minus rutschte. Damit brach die Hauptstütze des Währungssystems von Bretton Woods weg.

Nixon wollte mit dieser Maßnahme eine große Krise des US-Kapitalismus verhindern. Die einzige Möglichkeit, Bretton Woods aufrechtzuerhalten, wäre eine Anhebung der Zinssätze in den USA gewesen, die zu einem Rückfluss von Dollars in die US-Finanzmärkte geführt hätte. Die Folge wäre in den USA wie in Europa eine Rezession gewesen. Da die Arbeiterklasse zu dieser Zeit eine Reihe von zunehmend militanten Kämpfen führte, hätte dies eine schwere politische Krise provoziert.

In dieser kurzen Zeitspanne wurden sämtliche Behauptungen, der Kapitalismus sei in eine neue Phase eingetreten und die alten Widersprüche seien überwunden, widerlegt. Für Mandel war das aber kein Grund, seine ökonomische Analyse zu überdenken. Er rückte sogar noch weiter nach rechts. Das erklärt sich daraus, dass seine Analyse in erster Linie davon motiviert war, die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse zu leugnen.

In einem Vortrag auf der Socialist Scholars Conference 1968 an der Rutgers University legte Mandel dar, dass der Begriff „Neokapitalismus“ nicht bloß ein neuer Terminus war, sondern eine völlig neue historische Perspektive beinhaltete.

Einige europäische Politiker und Soziologen sprechen vom „Neokapitalismus“ in dem Sinne, dass die Gesellschaft einige der grundlegenden Merkmale des Kapitalismus über Bord geworfen hat. Ich lehne das kategorisch ab und verbinde mit dem Begriff „Neokapitalismus“ das Gegenteil: eine Gesellschaft, die alle Grundelemente des klassischen Kapitalismus aufweist.

Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass der Kapitalismus entweder mit der großen Depression von 1929-1932 oder mit dem Zweiten Weltkrieg in eine dritte Phase seiner Entwicklung eingetreten ist, die sich vom Monopolkapitalismus, wie er von Lenin, Hilferding und anderen beschrieben wurde, ebenso unterscheidet wie der Monopolkapitalismus vom klassischen Laissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts.[16]

Hier lehnt Mandel das grundlegende Verständnis des Wesens der imperialistischen Epoche, wie es von Lenin analysiert wurde und zu den Grundauffassungen der Vierten Internationale gehört, vollständig ab.

Wladimir Lenin im Jahr 1920

In Lenins Analyse ist der Imperialismus seinem ökonomischen Wesen nach Monopolkapitalismus. Von dieser Definition des Imperialismus wurden die Aufgaben der Partei abgeleitet. Lenin wies darauf hin, dass der Entwicklung des Monopolkapitalismus die Vergesellschaftung der Produktion und nicht nur die Verflechtung der Unternehmen zugrunde liegt und dass „privatwirtschaftliche und Privateigentumsverhältnisse eine Hülle darstellen, die dem Inhalt bereits nicht mehr entspricht und die daher unvermeidlich in Fäulnis übergehen muss, wenn ihre Beseitigung künstlich verzögert wird, eine Hülle, die sich zwar verhältnismäßig lange in diesem Fäulniszustand halten kann (wenn schlimmstenfalls die Gesundung von dem opportunistischen Geschwür auf sich warten lassen sollte), die aber dennoch unvermeidlich beseitigt werden wird.“[17]

Worin bestand der Unterschied zwischen dem Imperialismus und dem Konkurrenzkapitalismus zu Marx’ Zeiten? Damals hätte man den Sozialismus zwar als vorteilhafter bezeichnen können, doch spielte der Kapitalismus immer noch eine fortschrittliche Rolle bei der Entwicklung der Produktivkräfte. Inzwischen aber war der Sturz des Kapitalismus zu einer historischen Notwendigkeit geworden. Die materielle Grundlage für den Sozialismus bildete die vergesellschaftete Produktion des Monopolkapitalismus, also des Imperialismus, der am Übergang zu einer höheren sozioökonomischen Ordnung stand.

Folgt man Mandel, so unterschied sich der Neokapitalismus jedoch ebenso sehr vom Imperialismus wie der Imperialismus sich vom Konkurrenzkapitalismus unterschied. Mit anderen Worten: Die Opportunisten zu Lenins Zeiten waren im Recht, die russische Revolution war verfrüht, es gab keine objektive Grundlage für das von Lenin und den Bolschewiki vertretene Programm.

Diese Perspektive beinhaltet auch eine Ablehnung der marxistischen Zusammenbruchstheorie. Diese besagt, dass die der kapitalistischen Produktionsweise innewohnenden Widersprüche sich unweigerlich derart zuspitzen, dass eine Situation entsteht, die die Arbeiterklasse vor die Möglichkeit und Notwendigkeit stellt, die politische Macht zu erobern.

Wir wollen uns mit dieser Frage eingehender beschäftigen. Genosse David North sagt in Kapitel 30 seines Buches Das Erbe, das wir verteidigen, Folgendes: „Es ist ein Axiom der marxistischen politischen Ökonomie, dass die Bewegung der inneren Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise unweigerlich zu ihrem Zusammenbruch führt. Wenn das geleugnet wird, gibt es keine objektive Notwendigkeit mehr für den Sozialismus.“[18]

Das Erbe, das wir verteidigen

Im Zentrum der Analyse der historischen Krise des Kapitalismus steht das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate. Marx hat sich lange mit dieser zentralen Frage beschäftigt und bezeichnete sie als das aus historischer Sicht wichtigste Gesetz der politischen Ökonomie.

Der tendenzielle Fall der Profitrate im Laufe der Entwicklung des Kapitalismus hängt mit dem Prozess der Akkumulation von Reichtum selbst zusammen. Die Kapitalistenklasse ist bestrebt, durch Abschöpfung von Mehrwert aus der Arbeiterklasse größeren Reichtum anzuhäufen und höhere Profite zu erzielen.

Um Produktivität und Profit zu steigern, investieren die Kapitalisten in neue Technologien und Maschinen. Dies verändert die organische Zusammensetzung des Kapitals, d. h., das Verhältnis zwischen konstantem Kapital – Maschinen, Rohstoffe usw. für die Produktion – und variablem Kapital, also den Kosten für die Arbeitskraft.

Mit der Einführung dieser neuen Technologien steigt der Anteil des konstanten Kapitals an den gesamten Kapitalinvestitionen im Vergleich zum variablen Kapital. Die einzige Quelle des Mehrwerts, d. h. des Profits, ist die lebendige Arbeit der Arbeiterklasse. Aber diese lebendige Arbeit macht einen immer kleineren Anteil des Gesamtkapitals aus, dessen Vermehrung sie dienen soll.

Folglich sinkt die Profitrate tendenziell, da mehr Kapital im konstanten Kapital gebunden ist, das keinen zusätzlichen Wert schafft, und das Wachstum des Mehrwerts nicht mit dem Wachstum des Kapitals Schritt halten kann.

Daher bleibt der Kapitalistenklasse nichts anderes übrig, als zu versuchen, die Produktion in großem Stil radikal umzustrukturieren. Das äußert sich in Form schwerer Krisen, in denen große Bereiche der Produktion vernichtet werden. Die 31 Jahre zwischen 1914 und 1945, in denen die Produktivkräfte in Europa und Asien zerstört wurden, waren ein anschauliches Beispiel dafür.

Das konnte man auch vom Ende der 1970er bis in die 1980er Jahre beobachten, als eine massive Umstrukturierung der Produktion zur Globalisierung führte. Dieser Prozess vollzog sich durch eine Reihe von wirtschaftlichen Schocks und die verheerende Zerstörung alter Industriegebiete; auf diese Weise entstand in Amerika der „Rust Belt“.

Auch heute sind wir Zeuge dieses Prozesses. Die herrschende Klasse versucht, durch künstliche Intelligenz den tendenziellen Fall der Profitrate aufzuhalten. Sie setzt neue Technologien ein, nicht zum Wohle der Menschheit, sondern zur Steigerung der Profite.

Marx hat diesen Prozess treffend charakterisiert, als er in den Grundrissen schrieb:

Diese Widersprüche führen zu Explosionen, Katastrophen, Krisen, in denen durch momentane Einstellung der Arbeit und die Vernichtung eines großen Teils des Kapitals das letztere gewaltig reduziert wird bis zu dem Punkt, von welchem aus es weiter kann, in der Lage ist, seine Produktivkräfte voll anzuwenden, ohne Selbstmord zu verüben.[19]

Das Studium dieses dem Kapitalismus innewohnenden Prozesses ermöglicht es, die unter der Oberfläche vor sich gehenden komplexen Entwicklungen zu verstehen, die Ende der 1960er Jahre zum Ausbruch des Klassenkampfes führten. Für alle Revisionisten kam das überraschend, nur die SLL hatte diese Entwicklung analysiert und sich darauf vorbereitet, indem sie die komplexen Widersprüche der Nachkriegszeit gründlich studierte und erklärte.

Der Nachkriegsboom basierte auf dem Wachstum der Produktivkräfte. Das bedeutete, dass mehr Mehrwert aus der Arbeiterklasse herausgepresst wurde. Dieser Mehrwert ermöglichte es der Bourgeoisie, der Arbeiterklasse bestimmte Zugeständnisse in Form von Sozialleistungen und staatlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung usw. zu machen. Doch das Wachstum der Produktivkräfte erhöhte auch den Anteil des konstanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital und leitete den Fall der Profitrate ein.

Der Abwärtstrend der Profitrate begann Mitte bis Ende der 1960er Jahre und setzte sich dann verstärkt fort. Die erste Reaktion des Kapitals war der Versuch, die Ausbeutungsrate innerhalb des bestehenden Produktionssystems zu erhöhen.

Die Folge war eine erhöhte Militanz der Arbeiterklasse. Im Zuge des Booms waren große Belegschaften mit hohem Organisationsgrad entstanden. Dies erklärt die Explosion des Klassenkampfes auf internationaler Ebene Ende der 1960er Jahre, als sich militante Teile der Arbeiter gegen die Versuche der herrschenden Klasse auflehnten, das Arbeitstempo zu verschärfen und neue staatliche Mechanismen einzuführen, um Lohnkämpfe zu unterdrücken und den sinkenden Profitraten entgegenzuwirken.

Ein Beispiel aus den Vereinigten Staaten: Zusätzlich zur Aufhebung der Golddeckung gab die Nixon-Regierung die Einrichtung eines Ausschusses bekannt, der die Lohnerhöhungen bei 10 Prozent deckeln sollte. George Meany, der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbandes AFL-CIO, prangerte dies gar als einen Schritt in Richtung Faschismus an, womit er auf die hohe Militanz der amerikanischen Arbeiterklasse reagierte.

1968-1975: Die globale revolutionäre Krise und das SLL-Pamphlet The Dollar Crisis

Der Generalstreik vom Mai/Juni 1968 in Frankreich

Die Jahre 1968-1975 waren geprägt von gewaltigen Klassenkämpfen, die in Frankreich, dem „kranken Mann Europas“, im Generalstreik vom Mai-Juni 1968 gipfelten. Er brachte die gesamte französische Wirtschaft zum Stillstand und konfrontierte Europa wieder unmittelbar mit der Revolution. Er bildete den Auftakt zur größten Offensive der Arbeiterklasse seit dem Zweiten Weltkrieg.

1969 brachen in Westdeutschland die Septemberstreiks aus, angeführt von Tausenden von Metallarbeitern, die weite Bereiche der Industrie zum Stillstand brachten. Italien erlebte zu gleicher Zeit den „heißen Herbst“, eine Welle von Streiks, Protesten und sozialen Unruhen. In Polen, und im „Prager Frühling“ in der Tschechoslowakei, rebellierten die Arbeiter gegen die stalinistische Diktatur.

In den Vereinigten Staaten fanden in dieser Zeit massive Streiks der Eisenbahner, Bergarbeiter und Lehrer statt, spontane Streiks der Postangestellten sowie heftige städtische Unruhen im ganzen Land. Anfang 1968 führte die Nationale Befreiungsfront in Vietnam die Tet-Offensive, die die USA und die Südvietnamesen nicht nur überraschte, sondern auch dem Glauben an die „Allmacht“ des US-Imperialismus einen vernichtenden Schlag versetzte.

Dies spornte Massenproteste gegen den Krieg an, die durch die Enthüllungen über die brutalen Repressalien der USA gegen das vietnamesische Volk noch an Stärke gewannen. Seymour Hershs Enthüllungen über das Massaker von My Lai 1969 brachten diese Verbrechen ans Licht der Öffentlichkeit.

In Chile gewann im September 1970 Allendes Wahlbündnis Unidad Popular die Parlamentswahlen im Zuge einer zunehmend militanten Bewegung der Arbeiterklasse. Schon vor der Wahl besetzten Arbeiter Fabriken und gründeten Arbeiterkomitees, und Bauern hatten große Landgüter übernommen. In Südamerika, das die USA als ihren „Hinterhof“ betrachten, rückte eine sozialistische Revolution in greifbare Nähe.

In einem wichtigen Dokument der SLL, The Dollar Crisis (Die Dollarkrise), wird die damalige Analyse der britischen Trotzkisten ausführlich dargelegt. Der Resolutionsentwurf, der dem Zentralkomitee der SLL vorgelegt und 1973 veröffentlicht wurde, The Development of the Post-war Economic and Financial Crisis (Die Entwicklung der Wirtschafts- und Finanzkrise nach dem Krieg) zeigte auf, dass es sich um eine unlösbare Krise des Kapitalismus handelte.

Es war eine Bestätigung des Kampfs, den das Internationale Komitee gegen alle Spielarten des antimarxistischen Revisionismus geführt hatte. „In den letzten mehr als 20 Jahren“, schreibt die SLL, „waren es die Revisionisten unter Führung des so genannten Vereinigten Sekretariats, die die Theorie des „Neokapitalismus“ gepredigt haben. Nach dieser falschen, antimarxistischen Theorie hat sich der Kapitalismus in der Nachkriegszeit grundlegend verändert.“[20]

Das Dokument analysiert dann das Währungssystem von Bretton Woods und wie aus seinen Widersprüchen die Krise entstand. Die SLL schreibt: „Einmal mehr hat der Ausbruch der gegenwärtigen Krise Trotzkis Einschätzung bestätigt, dass, wie stark der amerikanische Kapitalismus auch zu sein schien, die Widersprüche des Imperialismus noch stärker waren.“[21]

Die Krise Anfang der 1970er Jahre resultierte aus dem akkumulierten Wert des Kreditvolumens, der das Doppelte der amerikanischen Goldvorräte betrug:

Die Revisionisten mögen die Analyse der Währungskrise durch die SLL noch so sehr verspotten, Gold und Waren sind unauflöslich miteinander verbunden. Genau darum ging es in der Analyse von Marx im Kapital, ein Werk, das alle diese Herrschaften als „überholt“ bezeichnen.

Jetzt raubt die Richtigkeit seiner Analyse jedem kapitalistischen Finanzzentrum und jedem Bankhaus auf der ganzen Welt den Schlaf.[22]

Die SLL bestand darauf, dass es sich nicht um eine Konjunkturflaute handelte, sondern um eine grundlegende Krise des kapitalistischen Systems. Sie bestand in der Überproduktion von Kapital in Form eines riesigen Bergs parasitärer Papiergeldforderungen auf eine fortdauernd sinkende Profitrate der US-Wirtschaft, also unter Bedingungen der tendenziell fallenden Profitrate.

Alle-Institutionen des Bretton-Woods-Systems wurden in den letzten 25 Jahren und mehr dazu eingesetzt, einen gewaltigen Kreditüberbau zu errichten. Der überwiegende Teil des Handels wurde weder mit Gold noch mit dem Dollar abgewickelt, sondern über Kredite auf Dollarbasis. Über diese Kreditinstitute wurde in der kapitalistischen Welt in großem Umfang in Maschinen und Anlagen investiert. In diesem Prozess wurden die Aktienkurse weit über ihren tatsächlichen Wert hinaus aufgebläht.

Dieses enorm aufgeblähte Kapital muss nun versuchen, durch die Ausbeutung der Arbeitskraft seine Profitrate zu erzielen. Aber nicht einmal die brutalste Steigerung der Ausbeutung der Arbeiterklasse in Europa und Amerika kann diese Krise für die Kapitalisten lösen, obwohl sie natürlich zwangsläufig eine Lösung in dieser Richtung anstreben müssen.

Nur die rücksichtslose Vernichtung von Kapitalwerten in großem Umfang kann jetzt das „richtige' Verhältnis zwischen dem Bestand an konstantem Kapital und dem Mehrwert, der aus der Arbeiterklasse gepresst werden kann, wiederherstellen.[23]

Genau das wurde vorbereitet. Es kostete die Bourgeoisie einige Zeit, ihre Herrschaft in den 1960er und 1970er Krisenjahren zu stabilisieren. Sie stützte sich dabei direkt auf die Stalinisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftsbürokraten, die alle hauptsächlich von den Pablisten Schützenhilfe erhielten.

Sowie ihr das gelungen war, leitete sie eine internationale Offensive gegen die Arbeiterklasse ein, deren Gnadenlosigkeit von der Notwendigkeit für das globale Kapital diktiert war, den Fall der Profitrate aufzuhalten, nicht nur, indem sie der Arbeiterklasse Niederlagen zufügte, sondern auch durch eine Umstrukturierung der Wirtschaft.

Schließlich warnte das Dokument der SLL, dass das Wertgesetz jetzt seine Wirkung zeige:

Als objektives Gesetz, das sich gegen beide Klassen durchsetzt, rächt es sich gewissermaßen gewaltsam für die letzten 25 Jahre, in denen die Kapitalistenklasse und ihre revisionistischen und reformistischen Mitläufer versucht haben, es zu ignorieren oder einfach wegzuwünschen. Und wie alle Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung macht es sich weder auf sanfte oder vorhersehbare Weise geltend, sondern in jähen Zuckungen und Krämpfen.[24]

Aus der Erkenntnis, dass es sich um eine objektive Krise handelte, ergab sich die Analyse des revolutionären Charakters dieser Periode. Darin besteht die bleibende Bedeutung des Beitrags der SLL zur politischen Ökonomie. Entgegen allen Heilsversprechen von Pablisten wie Mandel, dass eine neue Ära des Kapitalismus angebrochen sei, erklärte die SLL einer neuen Generation von Arbeitern und Jugendlichen, dass die Widersprüche dieses Systems, die zu seinem Zusammenbruch führen, nicht überwunden waren. Auf Basis dieser Erkenntnis appellierte die SLL an sie, für das Programm der sozialistischen Weltrevolution zu kämpfen.

Die Frankfurter Schule und Mandels „Spätkapitalismus“

Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken

Die kleinbürgerliche Intelligenz reagierte auf diese Zeit mit einem Rechtsruck. Als die Arbeiterklasse im französischen Generalstreik von 1968 ihre revolutionären Fähigkeiten unter Beweis stellte, war ein Teil der kleinbürgerlichen Akademiker zutiefst verschreckt. In seinem Werk Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken bringt David North diesen Prozess auf den Punkt:

Im Mai-Juni 1968 blickte die kleinbürgerliche Intelligenz in den Abgrund und war entsetzt. Ihre Begegnung mit der Revolution setzte eine starke Bewegung nach rechts in Gang.[25]

Die verschiedenen „neuen“ Philosophen, die auf den Plan traten, umarmten den Antikommunismus unter dem Banner der „Menschenrechte“. Andere Intellektuelle, die sich zuvor als links bezeichnet hatten, wiesen den klassischen Marxismus zurück. An seine Stelle setzten sie den irrationalen subjektiven Idealismus der Postmoderne und die Fixierung auf die Identität des Individuums.

Mandels Arbeiten aus dieser Zeit spiegeln diese Veränderung wider. Das zeigt sich in seinem Buch Der Spätkapitalismus, im Grunde sein neuer Begriff für Neokapitalismus, das 1972 erstmals erschien. Folgendes hatte er da zu sagen:

Der wachsende Widerspruch zwischen objektiv vergesellschafteter Arbeit und privater Aneignung wird nicht nur durch die dritte technologische Revolution, durch die betonte Forderung nach technisch-hochqualifizierter Arbeit, durch den sich erweiternden kulturellen und politischen Horizont der Lohnabhängigen bestimmt, sondern auch durch die Kluft zwischen potenziellem Überfluss einerseits und wachsender Entfremdung und Verdinglichung andererseits. Während im Zeitalter des klassischen Kapitalismus die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was war, der Hauptanreiz der Arbeitskämpfe war, ist es heute die Spannung zwischen dem, was ist, und dem, was möglich wäre.[26]

Diese Passage verdeutlicht die weitere Verschiebung der Klassenorientierung und -perspektive, die Mandels permanenten Versuchen zugrunde liegt, die Nachkriegszeit dem „klassischen Kapitalismus“ oder dem „klassischen Imperialismus“ gegenüberzustellen. Die Frage der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft ergab sich nun aus dem Vergleich zwischen der tatsächlichen Situation und dem, was möglich wäre, wenn die Produktivkräfte auf rationale Weise entwickelt würden.

Mandel vertrat nicht den Standpunkt, dass das Proletariat die revolutionäre Kraft in der Gesellschaft war, sondern dass Teile des Kleinbürgertums aufgrund ihrer Empörung über die Auswüchse und die Irrationalität des kapitalistischen Systems zum Träger der gesellschaftlichen Umgestaltung würden. In Mandels Weltbild kamen sogar Teile der Bourgeoisie selbst zur Einsicht in die Notwendigkeit einer rationalen Umgestaltung der Gesellschaft:

Angesichts des potenziellen Überflusses und der möglichen Entfaltung aller schöpferischen Kräfte des Individuums sind die Ermüdung bei der sinnlosen Produktion von minderwertigen Gütern, die Vereinsamung in der Masse, die Irritation aufgrund der zur dauernden Differenzierung des Konsums reizenden Reklame, der Krise des Massentransports, des sozialen Wohnungsbaus und des zeitgenössischen Städtebaus unerträglich. In dem Augenblick, in dem sie materiell unvergleichlich leichter zu erreichen wäre als jemals zuvor, scheint die Chance der Selbstentfaltung des Individuums immer ferner zu rücken.[27]

In diesem Absatz erkennt man die Annäherung an die Theoretiker der Postmoderne, an die Identitätspolitik und an Marcuses Betonung psychologischer Faktoren. Alles wird nur aus der Sicht des Individuums, seiner Selbstentfaltung und persönlichen Enttäuschung über das Leben im Kapitalismus betrachtet. An die Stelle der Arbeiterklasse, die man als revolutionäre Kraft längst abgeschrieben hat, treten die Launen einer Schicht der Mittelklasse, die weiter nach rechts rückt. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund der größten revolutionäre Bewegung der Arbeiter seit der Krise nach dem Zweiten Weltkrieg und als Reaktion darauf.

Bandas Brief an Wohlforth und der britische Bergarbeiterstreik von 1974

Dagegen versuchte das Internationale Komitee, der Arbeiterklasse einen Weg aufzuzeigen und den Kampf um die Macht vorzubereiten. Besondere Aufmerksamkeit schenkten die britischen Trotzkisten der Perspektive und Analyse, die die Workers League (WL) in dieser Zeit entwickelte.

In einem Brief vom Februar 1973 an Tim Wohlforth, den damaligen nationalen Sekretär der WL, versuchte Mike Banda die sich entfaltende Liquiditätskrise in den USA verständlich zu machen. Er schrieb diesen Brief zur gleichen Zeit, als The Dollar Crisis erarbeitet und veröffentlicht wurde.

Banda wies darauf hin, dass das von den USA angehäufte Defizit „als unverzichtbar für das Funktionieren des Bretton-Woods-Systems“ galt und für die europäischen Länder notwendig war, „um ihre Exportüberschüsse in liquide Dollarreserven umzuwandeln.“[28]

Die internationale Quelle für diese Liquidität war jedoch der Dollar, der zur „Achillesferse“ des IWF wurde. In den späten 1950er Jahren erreichte das Defizit gigantische Ausmaße und betrug fast 3 Milliarden Dollar.

Diese Investitionen standen in direktem Zusammenhang mit dem Rückgang der Profitrate in den USA und dem enormen Anwachsen der parasitären Papiergeldforderungen auf eine ständig sinkende Profitrate in der US-Wirtschaft.

Die Krise begann, als gleichzeitig mit dem Anstieg der US-Investitionen die europäischen Zentralbanken begannen, ihre inflationären Dollars in Gold zu tauschen. Dies war die direkte Folge des Defizits, das seinerseits als unabdingbare Voraussetzung der Währungsstabilität galt. Infolgedessen sank der Goldbestand der USA von 25 Milliarden Dollar im Jahr 1950 auf 10,5 Milliarden Dollar im Jahr 1968.[29]

Banda wies auf zwei wichtige Ergebnisse dieses Prozesses hin:

1. Die angehäuften Dollarverbindlichkeiten waren doppelt so hoch wie der US-Goldbestand, und die daraus resultierende Vertrauenskrise führte zu noch stärkerem Umtausch in Gold, was wiederum die Krise verschärfte.

2. Gleichzeitig reichte das Goldangebot für die Anforderungen des IWF nicht aus. Dieses Problem hätte man nur lösen können, indem die Nationalstaaten ihre Dollarbestände erhöhten, was das Zahlungsbilanzdefizit der USA weiter vergrößert hätte.

Mit der Aufhebung der Golddeckung des Dollars und der Einführung einer Reihe neuer wirtschaftlicher Maßnahmen unter der Nixon-Regierung wollten die USA diese beiden sich überschneidende Prozesse aufhalten. Das hatte gravierende Auswirkungen auf den Handel und die Wirtschaft in vielen Ländern der Welt.

Zum Schluss seines Briefes warnte Banda vor der Auffassung, die Entwicklung in den USA könne nur durch eine Reihe von „Sprüngen“ verlaufen. Er betonte, dass im Zentrum der Ausrichtung auf die Arbeiterklasse der schwierige und bisweilen langwierige Kampf gegen den Opportunismus steht.

Die Vorstellung, dass die Entwicklung in den USA nur in „Sprüngen“ verlaufe, ist falsch und gefährlich. Es wird nicht nur „Sprünge“ geben, sondern auch eine Menge harter, unspektakulärer Auseinandersetzungen mit den Stalinisten und Revisionisten, in denen es auf große theoretische Festigkeit und taktisches Geschick ankommen wird.[30]

Nur ein Jahr nach dem Brief an Wohlforth und dem Erscheinen von The Dollar Crisis kam es in Großbritannien mit dem Bergarbeiterstreik 1974 zu der Explosion im Klassenkampf, die die SLL vorhergesagt hatte. Er war der Höhepunkt einer Reihe von zunehmend militanten Kämpfen der Arbeiter in den frühen 1970er Jahren, die sich gegen die steigende Inflation und den Versuch der konservativen Tory-Regierung von Premierminister Edward Heath richteten, die Löhne und Arbeitsbedingungen zu verschlechtern.

Der britische Premierminister Edward Heath mit US-Präsident Richard Nixon in Washington, 1. Februar 1973 [Photo: White House Photo Office Collection (Nixon Administration)]

Der Streik gegen den Versuch der Heath-Regierung, einen Lohnstopp durchzusetzen, begann am 9. Februar 1974. Massenstreikposten wurden aufgestellt, es kam zu Zusammenstößen mit der Polizei, und der Stopp der Kohleförderung führte zu Stromausfällen. Heath setzte daraufhin vorgezogene Neuwahlen an, in der Hoffnung, Unterstützung für die gewaltsame Niederschlagung des Streiks zu erhalten.

Stattdessen wuchs die Unterstützung für den Streik, der weiterging bis zu den Wahlen, die eine Minderheitsregierung der Labour Party ins Amt brachte. Die Situation war so angespannt, dass Teile der herrschenden Klasse nach Heaths Niederlage den Ausnahmezustand ausrufen und die Regierung stürzen wollten.

Die SLL hatte diese revolutionäre Periode vorausgesehen. Doch ihre Führer hatten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, sich von den „unspektakulären Auseinandersetzungen“ mit dem Revisionismus zurückzuziehen. Das kam im November 1973 in der Gründung der Workers Revolutionary Party (WRP) zum Ausdruck. Sie erfolgte ohne vorherige Diskussion im Internationalen Komitee und ohne eine gründliche Aufarbeitung der Lehren aus dem Kampf gegen den Pablismus.

Das Programm der WRP passte sich der wachsenden Stimmung gegen die Tories an und konzentrierte sich fast ausschließlich darauf, die Heath-Regierung zu Fall und die Labour Party an die Regierung zu bringen. Als dies nur vier Monate nach Gründung der WRP tatsächlich eintrat, stellte es die Führung der WRP vor große Probleme.

Allerdings muss man betonen, dass die opportunistische Entartung der SLL/WRP nicht reibungslos verlief, denn die Ausbildung der Kader des Internationalen Komitees war geprägt von der Schaffung umfassender politischer Klarheit über die Erscheinungen der Nachkriegszeit.

Die Workers League vertieft die Analyse der SLL

Bei näherer Betrachtung der ökonomischen und politischen Analyse der SLL nach 1971 zeigt sich, dass sie sich fast ausschließlich auf das Währungssystem und die Aufhebung der Golddeckung des US-Dollars konzentrierte, anstatt zu verfolgen, wie die Dollar-Gold-Krise gelöst wurde und wie diese Lösung selbst zu neuen Widersprüche führte.

Doch die Workers League unternahm Anstrengungen, die Analyse der SLL über die Bedeutung des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Abkommens zu vertiefen und zu erweitern. Sie versuchte, den Zusammenhang zwischen den Entwicklungen in der ökonomischen Basis der kapitalistischen Gesellschaft und den Entwicklungen im Klassenkampf in den USA und international herauszuarbeiten.

Die wirtschaftliche und politische Weltkrise und der Todeskampf des US-Imperialismus [Photo: Workers League]

Das kam in der Perspektivresolution der Workers League von 1978 zum Tragen, in der die wichtige Feststellung getroffen wird: „Das Ergebnis des Bretton-Woods-Abkommens von 1944 war nicht der ‚geplante‘, ‚gesteuerte‘ und ‚organisierte‘ Kapitalismus, wie keynesianische Ökonomen und Revisionisten nicht müde werden zu behaupten, sondern eher ein Frankenstein-Finanzmonster, das sich jeder Kontrolle entzieht.“[31]

Dieses Finanzmonster hat seit den 1970er Jahren monströse Ausmaße angenommen und in einer Reihe von Krisen in jüngster Zeit Angst und Schrecken verbreitet.

Mit Blick auf die Entwicklung des Klassenkampfs wies die Perspektivresolution der Workers League auf die Bedeutung des 111-tägigen Bergarbeiterstreiks im Jahr 1978 und den Widerstand der Arbeiter gegen das Taft-Hartley-Gesetz hin. Diese Konfrontation, so die Resolution, „deckte die extreme Schwäche der herrschenden Klasse auf“.[32] US-Präsident Carter reagierte, indem er Paul Volcker, unter der Regierung Reagan eine zentrale Figur im Klassenkampf, zum Vorsitzenden der US-Notenbank ernannte.

Die Resolution wies auf den Zusammenhang zwischen der Dollarkrise und dem Rückgang der Profitrate hin, der das Ende des Nachkriegsbooms anzeigte.

Die Dollarkrise hat den Fall der Profitrate in den wichtigsten Industriezweigen erheblich beschleunigt, was wiederum die Fähigkeit des US-Imperialismus vermindert, die enormen Ansprüche zu befriedigen, die in Form riesiger Kreditmengen auf eine relativ abnehmende Menge an Mehrwert in der Industrie erhoben werden.[33]

Die Entstehung der „großen Dollardruckmaschine“, so die Formulierung der Resolution, ließ die Inflation auf rund 12 Prozent steigen und heizte die Entwicklung des Klassenkampfes an. In den herrschenden Kreisen schrillten die Alarmglocken. Ein Artikel der Business Week, aus dem die Resolution zitiert, macht das deutlich:

Die USA sind noch weit von einem offenen Klassenkrieg entfernt, aber viele Menschen sorgen sich, was passiert, wenn die Inflation auf einem auch nur annähernd so hohen Niveau verharrt wie in jüngster Zeit … Die wirtschaftlichen Aussichten sind jetzt düster, die Inflation ist nicht mehr rückläufig, und dieses Land könnte auf das größte wirtschaftliche und soziale Chaos seit dem Bürgerkrieg zusteuern.[34]

Der US-Kapitalismus sah sich damit konfrontiert, dass seine grundlegenden Probleme, vor allem der Rückgang der Profitrate, nicht unter den industriellen Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit gelöst werden konnten. Er musste die ökonomischen und Klassenbeziehungen völlig neu ordnen. Darin bestand die Bedeutung der unter Reagan eingeleiteten Maßnahmen.

Die Maßnahmen Volckers, die die Zinssätze auf bis zu 20 Prozent ansteigen ließen, führten zur tiefsten Rezession seit der Großen Depression und dienten als Rammbock gegen die Arbeiterklasse. Große Bereiche der US-Industrie, die in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten drei Vierteln des 20. Jahrhunderts entstanden waren und im Nachkriegsboom expandiert hatten, mussten schließen. Diese einschneidenden Veränderungen hätten ohne die Komplizenschaft der Gewerkschaftsbürokratie nicht durchgesetzt werden können.

Die Umstrukturierung war verbunden mit der Entwicklung computergestützter Produktionsmethoden und der Globalisierung der Produktion, um von billigen Arbeitskräften zu profitieren.

Die Analyse der Workers League vertiefte, was die SLL aufgezeigt hatte: Das Wertgesetz war nicht außer Kraft gesetzt. Es setzt sich auch weiterhin durch, in allen Stürmen, die das Finanzsystem bis heute wieder und wieder erschüttern.

Fazit

Heute leben wir in einer Periode, in der der Zusammenbruch des Kapitalismus einen Punkt erreicht hat, an dem der Kampf um die Macht erneut aktuell wird. Wie die Neujahrsperspektive 1923 der World Socialist Web Site im Detail aufzeigt, „erreichte der angestaute Druck [im Jahr 2022] der verschiedenen Faktoren der kapitalistischen Weltkrise gewissermaßen eine kritische Masse und verleiht der Krise nun eine Dynamik, die es den Regierungen unmöglich macht, die Entstehung eines sozialen Kataklysmus zu verhindern.“[35]

Die Frage ist nicht, ob sich revolutionäre Kämpfe entwickeln werden, sondern ob eine revolutionäre Führung aufgebaut wird. Dafür müssen wir uns die Lehren aus der Geschichte der Vierten Internationale aneignen, vor allem aus dem entscheidenden Kampf, den das IKVI gegen die wichtigste ideologische Stütze der bürgerlichen Ordnung, den Pablismus, geführt hat.


[1]

Ernest Mandel, The Economics of Neo-Capitalism, The Socialist Register, 1964, S. 61. Aus dem Englischen.

[2]

Ernest Mandel, A Socialist Strategy for Western Europe, 1965, S. 1. Aus dem Englischen.

[3]

Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Arbeiterpresse Verlag, Essen, 2010, S. 99.

[4]

Ebd., S. 100.

[5]

The World Prospect of Socialism, Resolution der Socialist Labour League, London, 1961, S. 84. Aus dem Englischen.

[6]

Ebd., S. 84.

[7]

Ebd., S. 84.

[8]

Ebd., S. 84.

[9]

Ebd., S. 84.

[10]

Ebd., S. 84.

[11]

Ebd., S. 109.

[12]

Ebd., S. 109.

[13]

Ebd., S. 94

[13]

Ebd., S. 94 .

[14]

Ebd., S. 109.

[15]

Ebd., S. 110.

[16]

Ernest Mandel, Workers Under Neo-capitalism. Vortrag auf der Socialist Scholars Conference, 1968. Aus dem Englischen.

[17]

V.I. Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Kapitel X. Der Platz des Imperialismus in der Geschichte.

[18]

David North, Das Erbe, das wir verteidigen: Ein Beitrag zur Geschichte der Vierten Internationale, Mehring Verlag, Essen, 2. Aufl., 2018, S. 410.

[19]

Karl Marx, Grundrisse, Das Kapital als Frucht bringend.

https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/mew_band42.pdf

S. 643.

[20]

Broschüre der Socialist Labour League, The Dollar Crisis, 1. The Revisionists and the Crisis. Aus dem Englischen.

[21]

Ebd., 3. The Growth of the American Balance-of-Payments Crisis.

[22]

Ebd., 8. Not Merely Trade War.

[23]

Ebd., 8. Not Merely Trade War.

[24]

Ebd., 8. Not Merely Trade War.

[25]

David North, Die Frankfurter Schule, die Postmoderne und die Politik der Pseudolinken, Mehring Verlag, Essen, 2016, S. 214.

[26]

Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus, 17. Kapitel: Die Krise der kapitalistischen Produktionsverhältnisse, 2. Aufl. 1973, edition suhrkamp 521, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1972, S. 521.

[27]

Ebd., S. 521-522.

[28]

Mike Banda an Tim Wohlforth, in Trotskyism versus Revisionism, Vol. 7, Labor Publications, Grand River, Detroit, 1984, S. 234. Aus dem Englischen.

[29]

Ebd., S. 234.

[30]

Ebd., S. 236.

[31]

The World Economic-Political Crisis and the Death Agony of U.S. Imperialism, 7. November 1978, S. 1. Aus dem Englischen.

[32]

Ebd., S. 2.

[33]

Ebd., S. 9.

[34]

Ebd., S. 9.

[35]

Joseph Kishore, David North, 2023: Die globale kapitalistische Krise und die wachsende Offensive der internationalen Arbeiterklasse, https://www.wsws.org/de/articles/2023/01/03/pers-j03.html

Loading