Drei Wochen nach Beginn des blutigen Kriegs im Kaukasus zwischen Aserbaidschan und Armenien wächst die Gefahr, dass er einen noch umfassenderen regionalen oder sogar globalen Krieg auslösen könnte.
Die Zahl der Todesopfer steigt rapide an, da beide Länder zivile und militärische Ziele mit Artillerie und Raketen bombardieren. Am Sonntag erhöhten die armenischen Behörden der umstrittenen Enklave Bergkarabach die offiziell gemeldete Zahl der militärischen Todesopfer auf 710. Allerdings hat keine Seite genaue Zahlen über ihre militärischen und zivilen Verluste veröffentlicht und lediglich behauptet, sie hätten Tausende von Soldaten und Zivilisten der Gegenseite getötet.
Die Kämpfe gingen weiter, obwohl letzte Woche zuerst Russland einen Waffenstillstand ausgehandelt hatte und danach ein neuer Waffenstillstand, der am Sonntag um Mitternacht in Kraft treten sollte, von der „Minsker Gruppe“ unter Führung der USA, Russlands und Frankreichs vereinbart worden war. Dieser letzte Waffenstillstand wurde als „humanitärer“ Waffenstillstand dargestellt, der den Austausch von Leichen und Kriegsgefangenen erlauben sollte.
Bevor der Waffenstillstand ausgerufen wurde, forderte der russische Außenminister Sergei Lawrow seine armenischen und aserbaidschanischen Amtskollegen auf, sich an den vorherigen Waffenstillstand zu halten. Auch der Elysée-Palast in Frankreich, einem Land mit einer großen armenischen Minderheit, rief beide Seiten auf, sich „strikt“ an den Waffenstillstand zu halten und erklärte, man werde die Ereignisse aufmerksam verfolgen.
Vertreter der US-Regierung, die bisher ein ohrenbetäubendes Schweigen über den Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan gewahrt hatten, äußerten letzte Woche ebenfalls ihre Unterstützung für einen Waffenstillstand. US-Außenminister Mike Pompeo erklärte am Donnerstag gegenüber WBS Radio in Atlanta: „Wir hoffen, dass die Armenier sich gegen die Aktionen der Aserbaidschaner wehren können.“
Pompeo erklärte, er verlange von beiden Seiten die Einhaltung des Waffenstillstands und machte die Türkei für die Eskalation verantwortlich: „Die Türken haben sich eingemischt, Aserbaidschan Ressourcen zur Verfügung gestellt und damit in diesem historischen Kampf um diese Region Bergkarabach die Schlagkraft und das Risiko erhöht.“ Pompeo behauptete, Washington wolle nicht, dass „dritte Staaten ihre Stärke in eine Situation einbringen, die schon jetzt ein Pulverfass ist“.
Auch der Präsidentschaftskandidat der US-Demokraten, Joe Biden, kritisierte Ankaras Unterstützung für die turkstämmigen Aserbaidschaner: „Die Waffenlieferungen der Türkei an Aserbaidschan und die kriegerische Rhetorik, die eine militärische Lösung ermutigt, sind verantwortungslos.“
Am Sonntag warfen sich armenische und aserbaidschanische Regierungsvertreter jedoch gegenseitig vor, gegen den Waffenstillstand zu verstoßen. Nachdem die Sprecherin des armenischen Verteidigungsministeriums, Schuschan Stepanjan, aserbaidschanische Truppen für Artillerie- und Raketenangriffe verantwortlich gemacht hatte, warf das aserbaidschanische Verteidigungsministerium dem armenischen Militär vor, am frühen Morgen Artillerie und Granatwerfer eingesetzt zu haben. Am Samstag hatten armenische Streitkräfte Raketen auf Ganja, die zweitgrößte Stadt Aserbaidschans, abgeschossen und dabei 13 Zivilisten (darunter zwei Kinder) getötet und Dutzende verwundet.
Es gibt Anzeichen dafür, dass die aserbaidschanischen Truppen momentan die Oberhand haben. Der US-Militäranalyst Rob Lee erklärte gegenüber Al Jazeera, türkische Drohnen vom Typ Bayraktar TB2, die in großer Höhe fliegen können, hätten die armenischen Streitkräfte „dramatisch“ in Mitleidenschaft gezogen: „Ursprünglich haben die TB2-Drohnen Luftabwehrsysteme angegriffen. Die zerstörten Systeme, die wir gesehen haben, stammen aus den 1980ern. Ich glaube, die Radargeräte haben Probleme, diese kleinen Drohnen zu erfassen. Dann begannen die TB2-Drohnen, Panzer und Artillerie anzugreifen. Nachdem sie alles ausgeschaltet haben, was Priorität hatte, greifen sie mittlerweile Gruppen von Soldaten an.“
Aserbaidschan kauft Drohnen von der Türkei, die diese in großem Umfang in den Bürgerkriegen eingesetzt hat, die ausgelöst wurden durch die seit zehn Jahren andauernden imperialistischen Nato-Interventionen in Libyen und Syrien. Fuad Shahbaz, ein Vertreter der Denkfabrik Strategic Communications in Baku, erklärte gegenüber Al Jazeera: „Wir haben gesehen, dass Bayraktar-Drohnen von der türkischen Luftwaffe aktiv gegen die Truppen des syrischen Präsidenten Baschar und die Armee von General Chalifa Haftar in Libyen eingesetzt wurden.“
Al Jazeera erklärte, Aserbaidschan sei bei einer groß angelegten Invasion mit Bodentruppen weiterhin mit „gut befestigten [armenischen] Verteidigungsstellungen in großer Höhe in bergigem Gebiet“ konfrontiert. Lee fügte jedoch hinzu: „Die TB2-Drohnen sind weiterhin in der Luft und suchen nach passenden Zielen. Letzten Endes haben die Armenier keinen guten Plan, um sie zu zerstören. Sie müssen etwas tun, andernfalls wird Aserbaidschan sie weiterhin treffen.“
Der blutige Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Enklave Bergkarabach begann im Vorfeld der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie im Jahr 1991. Keine der darauffolgenden Verhandlungen war in der Lage den von 1988 bis 1994 andauernden Konflikt zu lösen. Bis zum Ende des Kriegs 1994 wurden mehr als 30.000 Menschen getötet und eine weitere Million zu Vertriebenen. Armenische Truppen besetzten Bergkarabach und mehrere aserbaidschanische Gebiete in der Umgebung, um Bergkarabach mit Armenien zu verbinden. Die Folge war ein dauerhafter und auswegloser Konflikt zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken.
Dieser Konflikt zeigt, dass das Nationalstaatensystem nicht überlebensfähig und reaktionär ist. Heute ist dieser Konflikt eng verzahnt mit den Konflikten, die die jahrzehntelangen imperialistischen Kriege Washingtons im Nahen Osten und Zentralasien seit der Auflösung der Sowjetunion ausgelöst haben.
Der Hintergrund, vor dem er sich abspielt, sind speziell die erneuten Kriegsdrohungen der USA gegen den Iran und die eskalierenden Stellvertreterkriege zwischen der Türkei und Russland. In Syrien haben Russland und der Iran das Regime von Präsident Baschar al-Assad gegen die vom Nato-Mitglied Türkei bewaffneten islamistischen Milizen unterstützt. Gleichzeitig haben Russland und die Türkei in Libyen unterschiedliche Fraktionen unterstützt.
Während der Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan sich hinzieht, wächst auch die Gefahr, dass er sich zu einem direkten Konflikt zwischen den Großmächten entwickelt. Während Ankara von Aserbaidschan offen die Ausweisung von Armeniern aus Bergkarabach forderte, hat Moskau trotz seines Bündnisses mit Armenien und seiner dort stationierten Truppen noch nicht interveniert.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Moskau ruft zwar weiterhin zu Frieden und Deeskalation auf, allerdings mehren sich die Anzeichen, dass es eine direkte Intervention in Betracht zieht. Am 16. Oktober hielt Russland Militärübungen im Kaspischen Meer ab, das an Aserbaidschan und den Iran angrenzt. An diesen Übungen waren vier Kriegsschiffe mit Marschflugkörpern, zwei Geleitschiffe, Kampfflugzeuge und Soldaten beteiligt. Das russische Verteidigungsministerium erklärte, die Übung habe „die wirtschaftliche Aktivität der Anrainerstaaten des Kaspischen Meeres nicht behindert“.
Zweifellos sind Moskau und Teheran besorgt über Berichte, laut denen al-Qaida-nahe Kämpfer nach Aserbaidschan und damit an die Grenzen zu Russland und dem Iran gebracht werden. Diese Kämpfer könnten eingesetzt werden, um unter der türkischstämmigen Bevölkerung des Iran separatistische Stimmungen zu schüren oder Bürgerkriege in den mehrheitlich muslimischen Regionen Russlands – wie Tschetschenien oder Dagestan – wiederzubeleben, die nach der Auflösung der Sowjetunion entstanden sind.
Die iranische Nachrichtenseite Mashregh News, die den iranischen Revolutionsgarden nahesteht, warnte davor, dass türkische private Sicherheitsfirmen und syrische Islamisten-Milizen Kämpfer nach Aserbaidschan schicken. Sie schrieb, wenn Bergkarabach „von den Streitkräften des [aserbaidschanischen Präsidenten Ilham] Alijew eingenommen werden, wird die nationale Sicherheit und die territoriale Integrität des Iran ernsthaft gefährdet sein“.
Während Russland seine Übungen im Kaspischen Meer begann, veröffentlichte die russische Zeitung Kommersant detaillierte Berichte über die Beteiligung der Türkei. So seien 600 türkische Soldaten nach den türkisch-aserbaidschanischen Militärübungen im Juli und August in Aserbaidschan geblieben, darunter auch Drohnenpiloten. Kommersant identifizierte, scheinbar auf der Grundlage von Daten der georgischen Behörden über türkische Flüge durch ihren Luftraum nach Aserbaidschan, die Typen und Nummern der Flugzeuge von mutmaßlichen türkischen Munitions- und Truppenlieferungen nach Aserbaidschan am 4., 18. und 30. September und am 1., 3. und 9. Oktober.
Die Zeitung behauptete außerdem, der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar und der Generalstabschef der Armee, Ümit Dündar, seien vom 28. bis zum 30. September nach Aserbaidschan gereist und hätten „den Oberbefehl über die operative Führung an der Karabach-Front“.
Weiter hieß es: „Türkische Regierungsvertreter rekrutieren unter den Ankara-treuen islamistischen Milizen, die in Syrien und Libyen kämpfen, Söldner für die Kämpfe in Karabach.“ Alleine in der ersten Oktober-Woche sollen 1.300 Kämpfer von syrischen Milizen und 150 Kämpfer von libyschen Milizen in den Krieg um Bergkarabach gezogen sein. Die Zeitung behauptete, islamistische Milizen würden in der syrischen Provinz Afrin Kämpfer rekrutieren, sie in die türkische Stadt Şanlıurfa und von dort aus per Flugzeug nach Aserbaidschan bringen.
Die Gefahr einer katastrophalen Eskalation in der ohnehin schon durch jahrzehntelange Kriege zerrissenen Region ist akut. Zudem hat keines der Regimes in der Region – weder die islamistischen Regimes in der Türkei und dem Iran noch die postsowjetische Kleptokratie im Kreml – den Arbeitern irgendetwas anzubieten. Sie kämpfen darum, ihre Interessen durchzusetzen und positionieren sich für ein Abkommen mit den imperialistischen Mächten, die die Region seit Jahrzehnten ausplündern. Der Ausweg aus dieser Lage ist die Vereinigung der Arbeiter der Region und der Welt über alle ethnischen Grenzen hinweg in einem sozialistischen Kampf gegen Krieg und Kapitalismus.